«Das Schweigen der Schweiz ist auch ein Statement –
und es schreit lauter, als uns lieb sein kann.»
Paul Seger, ehemaliger Schweizer UNO-Botschafter,
zur Passivität gegenüber Israels Vorgehen in Gaza
Liebe Leserinnen, liebe Leser
In der Schweizer Diplomatie rumort es: Über 200 Mitarbeitende des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sowie zahlreiche ehemalige Diplomaten kritisieren den Außenminister, Bundesrat Ignazio Cassis (FDP/Tessin), wegen seines Kurses im Gaza-Konflikt scharf. In internen und öffentlichen Briefen werfen sie ihm vor, die humanitären Grundwerte der Schweiz zu verraten und gegenüber den massiven Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee zu schweigen. Das meldeten heute die Medien.
Besonders deutlich wird der pensionierte Botschafter Thomas Litscher, der sogar ein persönliches Abschiedsgeschenk an Cassis zurückschickte – aus Protest gegen dessen Schweigen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen. Auch andere Ex-Diplomaten, darunter Paul Seger und Jean-Hubert Lebet, äußern öffentlich ihre Sorge: Das «Schweigen» der Schweiz im Nahostkonflikt gefährde ihren Ruf als neutrale Verteidigerin des Völkerrechts.
Die aktiven EDA-Mitarbeitenden verlangen in ihrem Brief eine klare Verurteilung der israelischen Militäraktionen, die sie als völkerrechtswidrig einstufen. Der bisherige Kurs des Bundesrats – vorsichtige Appelle an alle Konfliktparteien und humanitäre Hilfe – wird als unzureichend empfunden.
Der interne Unmut richtet sich aber nicht nur gegen die Gaza-Politik, sondern auch gegen strukturelle Probleme im Departement: verschleppte Personalentscheide, unbesetzte Posten und eine fehlende außenpolitische Vision unter Cassis.
Die EDA-Leitung hingegen verweist auf Hilfsgelder und diplomatische Initiativen. Doch aus Sicht der Kritikerinnen und Kritiker reicht das nicht. Viele erwarten von Cassis ein klares Bekenntnis zu den völkerrechtlichen Grundsätzen – und fragen sich, ob die Schweiz ihrer humanitären Verantwortung noch gerecht wird.
Haben die Diplomaten Recht? Könnte die Schweiz als neutrales Land angesichts der massiven Völkerrechtsverletzungen in Gaza hier eine klarere Sprache sprechen?
Sie könnte nicht nur, sie müsste. Es gibt keine Gesinnungsneutralität. Auch ein neutrales Land darf eine Meinung haben – und diese äußern. Sie muss dabei aber immer beachten, dass es bei der Neutralitätspolitik darum geht, glaubwürdig zu machen, dass man neutral ist und bleibt. Das geschieht am besten, in dem man sich am Völkerrecht orientiert.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten besteht die Tendenz, dieses nur sehr selektiv anzuwenden und anzumahnen. In der Ukraine wird darauf gepocht, und man nimmt sogar eine Eskalation in Kauf, während in anderen Weltgegenden Machtpolitik dominiert. Die Völkerrechtsverletzungen sind krass und die Existenz Israels ist im Moment nicht bedroht. Es gibt keinen Grund zu schweigen. Wir haben hier gezeigt, dass die Schweiz durch eine «Rückbesinnung auf eine klar definierte Neutralität und konsequente völkerrechtliche Ausrichtung – in Wort und Tat – (…) ihre Rolle als glaubwürdige Akteurin für Frieden und Gerechtigkeit» wiedererlangen könnte.
In der Bundesverfassung ist die Neutralität nur en passant definiert. Im Völkerrecht sagt die Haager Landkriegsordnung, was Neutrale zu tun und zu lassen haben. Der Bundesrat, die Schweizer Landesregierung, ist der Meinung, dass das genüge.
Hätten wir einen mutigen Bundesrat, dann wäre das vielleicht so. Aber Schweizer Politiker sind traditionell zwar keine Marionetten, aber auch nicht die Mutigsten.
Wie das Beispiel Gaza zeigt, bräuchte es bei der Handhabung der Neutralität Leitlinien. Auch im Februar 2022 hat der Bundesrat an einem Donnerstag gesagt, die Schweiz würde die Ukrainesanktionen nicht tel quel übernehmen, sondern Umgehungsgeschäfte vermeiden. Am Sonntag verkündete er dann, die Schweiz würde sich nicht nur den UNO-Sanktionen, sondern auch den von der EU verhängten Maßnahmen anschließen. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu ermessen, was in der Zwischenzeit passierte. Der Bundesrat wurde unter Druck gesetzt – ob von den USA, der EU oder den Banken, ich weiß es nicht. Aber er ist eingeknickt. Hat er wenigstens eine Gegenleistung erhalten, zum Beispiel im EU-Dossier? Auch das werden wohl einmal die Historiker herausfinden.
Deshalb bedarf der Bundesrat einiger Leitlinien. Genau das bietet die Neutralitätsinitiative, über die nächstes Jahr abgestimmt wird.
Bleiben Sie uns, geneigte Leserin, geneigter Leser, gewogen!
Daniel Funk
***********************
Herzlichen Dank an alle, die Transition News treu unterstützen und damit unsere Arbeit und Unabhängigkeit erst ermöglichen!
