Transition News: Ihr möchtet, wie in Dänemark üblich, lieber geduzt werden. Was bedeutet Neuanfang für Euch?
Ralf: Das Alte zurück- und loslassen. Und erst mal ganz klein anfangen.
Isa: Neuanfang heißt für mich: Vorher viele Menschen und Autos um mich herum, viele Geschäfte um die Ecke. Und jetzt, wenn ich aufwache und aus dem Fenster sehe: Wasser, Natur und Tiere. Für mich ist der Neuanfang ganz bildlich, wir haben wirklich eine 180-Grad-Wende gemacht. Unser Leben ist heute völlig anders als vorher.
Ralf: Neuanfang heißt, auch mal eine Zäsur machen – die kommt dann aber unwillkürlich, die wird nachgezogen – und zu überlegen, was vom Alten gut war und was auf jeden Fall eliminiert werden muss, damit das sogenannte Neue Platz hat. Das Neue entsteht ja im Kopf.
Kurz noch zurück zu Eurem Werdegang. Ihr habt früh erkannt, dass Ihr im subventionierten Theater nicht arbeiten könnt. Wann war das und aus welchen Gründen nicht?
Isa: Wir waren zwei Jahre am Westfälischen Landestheater engagiert, kamen frisch von der Ausbildung und waren total euphorisch – wollten ganz viel verändern. Doch wir mussten feststellen, dass der Theaterbetrieb wenig Interesse am Publikum hat. Ich war damals Ensemblesprecherin, und einmal haben wir vor tausend Leuten gespielt, aber die letzten zehn Reihen haben laut Rückmeldung so gut wie nichts gehört und gesehen. Als ich das dem Chef erzählt habe, meinte er nur, wenn er da Kritik übe, dann würde man den Kunden verlieren.
Eine andere Geschichte war, dass die Regisseurin zwei Wochen vor der letzten Premiere, wenn sich die Energie des Stückes verdichtet, sagte, die Proben seien beendet. Dabei war noch so viel daran zu machen. Ralf und ich haben dann zusätzlich eigene Proben organisiert.
Wir waren einfach mit ganz vielem nicht zufrieden. Und das führte dazu, dass wir gesagt haben, es war zwar gut, regelmäßig Geld zu verdienen, aber dafür sind wir nicht Schauspieler und Sänger geworden.
Ralf: Wir haben uns am Theater kennengelernt. Da waren wir schon zwei und nicht mehr allein. Wenn du zu zweit bist, fällt der Schritt, aus diesem subventionierten System auszusteigen, leichter. Raus aus der Anstellung, wo du eigentlich nur funktionieren musst. Insofern bist du nur Schauspieler. Wir haben schon relativ früh erkannt, dass alles mit dir gemacht werden kann, weil du ja dafür bezahlt wirst.
Das Motto «Halt schön die Schnauze und spiel!» hatte für uns keinen künstlerischen Wert. Das war für uns auch keine Kunst im erweiterten Sinne – sodass man daran wächst –, sondern man war einfach ausführendes Organ.
Dazu kam, dass wir so viele andere Dinge noch beherrschen, nicht nur die Schauspielerei – Isas Gesangsausbildung, neben Schauspiel und Tanz, und mein Klavierstudium sowie die Komposition. Damit hatten wir mehrere Möglichkeiten, und die wollten wir nutzen. Und das wäre im Theater nie und nimmer möglich gewesen.
Insofern kam es uns sehr entgegen, einfach frühzeitig selbstbestimmend zu agieren und sich mit allen möglichen Dingen zu beschäftigen, auch mit der Organisation: Wie kann ich Kunden gewinnen? Wie kann ich mit meiner Kunst, und das wollten wir, Geld verdienen? Das waren wichtige Gründe. Am letztmöglichen Termin vor der nächsten Produktion haben wir die Kündigung auf den Tisch gelegt.
Ihr seid damals schon einmal ins Ungewisse gestartet. Habt Ihr sofort Euer Hinterhoftheater in Essen-Rüttenscheid eröffnet?
