HINTERGRUND: Herr Professor Zuckermann, der israelische Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser wird nach dem Waffenstillstand seit Mitte März anscheinend ungehindert fortgesetzt. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Moshe Zuckermann: Der zentrale Grund ist fremdbestimmt: Netanjahu braucht den Krieg, damit seine Koalition nicht auseinanderfällt. Die Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, vor allem Letzterer, haben angedroht, dass die Beendigung der Kampfhandlungen für sie Anlass sei, aus der Koalition auszusteigen. Ob sie es wirklich tun würden, ist nicht ausgemacht, aber die Drohung besteht. Und das ist für Netanjahu Grund genug, den Krieg weiterzuführen, denn seine Beendigung könnte die Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission zur Folge haben, die für den Ministerpräsidenten ein schlimmes Resultat zeitigen dürfte, namentlich seine Schuld am Desaster des 7. Oktober zu erweisen. Hinzu kommt, dass der Krieg es ihm auch ermöglicht, den Abschluss seines Prozesses wegen Korruption, Veruntreuung und Betrug noch lange hinauszuzögern. Offiziell gibt er vor, die in Hamas-Gefangenschaft verbliebenen Geiseln durch Militärdruck befreien zu wollen, aber die allermeisten Israelis haben mittlerweile begriffen, dass der Krieg nicht »total« zu gewinnen ist, mithin sinn- und zwecklos geworden ist.
Wie wird das Vorgehen in Israel aufgenommen?
Die israelische Bevölkerung ist dem entsetzlichen Schicksal der Bewohner Gazas gegenüber weitgehend indifferent. Viele rationalisieren ihre Gleichgültigkeit mit der Begründung, dass ja Hamas «angefangen» habe. Andere erklären offen, dass sie nach dem 7. Oktober keinerlei Empathie für die Palästinenser im Gazastreifen aufbringen können, es mithin auch gar nicht wollen. Man hat ja schon in früheren Phasen des Krieges gesehen, dass die Gewaltexzesse der Israel Defense Forces (IDF), die mittlerweile über 50.000 Tote in Gaza, unter ihnen ein Großteil Kinder, Frauen und alte Menschen, gefordert haben, die israelische Bevölkerung (mit wenigen Ausnahmen) mehr oder minder kaltgelassen haben.
Wie stark ist der Druck in der israelischen Gesellschaft auf die Regierung, für die Freilassung der letzten Geiseln der Hamas auch den Feldzug zu beenden? Zuletzt haben sich auch israelische aktive Soldaten und Reservisten dafür ausgesprochen.
Obwohl die meisten Israelis die Befreiung aller Geiseln fordern, auch um den «Preis» der Beendigung des Krieges, hat sich bislang keine kritische Demonstrationsmasse gebildet, die diesem Willen im Protest effektiven Ausdruck verleiht. Demonstrationen dafür gibt es schon lange, aber es sind eben nicht Hunderttausende, die dafür auf die Straße gehen, sondern nur einige wenige Tausende. Inzwischen haben, wie Sie sagen, viele Reservisten in der Luftwaffe und in anderen Einheiten der IDF offene Erklärungen für die Beendigung des Krieges publiziert, freilich nicht im Hinblick auf die humanitäre Situation in Gaza. Man muss abwarten, ob dies eine Wende einläuten wird. Im Moment, Mitte April, kritisiert sowohl die Politik als auch das Militär diese Aktionen, man verunglimpft die Unterzeichner der Petitionen als Verweigerer und Verräter.
Warum setzt sich in Israel anscheinend niemand für die Menschenrechte der Palästinenser ein, zu denen das Recht auf Leben zuallererst gehört?
Menschenrechte? In Israel? Wann hat sich das hegemoniale Israel jemals um Menschenrechte im Allgemeinen und um die der Palästinenser im Besonderen gekümmert? Es gab immer vereinzelte Publizisten und Menschenrechtler, die sich zu Wort gemeldet haben, auch NGO-Gruppen, aber sie bildeten immer schon nicht mehr als eine verschwindende Minderheit. Die zudem immer arg verleumdet und unter Netanjahu auch verfolgt worden ist. Israel betreibt schon seit bald 60 Jahren staatsoffiziell ein barbarisches Besatzungsregime, wieso sollte es sich da um Menschenrechte kümmern? Israel hat sich im Gegenteil darin hervorgetan, Menschenrechte zu übertreten, nicht zu vertreten.
Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass die Palästinenser von den Israelis nicht als Menschen gesehen und behandelt werden, dass sie entmenschlicht werden. Wie weit ist das verbreitet?
Bei ausgemachten (kahanistischen) Faschisten wie Ben-Gvir und Smotrich und ihren Anhängern, aber auch unter ultrarechten Likud-Anhängern ist das fest verankerte Ideologie. Ihre verbalen Auslassungen und die mit diesen einhergehenden Pogrom-Aktionen im Westjordanland lassen daran nicht den geringsten Zweifel. Aber die Dehumanisierung beginnt ja nicht erst im Faschismus. Vielmehr herrschte in Israel immer schon ein Alltagsrassismus, welcher der Indifferenz gegenüber der palästinensischen Leiderfahrung verschwistert ist, ein Rassismus, der sich bei sehr vielen jüdischen Bewohnern Israels der Dehumanisierung bedient, um sich gegen mögliche humane Empathieanwandlungen zu wappnen. Man lebt einigermaßen «gut» und «beruhigt» in unmittelbarer Nachbarschaft der Unterdrückung.
