John P.A. Ioannidis hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Wissenschaft zu hinterfragen. Wie ein neuer ORF-Podcast, der anlässlich eines Besuches von Ioannidis in Innsbruck aufgenommen wurde, zeigt, untersucht der 59-jährige Professor an der Universität Stanford die Qualität wissenschaftlicher Studien – und stellt dabei fest, dass viele nicht den Standards entsprechen, denen sie sollten. Als Mitbegründer des «Innovationszentrums für Meta-Forschung» widmet er sich der Aufgabe, Studien aus unterschiedlichsten Fachbereichen auf ihre Reproduzierbarkeit und Aussagekraft zu überprüfen.
Sein kritischer Blick auf die Wissenschaft hat Ioannidis zu einer wichtigen Stimme gemacht, besonders in einer Zeit, in der Studien und Erkenntnisse oft ungeprüft in der Öffentlichkeit verbreitet werden (wir haben zum Beispiel hier und hier berichtet).
Er ist ein leidenschaftlicher Spaziergänger und mag es, wenn sich Dinge ändern. Auch geistig. Er entdeckte zufällig das Unternehmen Theranos. Das Unternehmen verkaufte die Idee eines schnellen und günstigen Bluttests. Angeblich verwendete das Unternehmen Gentests anstatt Nährlösung, um Blut auf Bakterien und Viren zu untersuchen und so bis zu 70 verschiedene Tests durchzuführen. Ioannidis suchte wissenschaftliche Literatur. Es gab sie nicht. Das Unternehmen wuchs, die Investoren investierten und auch Vertreter der Harvard Medical School waren im Beirat. Auch der heutige US-Präsident Biden besuchte den Hauptsitz. Niemand hat nach den wissenschaftlichen Grundlagen gefragt.
Ioannidis’ Artikel über Theranos schlug ein wie eine Bombe. Das Geschäftsmodell entpuppte sich als Betrug. Die Dreistigkeit sei bemerkenswert, aber etwa 50% der Gesundheitsstartups täten etwas, was wissenschaftlich nicht funktioniert, kommentierte Ioannidis im Podcast.
«Wissenschaft funktioniert nicht über Abstimmung», betont er. «Es zählt nicht, was die Mehrheit sagt, sondern was die Daten und die wissenschaftliche Analyse zeigen.» Dieser Grundsatz führte während der Covid-19-Pandemie zu seinem Aufstieg als umstrittener Kritiker der getroffenen Maßnahmen.
Im März 2020 veröffentlichte Ioannidis den Artikel «A Fiasco in the Making» und stellte infrage, ob die Maßnahmen gegen das Coronavirus auf soliden Daten basierten. Er kritisierte die Schulschließungen und die weitreichenden Lockdowns, da es seiner Ansicht nach keine verlässlichen wissenschaftlichen Grundlagen dafür gab. Diese kritische Haltung brachte ihm nicht nur Anerkennung ein, sondern auch heftige Angriffe.
«Ich stand damals in Kontakt mit sehr vielen Top-Epidemiologen der Welt, die sich an mich wandten und meinten, dass es unglaublich sei, was gerade passiert. Aber sie könnten nichts sagen, da sie sonst zerstört würden», erinnert sich Ioannidis.
Seine Bedenken galten vor allem den langfristigen Folgen der getroffenen Entscheidungen, die auf unzureichenden Daten basierten. Ioannidis’ Kritik war nicht populär, doch er blieb bei seiner Überzeugung.
«Wenn Sie sich die Menschen anschauen, die in der ersten Welle gestorben sind, dann sehen wir: Wir haben das Gegenteil von dem gemacht, was wir hätten tun sollen», erläutert er. «Wir haben Kinder in ihre Zimmer eingesperrt und ihnen nicht erlaubt, in die Schule zu gehen. Gleichzeitig haben wir Pflegebedürftige komplett ungeschützt gelassen. Die meisten Menschen, die sich in der Öffentlichkeit als Epidemiologen dargestellt haben, haben niemals auf diesem Gebiet gearbeitet, geschweige denn irgendetwas auf diesem Thema publiziert. Sie wurden von den Medien und der Politik zu Epidemiologen erklärt. Ich schäme mich als Epidemiologe dafür, dass ich nicht mehr tun konnte, dass ich nicht mehr einflussreichen Politikern und Medien erklären konnte, dass das, was hier gerade vor sich geht, komplett falsch ist.»