Isa: Nachdem wir 1995 das Westfälische Landestheater verlassen hatten, haben wir erst von Stückverträgen gelebt und Gastspieltouren durchgeführt. Knapp sieben Jahre gehörten wir sprichwörtlich zum fahrenden Volk und haben gelernt, Akquise zu machen und nachhaltig künstlerische Programme anzubieten – sodass Veranstalter uns baten, wieder Bescheid zu geben, wenn ein neues Stück vorliegt.
Ralf: Und wir haben eine spannende Bandbreite von Menschen kennengelernt. Insofern war das, was wir künstlerisch gemacht haben, auch auf unser Publikum übertragbar.
Weil in ein subventioniertes Theater immer nur eine bestimmte Gruppe oder Schicht geht?
Isa: Ja, mehr oder weniger. Im Westfälischen Landestheater haben wir sehr viel gesungen und gespielt. Das war nicht nur reines Schauspiel, weil wir auch für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gespielt haben. Auch unsere künstlerische Bandbreite ist viel größer geworden: von Unterricht geben – Gesang, Klavier und Schauspiel – über Chanson-Programme bis zu Projekten an Schulen. Ralf hat für drei Stücke am Sommertheater in Bochum komponiert.
Ralf: Wir haben auch Auftragsarbeiten angenommen, sowohl im persönlichen als auch im geschäftlichen Rahmen.
Isa: Wir haben Dankeschön-Abende, Geburtstagsfeiern und Betriebsfeiern mitgestaltet. Und das Schönste war eigentlich, dass wir ab 2001 mit unserer eigenen festen Spielstätte ebenso die Möglichkeit hatten, Leute zu empfangen. Das Publikum kam zu uns, in unsere Räumlichkeiten.
Ökonomisch gesehen, war 2019 unser bestes Jahr. Nach 18 Jahren Aufbau – und dann kam «Corona». Und alles war auf Null zurückgestellt. Das war heftig.
Ralf: Es hat uns einmal mehr darin bestätigt, die Selbständigkeit zu wagen. Diese Entscheidung war allumfassend – gegen Krisen ist man nach so einer langen Zeit der Selbständigkeit fast immunisiert. Und da wir fast immer ohne Subventionen ausgekommen sind, war die Sache für uns sicherlich keine leichte – aber wir konnten reagieren und waren viel sensibler für die Dinge, die um uns herum passiert sind.
Selbständigkeit hat sehr viel mit selbständigem Denken und Fühlen zu tun. Man ist viel wacher, viel geübter, viel reaktionsschneller – jedoch auch fragiler und sensibler.
Ralf, Du hast gerade von Zäsur und Eliminieren gesprochen. Was hat Euch dazu gebracht, nach Dänemark zu ziehen? Was musstest Du denn eliminieren?
Ralf: Wir mussten erst mal unseren Wohnsitz aufgeben, auch unser Ferienhaus an der Nordsee. Es kam alles anders als geplant. Das passiert wohl, wenn man älter wird: Man plant auch für später, und plötzlich hatte dieses Planen überhaupt keinen Bestand mehr. Da sind wir viel freier geworden. Und dadurch, dass wir so schnell loslassen können, sind wir auch rauskatapultiert worden.
Isa: Ich möchte das anders formulieren, denn ich eliminiere gar nichts. Alles aus unserem früheren Leben, ist auch Teil von dem Leben hier.
Wir sind weiter weg von den Leuten aus unserem früheren Leben. Und das zu merken, tut immer wieder weh. Da ist Ralf komplett anders. Ralf sagt: «Das ist jetzt unser neues Leben, und ich lasse auch alles zurück.» Ich glaube es ihm manchmal nicht ganz, aber ich spüre, dass er damit sehr viel weniger Probleme hat.
