Der Spitzname «Der kranke Mann» hat Tradition und ist nicht als Kompliment gemeint. Im 19. Jahrhundert sprach man über das ottomanische Reiche als «Der kranke Mann vom Bosporus», während man in den 60er- und 70er-Jahren Grossbritannien als «Der kranke Mann Europas» bezeichnete.
Hans-Werner Sinn benützte dann den Begriff Ende der 90er Jahre erstmals für Deutschland. Der Reformstau nach der Wiedervereinigung führte dann – unter anderem als Folge der Äusserungen Sinns - zur Agenda 2010 und den entsprechenden Reformen.
Nun scheint es wieder so weit zu sein. Der Ökonom verwendete den Begriff zum Monatsbeginn erneut und zwar in einem Interview, das er am Rande des Ambrosetti-Forums in Italien dem US-Sender CNBC gewährte.
Sinn stellte fest, dass die Produktion in der grössten Volkswirtschaft Europas weiter einbricht und das Land mit hohen Energiepreisen kämpft. «Es handelt sich nicht um ein kurzfristiges Phänomen», doppelte der Ökonom nach.
«Es hat mit der Automobilindustrie zu tun, die das Herz der deutschen Industrie ist und von der vieles abhängt», fügte er hinzu.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Autos im vergangenen Jahr mit einem Anteil von 15,6 Prozent das wichtigste deutsche Exportprodukt.
Im Mai 2022 verzeichnete Deutschland zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein Aussenhandelsdefizit in Höhe von 1 Mrd. Euro – und das mit einer Gemeinschaftswährung, die nicht wie der Franken oder früher die deutsche Mark permanent unter Aufwertungsdruck steht.
Seitdem hat Deutschland zwar wieder einen Überschuss erzielt, der nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Juni 2023 18,7 Milliarden Euro erreichte, aber die Exporte bleiben schleppend.
Sinn präzisierte, dass die Zweifel der Investoren an der Realisierbarkeit der deutschen Nachhaltigkeitsziele auch eine Rolle dabei spielen, dass er dem Land den Titel verliehen hat, den er einst selber geprägt hat.
Ein Ziel, das die deutsche Regierung derzeit ins Auge fasst, ist, bis 2045 in Bezug auf die Emission fossiler Brennstoffe neutral zu werden. Gleichzeitig versucht das Land, sich von russischen Gaslieferungen zu lösen. Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine sind die Preise dafür aber auf dem Weltmarkt in die Höhe geschossen.
Nicht nur Sinn findet, dass die Ambitionen Deutschlands, sich von russischem Gas zu lösen, «extrem optimistisch» sind, insbesondere im Hinblick auf die Klimaziele des Landes.
In seiner Rede auf dem Ambrosetti-Forum sagte der Ökonom, dass die Abhängigkeit von erneuerbaren Flatterstrom-Technologien wie Wind- und Solarenergie zu Instabilität in der Versorgung führen könnte, was wiederum Probleme für Unternehmen mit sich bringen würde.
«Man muss [diese Lücken] mit konventionell produzierter Energie füllen. Daher ist es sehr schwierig, diese doppelte Struktur zu haben. (…) Auf der einen Seite grüne, volatile Energie und auf der anderen Seite konventionelle Energie, um Lücken zu füllen. Das bedeutet doppelte Kosten, hohe Energiekosten, und das ist nicht gut für die Industrie. Es ist ein schwieriger Weg», erklärte er.
Laut einer im August veröffentlichten Studie von Berenberg könnte Deutschland zwei bis drei Prozent seiner derzeitigen Industriekapazitäten verlieren, da Unternehmen ihre Tätigkeiten in Länder verlagern, in denen Gas und Strom billiger sind, wie beispielsweise in die USA oder Saudi-Arabien.
Die Unsicherheit über die Energiepreise trug wahrscheinlich zur genannten Eintrübung des Geschäftsklimas bei, so Holger Schmieding, Chefvolkswirt bei Berenberg, in der Notiz. Er fügte aber an, dass «die derzeitige politische Unsicherheit und die Enttäuschung über unentschlossene und unausgegorene Regierungspläne keine strukturellen Faktoren sind, die die deutsche Wirtschaft lange aufhalten dürften».
Allerdings mehren sich die Anzeichen für eine Desillusionierung der Öffentlichkeit in Bezug auf die Energiewende, da die Menschen die Kostenfolgen spüren und das politische Auswirkungen haben könnte. Die Amerikaner haben dafür schon den eingängigen Begriff «greenlash» geprägt. Das ist die Kurzform von «grün» und «backlash», also Rückfall.
«Es gibt eindeutig eine Reaktion, die Bevölkerung bewegt sich jetzt nach rechts», bemerkte Sinn. Damit bezog er sich auf die Popularität der Partei Alternative für Deutschland (AfD).
«Ich versuche hier nicht, irgendetwas zu bewerten, aber (...) es gab Politiken, die aus ideologischen Gründen völlig übertrieben waren. (...) Pragmatismus fehlt ein wenig in der aktuellen Politik», betonte er.
Sinn beschäftigt sich schon länger kritisch mit Klimapolitik. In seinem Buch «Das grüne Paradoxon» von 2008 zeigte er, dass eine verschärfte Umweltpolitik, die zu einer verringerten Nachfrage nach fossilen Brennstoffen führt, global nur dann wirkt, wenn fossile Brennstoffe im Boden bleiben oder wenn Klimagase der Atmosphäre wieder entzogen werden.
Er kritisiert also, dass die heutige Umweltpolitik ausschliesslich die Nachfrageseite beeinflusst und nicht die Angebotsseite. Eine solche Politik könnte aber dazu führen, so Sinn, dass die Preise für fossile Brennstoffe gedrückt werden, die Anbieter sie verstärkt fördern und so weltweit noch mehr fossile Brennstoffe verbraucht werden.
Denn die Weltmarkpreise reagieren immer so, dass sie markträumend sind, das heisst, dass jeder Brennstoff über kurz oder lang nachgefragt und damit verbraucht wird.
Erreicht also Deutschland mit grossen Anstrengungen und unter Opferung grosser Teile seiner Industrie und seines Mittelstandes Netto-Null, dann werden andere Länder die entsprechenden fossilen Brennstoffe verbrauchen, sagt Sinn.
Wer Hans-Werner Sinn zuhört, ist um einige Illusionen ärmer.
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