Daniel Ellsberg geniesst einen hohen Stellenwert in den Vereinigten Staaten. Dies beweisen die umfangreichen Nachrufe, die am Wochenende sowohl in der New York Times als auch in der Washington Post erschienen sind. Sonst gibt es nur bei Präsidenten Nachrufe von diesen Dimensionen.
Im Vereinigten Königreich war Ellsberg nicht annähernd so bekannt. Ich traf Dan zum ersten Mal am 3. Mai 2006. Damals hielten wir einen gemeinsamen Vortrag in Berkeley. Der grosse Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Zu meiner Überraschung standen junge Studenten draussen Schlange.
Sie bemühten sich, auf den Treppen durch die offenen Türen zuzuhören. Zum Zeitpunkt, als Dan 1971 die «Pentagon Papers» veröffentlicht hatte, dürfte die grosse Mehrheit des Publikums noch nicht einmal geboren gewesen sein.
Aber Dans Starstatus blieb bestehen. Ich erinnere mich an das Datum, weil wir danach ein wunderbares Abendessen in seinem Haus in Kalifornien genossen. Es gab hervorragenden Wein. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht. Er signierte (...) mir ein Exemplar seines Buches «Secrets» (...).
Ich sehe mir jetzt seine Nachricht an. Sie lautet: «An Craig Murray – mit grösster Bewunderung für Ihre gewissenhafte Wahrheitsfindung! Und in Erwartung einer Freundschaft.»
2010 standen wir bei der Wikileaks-Pressekonferenz zu den Irakkrieg-Dokumenten gemeinsam in London auf der Bühne. Wir überreichten Julian Assange den Sam Adams Award. An dieser Veranstaltung wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass es zwischen Wikileaks und dem Guardien zum Bruch gekommen war.
Die Organisationen hatten zuvor eng zusammengearbeitet. Ich selbst hatte in den vier Jahren davor häufig Artikel im Guardian veröffentlicht. Zu Beginn der Pressekonferenz traf ich David Leigh, den stellvertretenden Herausgeber des Guardian. Ich betrachtete ihn damals als Freund. Wir hatten ein paar Mal gemeinsam zu Mittag gegessen.
Ich sagte: «Hallo, David». Er starrte mich bloss an. Ich dachte zunächst, er sei in Gedanken versunken oder hätte mich nicht erkannt. Ich winkte mit den Händen vor seinen Augen, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Er starrte mich an und ging weg.
Von diesem Tag an änderte sich die Berichterstattung des Guardian über Assange. Nun wurde er als Feind behandelt. Der Guardian mutierte zu einem unterwürfigen Kanal, der sich die Propaganda der Sicherheitsdienste zu eigen machte.
Die Zerschlagung der Snowden-Dokumente durch den Guardian kam für mich daher nicht überraschend. (...) David Leigh sprach übrigens nie wieder mit mir. Der Guardian nahm ab jetzt meine Artikel nicht mehr an.
Zum Zeitpunkt dieser Pressekonferenz war die Veröffentlichung von Leighs und Hardings Buch über Assange (...) noch zwei Monate entfernt. Das Buch musste also bereits geschrieben worden sein.
Es hatte einen massiven Streit zwischen ihnen allen über Assanges Biografie gegeben. Die Biografie des Wikileaks-Gründers war auf dem Höhepunkt seines Ruhms Millionen wert.
Julian hatte damals beschlossen, dass er die Guardian-Journalisten nicht mehr dabei haben wollte. Ich denke, dass der Bruch viel mit Geld zu tun hatte.
Das bringt mich schliesslich zu dem Gedanken, der diesem Artikel zugrundeliegt. Dan Ellsberg behielt bis zuletzt seine «Seriosität» in der Gesellschaft als «guter Whistleblower».
Doch die Veröffentlichung der Papiere von Chelsea Manning und anderen, die in vielerlei Hinsicht Ellsbergs Pentagon-Papieren ähneln, wurden verteufelt. Kriminalisiert. Julian wurde zum «bösen Whistleblower» gemacht. Oder besser gesagt zum Verleger von Whistleblowern.
Dan Ellsberg wies diese Charakterisierung entschieden zurück. Sie machte ihn wütend. Er kämpfte aktiv dagegen an, auch bei Julians Auslieferungsanhörung. Doch wie kam es zu dieser Charakterisierung? Der wesentliche Punkt ist meiner Meinung nach der: Die Vereinigten Staaten haben einen Konsens fabriziert, der lautete: Der Vietnamkrieg war ein schrecklicher Fehler.
Er wurde im Interesse des Kolonialismus und zur Unterdrückung einer Nation geführt. Er war letztlich nicht zu gewinnen. (...) Anders war es beim Irak-Krieg. Ein sehr grosser Teil der politischen Klasse – und möglicherweise sogar die Mehrheit der Abgeordneten – akzeptiert nicht, dass der Irakkrieg ein Fehler war.
Und dies, obwohl inzwischen allgemein anerkannt ist, dass der Krieg aufgrund von Lügen über Massenvernichtungswaffen begonnen hatte. Die zahlreichen Gräueltaten der britischen Truppen sowohl im Irak als auch in Afghanistan zu akzeptieren (...), ist ein schwerwiegendes Versäumnis.
Als Jeremy Corbyn letzte Woche in Oslo als Labour-Chef aufstand, um sich für den Irak-Krieg zu entschuldigen, war ihm sehr bewusst, dass er dafür nicht die Unterstützung der grossen Mehrheit seiner eigenen Abgeordneten hatte.
Es ist erstaunlich, wie viele Politiker und wie viele hochrangige «Journalisten» an der Ansicht festhalten, dass der Irakkrieg gerechtfertigt gewesen sei. Dies, weil er das irakische Volk angeblich vor einem schrecklichen Diktator gerettet haben soll.
Fakt ist: Er hat Millionen von Menschen getötet oder verstümmelt. Weitere Millionen wurden vertrieben. Die gesamte Infrastruktur wurde um vierzig Jahre zurückgeworfen. Die Wirtschaft zerstört. (...)
Erstaunlicherweise gibt es innerhalb des Establishments jedoch keinen Konsens darüber, dass die Angriffe auf den Nahen Osten und Zentralasien ein schrecklicher Fehler gewesen waren.
Genau so wie auch Vietnam als schrecklicher Fehler anerkannt wird. Die Doktrin der «liberalen Intervention» ist in der politischen und medialen Klasse nach wie vor fest verankert. Eine «liberale Intervention» ist natürlich nichts anderes als «Imperialismus». (...)
Der Grund, warum Dan Ellsberg den Status eines Volkshelden erlangt hat, der Assange, Snowden oder Manning verwehrt bleibt, ist: Vietnam wird vom Establishment als Fehler voll akzeptiert. Die Invasionen, Interventionen und die Massenüberwachung der Bevölkerung im 21. Jahrhundert werden jedoch als gerechtfertigt angesehen.
Bei der Anhörung von Assange erklärte der Anwalt der US-Regierung offen, dass die New York Times wegen der Veröffentlichung der Pentagon Papers nach dem Spionagegesetz hätten belangt werden können. Die US-Exekutive habe sich aber dagegen entschieden.
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Craig Murray ist ehemaliger Britischer Botschafter in Usbekistan, Journalist, Historiker, Blogger und Menschenrechtsaktivist. Seine Texte finden Sie hier.
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