Unser Ferienhaus wäre eine Art Altersvorsorge gewesen. Und nun mussten wir das Haus, das wir renoviert hatten, loslassen, um dieses Objekt hier kaufen zu können. Es gab keine andere Option: Als das Wort «Nazi» auf unsere Theatertür geschmiert wurde, war uns klar, dass wir in Deutschland nicht mehr leben können.
Das Künstlerduo Isa K. Sandig und Ralf Gottesleben an ihrer neuen Wirkstätte in Süddänemark; Foto: Hannes Henkelmann
Und dann hat uns dieser Ort hier auf der Insel Als wie gerufen. Alles geschah innerhalb eines Monats. Das hieß, wir mussten einen Ort loslassen, um einen neuen aufbauen zu können. Ich bereue es keinen Tag, aber es ist eine große Herausforderung, in vielerlei Hinsicht.
Ralf: Das war im September 2021. Ich stehe nach wie vor zum Wort «Eliminieren». Ich brauche diesen Cut, der spielt sich im Kopf ab. Dadurch ist es emotional nicht so schwer, und ich hänge nicht zu lange nach. Dafür ist meines Erachtens das Leben zu kurz, um sich da einzurichten – für immer und ewig und auf Rente und so. Das sind alles Begriffe, die ohnehin in Zukunft nicht mehr funktionieren werden.
Insofern muss man sich vollkommen umstellen. Wir haben jetzt lange Zeit einen Sparringspartner gehabt, gegen den wir gekämpft haben. Jetzt hat man richtige Gegner. Da muss man sich in irgendeiner Form positionieren.
Isa: Viel zu viel Energie.
Ralf: Nein, das muss nichts heißen. Wir gehen am Widerstand vorbei.
Isa: Da sind wir unterschiedlicher Meinung. Trotzdem kommen wir immer wieder zusammen. Das ist das Schöne.
Ralf: Genau, so sind Isa und ich. Wir sind ein wunderbares Paar. Trotzdem leben wir auch aus den Widersprüchen, aber das ist ja das Besondere.
Wer sind denn, um Deine Worte aufzugreifen, die richtigen Gegner?
Ralf: Die richtigen Gegner sind die Leute, die uns versprochen haben, dass sie sich gewissermaßen um uns kümmern, und wir brav Steuern zahlen, damit sie das tun. Das hat sich von der nationalen auf die internationale Ebene verschoben. Wir sehen, wie alles zusammenhängt. Wir sehen, dass das Menschen sind, auf die man sich nicht mehr verlassen kann. Mehr noch: die bewusst versuchen, uns zu schwächen. Das ist für uns ganz klar ersichtlich.
Und jemand, der mich schwächt – nicht durch einen direkten Schlag, sondern mir so in den Rücken haut, dass ich das nicht mal merke, aber ich mich irgendwie nicht so gut fühle –, das ist mein Gegner. Nur, ich kämpfe nicht gegen ihn, sondern ich ziehe mich einfach raus. Damit ich gar keine Angriffsflächen mehr biete.
Isa: Das sehe ich anders. Das kostet mich viel zu viel Energie. Ich baue an der neuen Welt und konzentriere mich darauf. Das ist anstrengend genug. Da muss ich mich nicht immer abgrenzen.
Ralf: Der Ästhetik-Professor Bazon Brock beispielsweise sagt ganz klar, eine Veranstaltung wie Fußball ist wie Krieg, nur mit anderen Mitteln. Da üben wir, den anderen zu besiegen. Ich will aber nicht sagen, dass ich den anderen besiege. Darin liegt der Unterschied: Ich möchte mich, soweit es möglich ist, in diesem ganzen Konglomerat, in diesem systematischen Geflecht, behaupten.
Behaupten heißt, von der Kunst, die wir machen wollen, die wir auch immer gemacht haben, zu leben. Ich möchte mich nicht drangsalieren lassen, durch irgendwelche Restriktionen. Ich kann hier etwas aufbauen, mich immer noch klar äußern und wir können immer noch klare Fragen stellen.
