In der Ukraine wird nicht nur militärisch gekämpft. Wir beobachten auch einen Informationskrieg. Einen Krieg um die Bilder, wobei beide Seiten versuchen, die Deutungshoheit zu erlangen. Und beide Seiten betreiben Propaganda. Im Westen sind wir tagtäglich der ukrainischen Propaganda ausgesetzt. Selenski ist gut, Putin böse – so das vereinfachte Bild. Die Realität ist jedoch komplexer.
Dies zeigt der belgische Journalist und Autor Michel Collon in seinem Buch «Ukraine – la guerre des images» anhand von zahlreichen Beispielen auf. Wir veröffentlichen an dieser Stelle das Vorwort zum Buch von Jacques Baud, einem ehemaligen Mitarbeiter des Strategischen Nachrichtendienstes der Schweiz.
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Die Wahrheit ist stets das erste Opfer des Krieges. Seit Beginn der russische Offensive in der Ukraine erinnern wir uns daran. Doch nur wenige ziehen die Konsequenzen daraus.
Jede Kriegspartei versucht – wie es in allen Konflikten stets der Fall ist –, ihren Standpunkt als Wahrheit zu verkaufen und uns ihre eigene Sicht der Ereignisse zu präsentieren. Das nennt man Propaganda.
Konflikte lassen sich aber nicht anhand eines einfachen «schwarz/weiss» Rasters analysieren. Die Realität liegt immer in den Grautönen. Ob man nun damit einverstanden ist oder nicht, sicher ist: Das Verständnis dieser Realität ist eine Voraussetzung dafür, um überhaupt erst eine Lösung für den Konflikt finden zu können.
Ein solches Verständnis setzt voraus: Das Festhalten an den Fakten; eine grosse intellektuelle Disziplin; die Stärke, Vorurteilen zu widerstehen, und Integrität. Nur so können Übertreibungen und Auslassungen auf beiden Seiten abgeschwächt werden.
Im Kalten Krieg lebte die Information nach einem darwinistischen Prinzip. Dieses sorgte dafür, dass sich die «guten Informationen» letztendlich von selbst durgesetzt haben.
Wir haben fast 50 Jahre Kalten Krieg erlebt. In dieser Zeit ermöglichte es uns die Informationsvielfalt, Desinformation und Propaganda auch ohne «Faktenchecker» zu besiegen. Waren frühere Generationen also intelligenter?
Heute ist die Situation grundlegend anders. Die Informationsvielfalt, die es noch vor vierzig Jahren gab, ist verschwunden. Die Medien präsentieren permanent die gleichen Schlagzeilen, die gleichen Artikel und die gleichen Ideen. Der Konflikt in der Ukraine hat diese Tendenz noch verschärft. Das Ergebnis ist ein streng homogenes, einseitiges und zutiefst polarisiertes Bild.
Das Bild stützt sich ausschliesslich auf die Propaganda der einen Seite. (…) Der offizielle Diskurs muss durchgesetzt werden. Zu diesem Zweck werden sogar Zensurmechanismen eingesetzt. Implementiert werden sie durch Soziale Netzwerke, traditionelle Medien oder sogar durch Stellen, die von ausländischen Regierungen finanziert werden.
Die Informationen (…) sind inzwischen bereinigt und keimfrei. Abweichende Stimmen werden (…) systematisch stigmatisiert und als «Verschwörungstheoretiker» geächtet – wenn sie nicht sogar strafrechtlich verurteilt werden.
Ein französischer Journalist vertraute mir kürzlich an: «Unsere Redaktion erlaubt uns nicht, die Wahrheit zu sagen. Denn das würde bedeuten, dass wir ‹pro Putin› sind.»
Manche werden nicht alle Analysen in diesem Buch teilen. Das ist normal und trifft auch auf mich zu. Aber um das geht es nicht. Das Wesentliche ist hier weniger der Inhalt als der Ansatz.
Michel Collons Verdienst ist es, die Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Dabei stützt er sich auf Fakten, die von der offiziellen Erzählung bewusst ausgeklammert wurden.
Damit knüpft er an einen demokratischen Grundwert an, einen Wert, den die traditionellen Medien nicht mehr praktizieren: Nämlich sich zu informieren, um verstehen und urteilen zu können. Denn Frieden entsteht nicht durch «Narrative», sondern durch Fakten. (…) Nur weil Fakten nicht in unseren Medien zitiert werden, heisst das nicht, dass sie nicht existieren.
Wer die Demokratie verteidigt, versucht nicht, mit aller Macht einen Diskurs durchzusetzen und Gegner als undemokratisch darzustellen. Verteidiger der Demokratie sind diejenigen, die einem freien Diskurs das Wort sprechen. (…)
Die Vielfalt, die den Reichtum eines Ökosystems ausmacht, gilt in gleichem Masse für Informationen.
Wir sind nur dann fähig, Probleme zu lösen, wenn wir unterschiedliche Faktoren und Wahrnehmungen in die Gleichung miteinbeziehen. Es geht nicht darum, ein Gegennarrativ zu schaffen. Es geht darum, die Lesart der Probleme neu auszutarieren, um nachhaltige Lösungen zu finden.
Unsere «Werte» sind bloss noch ein Alibi, um unsere eigenen Verstösse gegen das Völkerrecht zu rechtfertigen. (…) Unsere Politik wird mehr vom Hass auf Russland als von der Liebe zur Ukraine geleitet. Wir haben nicht mehr Mitgefühl für die russisch- und ukrainischsprachigen Ukrainer, als wir es für die Afghanen, Iraker, Libyer, Syrer oder Malier hatten.
Das westliche Konflikt-Narrativ beginnt mehr und mehr zur bröckeln. Das zeigt, dass wir eine fiktive Realität geschaffen hatten, die uns als Entscheidungsgrundlage diente.
Eine Strategie, mit der die Ukraine Russland besiegen oder sogar zum Status quo ante zurückkehren könnte, ist immer weniger erkennbar. Der Krieg, der heute geführt wird, geht auf Kosten der Ukraine.
Das westliche Narrativ ist zum Haupthindernis für einen Friedensprozess geworden. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir die Rationalität in unserer Interpretation der Ereignisse wiederherstellen.
Es geht hier also nicht darum, «gute» oder «schlechte» Noten der einen oder anderen Kriegspartei zu erteilen. Es geht darum, die relevanten Elemente für ein rationales Urteil wiederherzustellen.
Um das Wesen dieses Buches zu verstehen, muss man von dem Sprichwort «Ich stimme nicht mit dem überein, was du sagst, aber ich werde dafür kämpfen, dass du das Recht hast, es zu sagen» ausgehen. Ein oft zitierter, aber wenig befolgter Spruch...
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Zu den Autoren:
Michel Collon ist Journalist, Autor und Gründer und Betreiber der Informationsplattform Investig’Action.
Jaques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein abgeschlossenes Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit und internationalen Beziehungen. Er arbeitete als für die Ostblockstaaten und den Warschauer Pakt zuständiger Analyst für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst und leitete die Doktrin für friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen New York. Dort war er zuständig für die Bekämpfung der Proliferation von Kleinwaffen bei der NATO und beteiligt an den NATO-Missionen in der Ukraine.
Buch-Hinweis:
Michel Collon: Ukraine – la guerre des images. Investig’Action, 2023. 420 S., 25,00 €.
Weitere Infos und Bestellung hier. Das Buch ist ab dem 1. Juli 2023 erhältlich.
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