Hausärztliche Aufzeichnungen zeigen einen starken Anstieg von Essstörungen und Selbstverletzungen bei Mädchen in Grossbritannien während der «Pandemie», so eine Studie über die die BBC berichtet. Der Anstieg war am stärksten bei Mädchen, die in den wohlhabendsten Gegenden lebten, was auf einen besseren Zugang zu einem Hausarzt zurückzuführen sein könnte.
Kontrollverlust
Junge Frauen haben der BBC erzählt, dass die fehlende Kontrolle über ihr Leben während der Lockdowns ein Auslöser für ihr Verhalten gewesen sei. Die Regierung erklärte, sie investiere in Dienste für Essstörungen, um mehr Kindern und Jugendlichen zu helfen. Annabelle, 19, aus Surrey erinnert sich, wie schwierig sie die Lockdowns empfunden hat:
«Wir hatten sehr wenig Kontrolle über unser Leben – unsere GCSEs wurden abgesagt, wir hatten keinen Einfluss darauf, wie unsere Noten ausfallen würden. Wir konnten niemanden sehen, wir konnten nicht kontrollieren, wohin wir gingen. Das Einzige, was wir kontrollieren konnten, war, was wir assen und wie wir aussahen – also habe ich mich darauf konzentriert.»
Annabelle erhielt Hilfe bei der Überwindung der Bulimie und es geht ihr heute besser, doch ihre Familie bezahlt die Therapie immer noch privat. Sie sagt, die Leute wüssten nicht, wie häufig Essstörungen seien:
«Ich kenne kein einziges Mädchen und keine einzige Freundin, die nicht in irgendeiner Form mit dem Essen zu kämpfen hatte. Es ist unglaublich schwer, aber es gibt nicht genug Hilfe für alle im [öffentlichen, staatlichen Gesundheitssystem] NHS.»
Sophie Rowland, 18, aus South Shields hat auf TikTok über ihre Genesung von der Magersucht berichtet. Vor der «Pandemie» liebte sie das Essen, aber als sie während der Lockdowns im Haus festsass, wurde sie besessen von Sport und dem Anschauen von Workouts im Internet:
«Ich merkte einfach, dass ich nicht aufhören konnte, Kalorien zu zählen. Es hatte mein Leben in Beschlag genommen. Alles drehte sich nur noch um Essen, Essen, Essen – und das Essen wurde zum Feind.»
Erstaunlicher Anstieg
Essstörungen und Selbstverletzungen nehmen bei Kindern und Jugendlichen in Grossbritannien schon seit einigen Jahren zu, doch zwischen 2020 und 2022 ist ein «erheblicher Anstieg» zu verzeichnen, so die Studie.
In diesem Zeitraum wurden bei den 13- bis 16-Jährigen rund 2700 Diagnosen von Essstörungen erwartet, tatsächlich wurden jedoch 3862 festgestellt – 42 Prozent mehr als erwartet. In der gleichen Altersgruppe wurden 6631 Fälle von Selbstverletzung erwartet, doch 9174 wurden von den Hausärzten festgestellt – 38 Prozent mehr als erwartet. Bei den 17- bis 19-Jährigen lagen die Essstörungen ebenfalls über den Erwartungen.
Dr. Shruti Garg von der Universität Manchester, Kinder- und Jugendpsychiaterin und Autorin der Studie, sprach von einem «erschütternden Anstieg», der deutlich mache, dass der frühzeitige Zugang zu Unterstützung dringend verbessert werden müsse.
Eine Essstörung – am häufigsten Anorexie oder Bulimie – ist eine psychische Erkrankung, bei der die Kontrolle über das Essen als Mittel zur Bewältigung von Stress und anderen schwierigen Situationen eingesetzt wird.
Hier eine Tabelle zu Mädchen und jungen Frauen mit Essstörungen während der «Pandemie»:
Quelle: Lancet Child and Adolescent Health
Während der «Pandemie» könnten der verlängerte Zugang zu sozialen Medien, die stärkere Fokussierung auf das Körperbild und der geringere persönliche Kontakt zu einem geringen Selbstwertgefühl und psychischen Problemen geführt haben, insbesondere bei heranwachsenden Mädchen, heisst es in der Studie.
Die sozialen Medien könnten junge Menschen auch mit Inhalten konfrontiert haben, die das Risiko, eine Essstörung zu entwickeln, erhöhen. In den Medien «wurde viel Wert auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und deren Einschränkung gelegt, und auch auf die Botschaft, dass Übergewicht ein Risiko für Covid darstellt», so Dr. Garg.
Die Forschungsergebnisse deuten auch darauf hin, dass junge Menschen in Zeiten der Ungewissheit Selbstverletzungen als Bewältigungsstrategie einsetzen könnten.
Enorme Belastung
Schon vor der Pandemie war ein allmählicher Rückgang der psychischen Gesundheit von Teenagern und jungen Menschen zu verzeichnen – und eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass im Jahr 2022 in jeder Klasse fünf Kinder eine wahrscheinliche psychische Störung aufwiesen.
52 Prozent der gemeldeten Essstörungen traten in den am wenigsten benachteiligten Gebieten und 22 Prozent in den am meisten benachteiligten auf.
Tom Quinn, Direktor für externe Angelegenheiten bei der Wohltätigkeitsorganisation Beat, sagt, dass es immer noch eine «Postleitzahlenlotterie» bei der Versorgung gebe und jeder so schnell wie möglich die Hilfe bekommen müsse, die er brauche. Er fügte hinzu:
«Diese Zahlen sind schockierend, aber leider nicht überraschend. Wir wissen auch, dass der NHS mehr Kinder und Jugendliche behandelt als je zuvor, was zu einer enormen Belastung des medizinischen Personals führt.»
Die Studie ergab keine Anzeichen für eine Zunahme von Essstörungen bei Jungen oder jungen Männern, doch dies entspricht nicht den Erfahrungen der Wohlfahrtsverbände. Laut den Forschern ist das Selbstmordrisiko bei Männern höher als bei Frauen, was darauf hindeutet, dass sich psychische Probleme auf unterschiedliche Weise manifestieren.
Die Wohltätigkeitsorganisation YoungMinds berichtet, dass sie immer häufiger von komplexen Fällen hört, in denen junge Menschen eine Essstörung und andere psychische Probleme entwickeln, aber nicht in der Lage sind, Unterstützung zu finden, wenn sie diese brauchen.
«Starke Verzögerungen können dazu führen, dass sich die Situation verschlimmert und sie in eine Krise geraten, bevor sie Hilfe bekommen», so Olly Parker, Leiter der Abteilung für externe Angelegenheiten.
Ein Sprecher des Ministeriums für Gesundheit und Soziales erklärte, man sei sich der «verheerenden Auswirkungen bewusst, die Essstörungen auf das Leben einer Person und ihrer Familie haben können».
Die Regierung teilte mit, dass sie bis März 2024 zusätzlich 2,3 Milliarden Pfund pro Jahr in die psychischen Gesundheitsdienste des NHS investieren werde, sowie 54 Millionen Pfund pro Jahr, um die Kapazitäten der kommunalen Dienste für Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen zu erhöhen.