Der Zeitpunkt ist jetzt da, dass wir hier etwas Neues beginnen. Das fühlt sich für uns total richtig an. Das ist das Ergebnis: Eine negative Sache muss ich versuchen, für mich positiv umzuwerten. Aus der Not eine Tugend machen – das ist das Sprichwörtliche. Ich glaube, das haben wir gemacht. Das ist auf einmal das Neue. Darauf haben wir nicht hingearbeitet – im Unbewussten vielleicht. Wenn wir nachvollziehen, was in den letzten Jahren oder Jahrzehnten mit uns passiert ist, möchte ich sagen, das ist ein weiterer Schritt in unserer Biografie:
Auf einmal rauskatapultiert worden zu sein und dann zu merken: Das ist unsere Kunst, unsere Philosophie.
Wir haben auch unsere Kunst niemals festhalten wollen – wir haben in 30 Jahren Selbständigkeit nur eine einzige CD herausgegeben. Unsere Kunst ist da, wenn sie passiert – je nachdem, wie lange wir das machen. Wir können sofort wieder loslassen. Wir sind nicht konsumierbar, indem man eine CD von uns kauft. Wir sind und bleiben immer analog.
Diese Corona-Sache ist für mich – und ich denke für sehr viele – prägend gewesen. So viel zu Gegner und was der Gegner mir vor allen Dingen bringt: Er kann ja auch mein Freund sein, indem er mich in irgendeiner Form wachhält. Ich muss im richtigen Moment wach sein. Das schafft die Kunst. Auch Aufbauen ist eine Kunst. Wir erschaffen etwas in unserem künstlerischen Rahmen.
Was kann Kunst leisten?
Isa: Kunst im schönsten Sinne sollte nicht unterhalten, sondern anregen, verzaubern, Visionen schaffen, sodass man aus einer Kunststätte rausgeht und sagt: «Wow, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich bin total berührt.» Kunst sollte nicht eins zu eins das abbilden, was wir erleben. Im Theater gibt es vielleicht Momente von Realität, die aber künstlerisch verwandelt sind. Mich langweilt es, wenn ich auf der Bühne Realität abgebildet sehe, das interessiert mich nicht. Kunst sollte anregen, nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinn.
Leistung und Kunst kann ich gar nicht in Zusammenhang bringen. Für mich ist Kunst Öffnung ins Göttliche und das auf der Bühne in Verbindung mit dem Publikum widerzuspiegeln – auch die Schönheit des Publikums widerzuspiegeln. Man bereitet alles vor, dekoriert, wählt ein Programm und spielt im besten Falle vor vollem Haus. Auf der Bühne spielend kommt man mit seinem Publikum in ein Fluidum, im Austausch von Geben, Nehmen und Empfangen.
Bei den letzten Auftritten in unserem Theater konnte ich wieder meinen Mund öffnen und singen. Da war eine ganz große Stille im Publikum, weil man gemerkt hat, jetzt geht es ans Persönliche, ans Eingemachte. Da war diese Resonanz – das erste Mal nach so langer Zeit, dass ich das Erlebte auch endlich wieder künstlerisch ausdrücken konnte.
Kunst bedeutet für mich auch immer, berührt zu werden. Das ist zentral, egal in welcher Form – von «furchtbar» oder «kann ich nichts damit anfangen» über «zauberhaft, wundervoll, berührend» bis zu «Tränen in den Augen».
Welche Bedeutung hat Kunst für die Gesellschaft?
Isa: Kunst bringt Menschen zusammen. Das ist nichts, was man sich nur alleine ansieht, sondern mit anderen analog rezipiert. Also Kunst auch als Begegnung.
Ralf: Auch Kunst hat 2020 eine Zäsur erfahren müssen. Wie kann man während dieser gesamten Ereignisse überhaupt weiter Kunst machen? Was bedeuten für mich Stücke von William Shakespeare, Friedrich Schiller, Molière bis hin zu den modernsten Autoren heute nach dieser ganzen Sache, die stattgefunden hat? Und da komme ich zu dem Schluss: Es ist plötzlich alles anders geworden.
