Der 1994 vom deutschen Archäologen Klaus Schmidt entdeckte Tempel in Göbekli Tepe in der Südtürkei stellt die Geschichtsschreibung über die Zivilisation in Frage. Er stammt nämlich aus der Zeit um 10.000 v. Chr., also Tausende von Jahren vor der Erfindung der Schrift und dem offiziellen Aufkommen der ersten Hochkultur in Mesopotamien. «Orthodoxen» Historikern und Anthropologen zufolge waren die Menschen vor 12.000 Jahren Jäger und Sammler. In Göbekli Tepe errichteten sie jedoch massive Steinkreise mit bis zu 20 Tonnen schweren Säulen, die mit komplizierten Schnitzereien verziert sind.
Nun entdeckten Forscher in Göbekli Tepe möglicherweise den ältesten Sonnenkalender der Welt, wie Study Finds berichtet. Dieses uralte, in Steinsäulen eingravierte Zeitmesssystem könnte aber mehr sein als nur eine Möglichkeit, die Jahreszeiten zu verfolgen. Es könnte laut den Wissenschaftlern auch als Denkmal für einen katastrophalen Kometeneinschlag dienen, der den Lauf der Menschheitsgeschichte veränderte.
Die Hauptausgrabungsstätte von Göbekli Tepe; Bild: Teomancimit, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Der Zweck der Stätte hat Archäologen lange Zeit vor Rätsel gestellt, aber die neue Analyse dieser mysteriösen Symbole, die in der Zeitschrift Time and Mind veröffentlicht wurde, deutet auf einen unerwarteten Zweck hin: einen hochentwickelten Kalender, der sowohl Mond- als auch Sonnenzyklen verfolgte. Dr. Martin Sweatman von der School of Engineering der Universität Edinburgh, der die Forschung leitete, erklärte in einer Pressemitteilung:
«Es scheint, dass die Bewohner von Göbekli Tepe scharfe Beobachter des Himmels waren, was zu erwarten ist, wenn man bedenkt, dass ihre Welt durch einen Kometeneinschlag verwüstet worden war.»
Der Schlüssel liegt den Forschern zufolge in den V-förmigen Symbolen, die in die Säulen eingeritzt sind. Eine Säule, bekannt als Säule 43, scheint besonders bedeutsam zu sein. Sweatman interpretiert jedes «V» als einen einzelnen Tag, so dass sein Team allein an dieser Säule ein volles Sonnenjahr mit 365 Tagen abzählen kann. Dieser Kalender besteht aus zwölf Mondmonaten plus den zusätzlichen elf Tagen, die zur Anpassung an das Sonnenjahr benötigt werden – ein System, das als lunisolarer Kalender bekannt ist. Dieses Konzept der Interkalation, das heißt der Hinzufügung von Tagen, um den Kalender mit den Jahreszeiten in Einklang zu bringen, wurde früher als ein sehr viel späterer historischer Ansatz betrachtet.
Was diese Entdeckung wirklich bemerkenswert macht, ist ihr Alter. Wenn sich diese Entdeckung bestätigt, ist dieser Kalender anderen bekannten lunisolaren Kalendern um Tausende von Jahren voraus und wirft unser Verständnis der antiken Zeitmessung und astronomischen Kenntnisse weit zurück.
Die Sommersonnenwende, der längste Tag des Jahres, scheint für die Menschen in Göbekli Tepe eine besondere Bedeutung gehabt zu haben. Sie markierten diesen wichtigen Tag mit einem einzigartigen Symbol: einem «V» um den Hals eines vogelähnlichen Wesens, das vermutlich das Sternbild darstellen sollte, das zu dieser Zeit während der Sommersonnenwende sichtbar war. Study Finds erläutert:
«Aufgrund seiner Lage und seines Alters befindet sich Göbekli Tepe an einem entscheidenden Punkt in der Geschichte der Menschheit - genau am Übergang zwischen der Altsteinzeit und der Jungsteinzeit. Dies war eine Zeit gewaltiger Veränderungen, als die Menschen begannen, sich in dauerhaften Gemeinschaften niederzulassen und Landwirtschaft zu betreiben. Das Vorhandensein eines so fortschrittlichen Zeitmessungssystems zu diesem entscheidenden Zeitpunkt lässt vermuten, dass astronomisches Wissen bei diesem Übergang eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte.»
Warum wurde ein so komplizierter Kalender erstellt?
Die Forscher glauben, dass die Erstellung des Kalenders mit einem katastrophalen Ereignis zusammenhängt, das sich vor fast 13.000 Jahren ereignete, um 10.850 v. Chr. Es gibt Hinweise darauf, dass die Erde von einem Schwarm von Kometenfragmenten getroffen wurde, was eine «Mini-Eiszeit» auslöste, die über 1.200 Jahre dauerte.
Dieser kosmische Einschlag hatte weitreichende Folgen. Viele große Tierarten wurden ausgerottet, so dass die Menschen gezwungen waren, sich anzupassen. Einige Wissenschaftler vermuten, dass diese Veränderungen die Entwicklung der Landwirtschaft und komplexerer Gesellschaften begünstigt haben könnten – wichtige Schritte zur Entstehung der Zivilisation, wie wir sie kennen. Sweatman stellt fest:
«Dieses Ereignis könnte der Auslöser für die Zivilisation gewesen sein, indem es eine neue Religion hervorbrachte und die Entwicklung der Landwirtschaft anregte, um mit dem kalten Klima fertig zu werden. Möglicherweise sind ihre Versuche, das Gesehene festzuhalten, die ersten Schritte zur Entwicklung der Schrift Jahrtausende später.»
Die Steinmetzarbeiten in Göbekli Tepe könnten sowohl als praktisches Werkzeug als auch als spiritueller Prüfstein gedient haben. Eine Säule scheint den Tauriden-Meteorstrom darzustellen, von dem man annimmt, dass er die Quelle der Kometenfragmente ist. Er soll 27 Tage gedauert und seinen Ursprung in dem Bereich des Himmels haben, den wir heute mit den Sternbildern Wassermann und Fische in Verbindung bringen.
Diese Himmelsbeobachtungen blieben für die Menschen in Göbekli Tepe über Jahrtausende hinweg wichtig, was darauf hindeutet, dass der Kometeneinschlag zu neuen religiösen oder kulturellen Praktiken geführt haben könnte, die die Entwicklung der Zivilisation in der Region beeinflussten.
Am interessantesten ist vielleicht: Die Entdeckung deutet darauf hin, dass die Menschen der Antike gemäß den Wissenschaftlern ein komplexes astronomisches Phänomen namens Präzession kannten und aufzeichnen konnten. Dabei handelt es sich um die allmähliche Verschiebung der Erdrotationsachse, die sich darauf auswirkt, wie sich die Sternbilder über den Himmel bewegen. Man nimmt an, dass dieses Wissen erstmals von dem griechischen Astronomen Hipparchus 150 v. Chr. dokumentiert wurde, aber der Kalender von Göbekli Tepe verschiebt dieses Datum um mindestens 10.000 Jahre nach hinten. Study Finds schließt:
«Wenn diese Theorie zutrifft, zeichnet sie ein Bild von unseren Vorfahren, das weitaus raffinierter ist als bisher angenommen. Sie legt nahe, dass sie in der Lage waren, kosmische Ereignisse präzise aufzuzeichnen, komplexe Himmelszyklen zu verfolgen und dieses Wissen über Generationen hinweg weiterzugeben – und das alles ohne den Nutzen der Schriftsprache.»
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