Diese Woche trafen sich die Regierungschefs der NATO-Mitgliedsstaaten in Den Haag. Im Zentrum steht ein Vorschlag des neuen NATO-Generalsekretärs Mark Rutte: Die Verteidigungsausgaben sollen auf 5% des Bruttoinlandsprodukts erhöht werden. Bemerkenswert dabei ist, dass auch Investitionen in «militärisch relevante Infrastruktur» angerechnet werden sollen. Diese Definition ist so weit gefasst, dass sie faktisch die Tür für eine tiefere Einmischung des Militärbündnisses in zivilstaatliche Politikbereiche öffnet. Das berichtete Norbert Häring diese Woche auf seinem Blog.
Die Enthüllung aus den Niederlanden zeigt: Schon längst geht es der NATO nicht mehr nur um klassische Landesverteidigung. Über sogenannte Resilienzziele – eingeführt auf dem Gipfel in Vilnius 2023 – beeinflusst das Bündnis heute auch die Gesundheits-, Klima-, Energie- und Infrastrukturpolitik seiner Mitgliedsstaaten. Und das unter Ausschluss der Parlamente.
Ein vertrauliches NATO-Dokument, dessen Existenz durch eine Informationsfreiheitsanfrage in den Niederlanden bestätigt wurde, enthält detaillierte Vorgaben zur Umsetzung dieser Ziele. Die NATO selbst gibt an, dieses Dokument sei geheim. Die niederländische Regierung hat inzwischen eingeräumt, dass diese Leitlinien existieren und von mehreren Ministerien aktiv umgesetzt werden – ohne dass das Parlament informiert oder einbezogen wurde.
Was genau unter Resilienz zu verstehen ist, zeigt ein Blick in NATO-Veröffentlichungen: Gemeint ist die Fähigkeit von Gesellschaften, auf Schocks wie Naturkatastrophen, Pandemien oder geopolitische Krisen vorbereitet zu sein – mit starker militärischer Einbindung. In der Praxis bedeutet das: Zivile Infrastrukturen sollen so gestaltet werden, dass sie militärischen Anforderungen genügen.
In Deutschland zeigt sich dies besonders deutlich. Die Bundesregierung veröffentlichte 2022 eine eigene «Resilienzstrategie», die stark an NATO-Dokumente angelehnt ist. Die Strategie bezieht sich auf das «Strategische Konzept der NATO» von 2022 und enthält zahlreiche Hinweise auf die militärische Nutzung ziviler Systeme – von Transport über Energie bis hin zur Medienkontrolle.
Besonders kritisch sehen Beobachter den Begriff der «gesellschaftlichen Resilienz». Was auf den ersten Blick nach Bürgernähe und Solidarität klingt, bedeutet im NATO-Jargon die Herstellung gesellschaftlicher Akzeptanz für militärisches Handeln – auch bei umstrittenen Themen wie Pandemiebekämpfung, Klimapolitik oder Migration. Kritische Stimmen und Debatten könnten unter Berufung auf Resilienz unterdrückt werden – etwa durch «strategische Kommunikation» oder Bekämpfung von sogenannter Desinformation.
Beispiele gibt es genug: Während der Corona-Krise sammelten Militärs in den Niederlanden Daten über regierungskritische Medien, in Deutschland leitete ein Bundeswehrgeneral den Krisenstab. In Italien inszenierte das Militär den nächtlichen Abtransport von Särgen aus Bergamo – Bilder, die europaweit die öffentliche Meinung beeinflussten.
Auf dem Gipfel in Den Haag soll nun das 5%-Ziel beschlossen werden – bestehend aus 3,5% klassischen Rüstungsausgaben und 1,5% «verteidigungsrelevanten» Ausgaben. Damit würde ein großer Teil ziviler Investitionen militärisch etikettiert – mit weitreichenden Folgen. Die NATO könnte sich über dieses Ziel Einfluss auf fast jeden Politikbereich verschaffen: Energie, Transport, Digitalisierung, Medien, Gesundheit und mehr.
Denn: Wenn Ausgaben als verteidigungsrelevant gelten, erhalten Militärs automatisch ein Mitspracherecht. Und wie das Beispiel Deutschland zeigt, existieren bereits Planungsgruppen der NATO für Energie, Landwirtschaft, Gesundheit und Kommunikation, die Regierungen mit Empfehlungen versorgen – und damit Einfluss nehmen.
Kritiker wie der niederländische Abgeordnete Pepijn van Houwelingen sprechen von einem «schwarzen Loch in unserer Demokratie». Parlamente seien faktisch entmachtet, wenn Regierungen sich an geheime Ziele halten müssten, deren Inhalte und Prioritäten außerhalb jeder öffentlichen Kontrolle festgelegt werden.
Auch in Deutschland mehren sich Zweifel, wie weit der Einfluss der NATO reicht. Der massive Bruch mit dem Versprechen der Schuldenbremse nach der letzten Bundestagswahl – zugunsten von Sondervermögen für Aufrüstung und Infrastruktur – wird in diesem Zusammenhang neu diskutiert.
Die offizielle Argumentation für die Geheimhaltung ist die Bedrohung durch Russland, China und andere geopolitische Akteure. Doch wenn ein Militärbündnis Vorgaben für zivile Politikbereiche macht, ohne demokratische Kontrolle, stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Verfassungstreue solcher Strukturen. Ist die Verteidigungsfähigkeit wirklich nur durch geheim gehaltene Zielvorgaben zu gewährleisten?
Der NATO-Gipfel in Den Haag könnte zum Wendepunkt werden: Entweder gelingt es, parlamentarische Kontrolle über militärisch-zivile Politikgestaltung wiederherzustellen – oder das Bündnis weitet seinen Einflussbereich unter dem Deckmantel der Resilienz weiter aus. Die Grenzen zwischen Verteidigung und Zivilpolitik verschwimmen – mit ungewissen Folgen für Demokratie, Transparenz und Freiheit in Europa.
Parlamentarier sollten ihre Kontrollrechte konsequent nutzen und vollständige Transparenz über die geheimen NATO-Ziele einfordern. Bürger können durch Anfragen über Plattformen wie «Frag den Staat» Druck aufbauen. Denn nur informierte Öffentlichkeit schützt vor der schleichenden Entmachtung der Demokratie durch militärische Schattenstrukturen.