Und wenn man mich dann fragt, was Kunst leisten kann? Nichts, gar nichts. Wir haben im Augenblick nicht die Menschen, die durch etwas erschüttert werden, das sie wirklich zum Nachdenken beziehungsweise zum Stehenbleiben animiert. Und das sollte Kunst machen – erschüttern.
Sie kann es aber nicht, weil die meisten so weitermachen wie bisher. Und ganz besonders die institutionelle Kunst ist für mich tot. Da gibt es nichts mehr. Das ist ein Hohlraum, der vielleicht noch ein bisschen Geld generiert und das Anrecht auf Subvention – aber das wird sich in den nächsten Jahren erledigt haben, weil dafür überhaupt keine Gelder mehr zur Verfügung stehen werden. Man kann all diese Häuser gar nicht mehr unterhalten. Gerade durch die Erschaffung von künstlicher Intelligenz kann jeder seine kleine Kunst nach Hause holen und da einen Shakespeare-Abend machen oder ein Lied generieren und meinen, er sei von heute auf morgen ein großer Star.
Kunst kann nichts mehr leisten, nichts. Deshalb entsteht jetzt ein großes Vakuum. Das muss man nach meinen Begriffen aushalten, damit wieder ein kleines Pflänzchen entstehen kann, damit wirklich – und da kommen wir wieder auf den Begriff neu – damit wieder etwas Neues beginnen kann.
Es wird nichts so bleiben, das merken wir ja. Und deshalb kann das, was wir hier machen, nur eine Art Lebenskunst sein. Ich bin auch ein bisschen Kunstfigur. Ich bin nicht mehr der, der ich war, sondern ich sitze als Figur hier in diesem Tiny House, schaue auf das Meer und auf unseren Hof, der da so ein bisschen als Kunstwerk steht. Es ist ganz schwierig, zu definieren, was eigentlich meine Kunst ist. Gleichermaßen muss ich sagen, ich bin natürlich sehr dankbar dafür, dass das jetzt so ist, weil ich mich neu orientieren muss und wieder etwas ganz anderes in uns hineinkommen kann.
Aber man muss warten. Ich kann nicht sofort weitermachen. Und deshalb – jetzt kommen wir wieder ganz zu unseren Anfängen – deshalb war der sogenannte institutionelle Betrieb nichts für uns, denn der muss laufen, immer weiterlaufen. Da müssen sechs Produktionen oder mehr im Jahr raus – und das Publikum muss kommen. Für richtige Arbeit reicht das Geld nicht. Diese Art von «Kunst», die muss aufhören. Der würde ich alle Gelder entziehen.
Vor fünf Jahren wurde die Pseudopandemie ausgerufen. Was muss passieren, damit Ihr sagt: «Ja, jetzt ist das endlich aufgearbeitet»?
Isa: Ich finde keine Worte, bin von der Frage total berührt, weil ich das Gefühl habe, momentan geht es gar nicht um das Aufarbeiten. Ich komme gerade von meiner Familie – da gibt es immer wieder so viele Verletzungen, und es werden so viele Worte gemacht. Ich weiß gar nicht, ob wir das noch erleben, diese Aufarbeitung, ehrlich gesagt.
Es müsste einen Urknall geben, wo etwas komplett Neues entsteht. Wie kann so etwas aufgearbeitet werden? So viele Arten von Traumatisierung: Menschen mussten alleine sterben, manche haben sich vor Verzweiflung das Leben genommen. Und ganz zu schweigen von den Schäden der jüngeren Generation.
Man kann Verletzungen heilen, sie aber in dem Sinne nicht aufarbeiten. Zu merken, dass ehemals richtig gute Freunde keine Freunde mehr sind, ist wirklich ein Verlust. Und man denkt, was waren das für Beziehungen – diese ganzen Jahre?