Während in der Ukraine jeder russische Angriff auf militärische Ziele mit zivilen Opfern im Westen zu Forderungen nach mehr Waffenlieferungen für Kiew führt, wird das israelische Vorgehen im Gazastreifen mit Zigtausenden zivilen Opfern und wie jüngst wieder mit Angriffen auf Krankenhäuser nicht nur anscheinend hingenommen, sondern noch weiter vom Westen unterstützt. Wie sehen Sie diese Doppelmoral?
Na ja, wie sehe ich sie schon – eben als perfide Doppelmoral. Aber die ist in Deutschland ja nicht neu. Seit Jahren versuche ich dem deutschen Publikum klarzumachen, dass man dem militaristischen Israel, das die Okkupation betreibt und Kriegsverbrechen begeht, keinen Gefallen erweist, wenn man es wahllos und automatisch unterstützt. Aber ich weiß ja, dass ich dabei gleichsam den Mond anbelle. Die deutsch-jüdische Vergangenheit im 20. Jahrhundert beziehungsweise ihre ideologische Kodifizierung wirkt sich da in voller Wucht aus. Dass man dabei gerade das Andenken jener verrät, in deren Namen man Israel die «Solidarität» erweist, ist die große Ironie, um nicht zu sagen ein handfester Zynismus. Denn wenn man die Erinnerung an die Opfer heranzieht, um eine Politik zu unterstützen, die immer neue Opfer produziert (und dabei, wie gesagt, auch Menschenrechte verletzt), dann hat man nichts aus der Vergangenheit gelernt, auch nicht sehr viel wesentlich aufgearbeitet.
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Sie haben sich 2014 in dem Buch «Israels Schicksal» unter anderem mit der Frage beschäftigt, «warum sich das zionistische Israel in eine historisch ausweglose Situation manövriert hat». Steht diese Frage für Sie immer noch? Und wenn ja, wie beantworten Sie diese mehr als zehn Jahre später?
Ja, diese Frage steht für mich immer noch, ich würde sagen, sie ist für mich die Kernfrage der israelischen Politik, gleichsam der Elefant im Raum. Zehn Jahre später stellt sich diese Frage mit noch größerer Triftigkeit als zuvor, denn die vergangenen zehn Jahre waren in dieser Hinsicht von Netanjahus Politik geprägt, derzufolge man den Konflikt mit den Palästinensern nicht lösen, sondern lediglich verwalten muss. Netanjahu hat sich zugutegehalten, das Problem des Konflikts, mithin der Okkupation von der internationalen und erst recht der nationalen Tagesordnung hinweggefegt zu haben. Das Ergebnis war dann der 7. Oktober. Es ist derzeit noch nicht ausgemacht, ob nicht gerade der Gazakrieg zu einer (internationalen) Forderung führen könnte, die politische Lösung des Konflikts, also die Errichtung eine souveränen palästinensischen Staates, nun doch anzuvisieren. Emmanuel Macron hat das neulich artikuliert. Die (im Nachhinein vom Vater abgesegnete) Reaktion des Sohnes von Benjamin Netanjahu, Yair, der für sein dreckiges Mundwerk bekannt ist, war beredt: «Screw you!» Ungeachtet dieser perfiden Unverschämtheit muss man sich klarmachen, dass diese Schmähworte auch einen Wahrheitskern in sich bergen: Es ist mehr als fraglich, ob Israel den Frieden mit den Palästinensern jemals gewollt hat.
Und welche Antwort haben Sie heute auf eine andere Frage in dem Buch: «Warum unterwandert Israel systematisch den Frieden, indem seine jüdischen Bürger immer wieder Parteien wählen, aus denen Regierungen gebildet werden, die den Frieden als Realität, den Frieden als politische Verwirklichung nicht wollen?»
Die, die ich soeben gegeben habe: Israel wollte nie den Frieden. Jedenfalls nicht, wenn er mit dem «Preis» verbunden ist, den Palästinensern einen eigenen Staat zuzugestehen. Was mich umtreibt, ist, dass das mittlerweile überhaupt keinen Debattenpunkt mehr in Israel darstellt. Kein jüdischer Politiker in Israel würde sich auch nur einfallen lassen, die Zweistaatenlösung als sein politisches Programm zu thematisieren. Das würde heute unweigerlich seinen politischen Tod bedeuten. Bedacht werden muss dabei, dass das Problem nicht nur in der Ideologie der politischen Klasse liegt, sondern nicht minder – und zuweilen viel mehr – beim Wahlvolk. Dass die israelische Friedensbewegung so eklatant von der Bildfläche verschwunden ist, zeigt, dass Netanjahu in diesem einen Punkt «erfolgreich» war.
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Das Interview erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe 7/8-25 des Magazins Hintergrund. Es wurde für Transition News redaktionell gekürzt.
Professor Moshe Zuckermann (Jahrgang 1949) wuchs als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas lehrte und das Institut für deutsche Geschichte leitete. Im Westend-Verlag erschien zuletzt sein mit Moshe Zimmermann gemeinsam verfasstes Buch «Denk ich an Deutschland ... Ein Dialog in Israe»l (2023.)
Das Interview mit Moshe Zuckermann führte Tilo Gräser Mitte April 2025.