Man kann sich auch auf Versprechungen nicht mehr so verlassen wie früher. Es sind Ohrfeigen, die wir immer noch bekommen, so wie jetzt eine Zurückzahlungsforderung der Corona-Hilfen. Und so viele sind wie wir in diesen Zeiten emigriert und ausgewandert. Auch das wird nicht wirklich ernsthaft thematisiert.
Ich weiß nicht, ob wir das mit diesen Verletzungen und Beleidigungen je aufarbeiten können, zudem es auf so großem internationalen Parkett stattgefunden hat. Es ist nicht national, es ist nicht regional oder saisonal, es ist global.
Ralf: Ich will das ein bisschen ausweiten, und einfach mal die provokative Frage stellen: Ist überhaupt jemals seit Menschengedenken irgendetwas aufgearbeitet worden? Hat man die Mechanik im Nachhinein erkannt, wie alles so gekommen ist, dass so etwas Verbrecherisches stattfinden konnte? Dass man der Bevölkerung, der Masse, etwas wegnimmt, zugunsten einiger weniger? Es ist ja immer das Gleiche. Und die falschen Zusammenhänge werden Jahr für Jahr den Schülern im Geschichtsunterricht beigebracht.
Also im Grunde wird auch hier hinsichtlich Aufklärung und Aufarbeitung nichts stattfinden. Es gibt Millionen von Traumatisierten, die wie Zombies durch die Straßen laufen, und die erreicht man ohnehin nicht mehr. Denen ist das mittlerweile egal. Manchmal scheint es mir, dass der Großteil der Menschen nur in der Verdrängung leben kann, man hört doch so oft: «Was kann ich schon machen?» Wenn wir solche Schlagworte hören, müssten wir uns sofort umdrehen und nie mehr mit diesen Menschen reden. Lasst sie stehen. Vergesst das. Da ist nichts mehr.
Man muss für eine Aufarbeitung ja auch bereit und offen sein. Erst mal muss man arbeiten. Dann steckt noch «auf» da drin. Man muss also irgendetwas nach oben holen. Und bis wie tief unten die Verästelungen hier reichen, die man erst mal klarmachen muss. Und es gibt wirklich so gute Leute, gerade auch in unseren Reihen, die so profunde Recherchen anstellen, wo ich einfach sage, toll, also Wahnsinn, da müsste man doch jetzt ran.
Da muss man aber bereit sein, Zeit zu investieren. Sind die Leute bereit, Zeit zu investieren? Nein, weil sie es ja auch nicht können. Die Masse hat ihre Verpflichtungen, ihre Aufgaben. Häuschen und Kredit abbezahlen. Was willst du da machen?
Isa: Ja, ja, ja.
Ralf: Ich will nur sagen – Aufarbeitung, dazu gehören zwei, nicht einer.
Isa: Das ist Arbeit, richtig Arbeit.
Ralf: Genauso, wie die Menschen auch nicht bereit sind, sich von der Kunst erschüttern zu lassen, genauso sind sie nicht bereit, sich durch irgendetwas anderes – wenn jemand sagt, ja, das müssen wir doch aufarbeiten, das ist ein Riesenverbrechen – erschüttern zu lassen.
Der Mensch ist innerlich tot. Er ist nur noch ein Funktionsorgan. Ich sage das übertrieben, aber unübertrieben kannst du nichts sagen.
Isa: Nein, aber ist das nicht übertrieben?
Ralf: Kunst muss übertreiben.
Wir sind die ganze Zeit in Bewegung, weil wir uns schon frühzeitig aus diesem ganzen Schlamassel herausgezogen haben, weil wir es unbewusst geahnt haben.
Nach meinem Begriff ist eine Aufarbeitung nicht möglich, wenn keine oberste Instanz geschaffen wird, die Macht im positiven Sinne hat, um das Ganze auseinanderzupflücken beziehungsweise zusammenzubringen, und nach der man sich ausrichtet.
Isa: Ach Quatsch! Wie kannst du fordern, nachdem was passiert ist, dass es wieder eine Instanz dafür gibt? Das ist völlig unverständlich für mich. Ein Weltgerichtshof? Oh nein!
Ralf: Wie, ach Quatsch?
Isa: Die Menschen müssen selber eigenverantwortlich in kleineren Gruppen oder auch in regionalen Gruppen anfangen aufzuarbeiten. Und das nicht wieder an irgendeine Institution abgeben, bloß nicht Welt-, United Nations oder so.
Kann Kunst Menschen, wenn auch nur für einen kurzen Moment, wirklich erreichen?
Ralf: Vielleicht muss noch ein bisschen Zeit verstreichen, bis Aufarbeitung vielleicht auch durch die Kunst geschehen kann.
Isa: Wir haben «Ein Bericht für eine Akademie» über die Menschwerdung eines Affen von Franz Kafka bei uns aufgeführt. Das ist hoch aktuell und wirft einen Blick auf das Menschsein. Es ist Ralfs Leib- und Magenstück, und die Leute waren tief bewegt und beeindruckt.
Manche sagen, sie können mit Kafka nichts anfangen, und plötzlich kommt Ralf und spielt das – und auch das ist Kunst für mich, und ich glaube, das ist ein Anfang, dass man vor einem nur roten Bild einfach einen Moment länger stehenbleibt als gewöhnlich, und plötzlich kann man damit etwas anfangen. Wenn ich von Kafka nur einen Satz mitnehme, der mich berührt hat. Oder einen kurzen Moment von meiner Stimme berührt zu sein, wenn wir Lieder und Klänge auf der Bühne kreieren.
Wir improvisieren, weil das ganze Leben Improvisation ist und weil das die schönsten Stücke sind, die mit diesen Leuten im Raum und in diesem Moment entstehen. Und das wird nicht aufgenommen, das können wir nicht wiederholen, das ist nur gerade jetzt erlebbar und da.
Ralf: Zu deiner Frage: Auch schon vor 2020 sind die Leute en masse ins Theater gelaufen und haben am Kunstschaffen teilgenommen. Da kamen sie bestimmt immer wieder mit kritischen Themen wie Freiheit und Widerstand in Berührung. Aber die Umsetzung hat nicht funktioniert. Und deshalb muss ich fragen, hat die Kunst denn diese Kraft, die Menschen zu immunisieren?
Was muss da für eine Kunst kommen? Ich weiß es nicht. Deshalb habe ich die Tendenz anzunehmen, dass sich die Leute nicht behelligen lassen wollen. Sie müssten dann ja alles umstellen. Einfach sagen: «Ich will das nicht mehr.» Die meisten haben Angst vor den Konsequenzen. Und damit arbeiten die.
Wie komme ich da raus? Erst mal, dass ich für mich klarsehe, wie ich an mir selber wachsen kann. Denn da ist niemand, der mich erwachsen macht – das bin ich allein. Und erst recht nicht die Bildungsinstitutionen, die machen nur noch kleiner, hegen ein und züchten.
Und deshalb sollten wir das Vakuum nutzen, nichts zu machen, bewusst runterzufahren.
Isa: Dieses Aushalten von Nichts, von der absoluten Leere ist schwierig – an einer Haltestelle einfach nur warten. Die Leute würden sterben, wenn sie jetzt nicht diese ganzen TikTok-Filmchen und ähnliches hätten.
Die Menschen haben eine viel härtere Schicht aufgebaut, sie sind nicht mehr so schnell zu berühren. Und deswegen ist es auch für uns nicht mehr spannend vor Leuten, die alles mitgemacht haben, aufzutreten. Für diese Menschen möchte ich nicht mehr singen. Kunst hat sich überholt. Diese «Hochkultur» auf der einen Seite und das Hinterhoftheater und die ganze Kleinkunst auf der anderen Seite, all diese Begrifflichkeiten müssen sich neu finden.
Ist das Euer Ausblick auf 2025?
Ralf: Wir müssen uns selber denen entziehen – als Konsumenten entziehen. Davon leben die. Wir müssen doch wissen, wo wir ansetzen. Wir müssen beim Geld generieren, bei der Akkumulation dieser Wenigen ansetzen. Keine Konsumenten mehr. Aber wir müssen erst mal bei uns anfangen. Wir kündigen die Versicherung. Wir zahlen keine Steuern mehr. Wir heben unsere letzten Kröten von der Bank ab. Wie schnell das dann alles runterfallen würde. Dazu sind die Leute nicht bereit. Das wird nicht gemacht. Ich sehe keinen anderen Weg. Keinen. Hier sind wir gefordert, genauso wie die. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Es geht wirklich darum, wer weiterhin besteht: Das Volk, so wie es ist, oder die. Aber wir wollen die nicht mehr. Das ist doch klar. Die wollen uns beseitigen. Und wir können nur denen das entziehen, was sie am Leben hält. Und das ist das Geld: Kapital weg. Fertig. Aus. Dazu müssen wir bereit sein. Das ist ein großer Schnitt. Das ist ein existenzieller Schritt. Keiner weiß, wohin das führt. Aber wenn wir das nicht machen, wissen wir zumindest, wohin das führt. Ich habe auch hier keine Hoffnung, dass irgendetwas passiert. So negativ das vielleicht klingen mag, ist es aber nicht.
Lieber mit erhobenem Kopf sagen, ich habe alles versucht.
Es wird auf jeden Fall etwas anderes kommen. Das ist ja auch klar. Aber wie gesagt, meines Erachtens können wir das nur lösen, wenn wir da ansetzen, wo die ihre Vorteile haben. Das müssen wir denen entziehen. Wir bezahlen doch unsere eigenen Henker.
Wie ist Dein Ausblick auf 2025, Isa?
Ralf: Ausblick auf 2025? Ich kann es nicht sagen.
Isa: Da kommt die Katze.
Ralf: Jeder erwartet, dass irgendwas passiert.
Isa: Mein Ausblick auf 2025? Das Licht wird zunehmen. In der Meditation geht es darum, leer zu werden. Wie auch beim Schlafen: sich vom Tag erholen, das Erlebte verarbeiten. Und dieses Bei-sich-sein und dieses Leerwerden, damit man immer wieder berührt werden kann, sich selbst fühlt. Darum geht es.
Jetzt sind wir an einem Punkt, wo wir merken, alte Freundschaften haben erst mal keinen Bestand mehr. Freundschaft ist nicht gebunden an den Zeitfaktor, Freundschaft ist gebunden an die Notwendigkeit, sich gegenseitig zu brauchen und sich auch in Zeiten von Not kennenzulernen.
Ralf: Und 2025 möchte ich in erster Linie auch sehen, wie es weiterläuft. Hier lebt unser Gewächs, das wir selber gestalten können, mit unseren eigenen Kräften und auch mit Freunden, die uns immer wieder helfen und es voranbringen. Menschen, die 2025 hier vorbeikommen und einfach fragen, wie das hier in Dänemark so ist und wie es ist, in einem anderen Land zu leben und Deutschland verlassen zu haben? Immer wieder neue Menschen kennenlernen.
Es werden immer mehr, die vielleicht immer ein bisschen klarer sehen, was hier für ein Spiel gespielt wird. Und das ist schön.
Wir spielen unser Spiel hier. Und ich glaube, wenn man das als Spiel sieht, dann wird es einfacher. Dann kann man eine eigene Strategie entwickeln und nicht die eine mitspielen, die uns da aufoktroyiert wird. Nämlich die, die spielen nach ihren Regeln, aber nicht nach den Spielregeln. Die müssten schon längst aus dem Spiel raus sein.
Und insofern würde ich sagen, ist es unser Spiel – hierher kann jeder kommen. Hier findet Austausch statt. Das ist ein Miteinander. Hier ist Raum, zu kommunizieren und in Fluss zu kommen. Dann ist wieder große Hoffnung da.
Das Gespräch führte Sophia-Maria Antonulas.
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