Ioannidis wirft der Politik und den Medien vor, Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sich nie ernsthaft mit Epidemiologie beschäftigt hatten. Die Folgen für Ioannidis und seine Familie waren dramatisch: Morddrohungen und Rufmordkampagnen begleiteten seine Äußerungen. «Die Intensität der Attacken ist für mich nur schwer zu beschreiben. Es erschütterte meinen Glauben an die Menschheit», gibt er zu. Besonders belastend war, dass das falsche Gerücht über den Tod seiner Mutter verbreitet wurde – was ihren Gesundheitszustand ernsthaft gefährdete.
Doch trotz aller Anfeindungen bleibt Ioannidis der Wissenschaft und seinem Streben nach Wahrheit treu. Für ihn steht fest: Wissenschaft lebt vom Austausch und der Korrektur.
«Wenn 999 Wissenschaftler x sagen und einer y, dann mag x wahrscheinlich sein. Aber es kann auch y richtig sein», betont er.
Es gehe darum, Studien zu vergleichen, und nicht darum, der Mehrheit blind zu folgen.
Ioannidis, der in New York geboren und in Griechenland aufgewachsen ist, hält sich oft in seiner alten Heimat auf, wo er auch seine Liebe zum nächtlichen Schwimmen entdeckt hat. Für ihn ist das Schwimmen in der Nacht eine Metapher für die Wissenschaft. «Es ist eine wunderschöne Erfahrung, aber auch ein wenig riskant und geheimnisvoll», beschreibt er seine Leidenschaft. «In der Wissenschaft bewegen wir uns an der Oberfläche eines tiefen Ozeans, voller Verzerrungen und Unsicherheiten.»
Sein wissenschaftliches Engagement führte Ioannidis dazu, auf die Fehler und Verzerrungen in der Forschung aufmerksam zu machen. Bereits 2005 veröffentlichte er den Artikel «Why Most Published Research Findings Are False», in dem er auf systematische Probleme im Publikationssystem hinwies. Ihm zufolge sind 80 bis 90 Prozent der veröffentlichten Studien in den Gesundheitswissenschaften methodisch schlecht ausgeführt. Er führt dies auf den Druck zum Publizieren zurück, der zu Lasten der Qualität geht: «Publish or perish» sei das Motto, das viele Wissenschaftler antreibt.
Ein weiteres Problem sieht Ioannidis im Peer-Review-System, das als Qualitätskontrolle fungiert. Doch diese Kontrolle sei oft mangelhaft, da die Gutachter unbezahlt und unter Zeitdruck arbeiten. «Nur sehr gravierende Verstöße werden entdeckt, wenn überhaupt», erklärt er. Immer weniger Wissenschaftler seien bereit, diese wichtige Aufgabe unter den gegebenen Bedingungen zu übernehmen, weshalb die Begutachtung oft unerfahrenen Forschern überlassen werde.
Doch trotz seiner Kritik sieht Ioannidis auch Fortschritte. So würden heute deutlich mehr Rohdaten zur Verfügung gestellt als noch vor 20 Jahren. Zudem gebe es immer mehr Regeln, um Interessenkonflikte in der Wissenschaft zu verhindern. Dennoch sieht er mit Sorge, dass Lobbys und die Selbstvermarktung mittlerweile eine größere Rolle spielen als die Wissenschaft selbst.
Ioannidis’ Interesse geht jedoch über die Wissenschaft hinaus. Er schreibt Opernlibretti und beschäftigt sich intensiv mit Geschichte. Für ihn bietet die Beschäftigung mit historischen Ereignissen die Möglichkeit, dem Jetzt zu entfliehen und zugleich Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Als Kind zeigte sich seine Liebe zur Mathematik in ungewöhnlichen Formen: Er erstellte wöchentliche Ranglisten seiner Familienmitglieder, wobei seine Mutter oft den ersten Platz belegte.
Heute hat er diese kindliche Angewohnheit abgelegt, doch seine Faszination für Zahlen und Medizin führte ihn schließlich an die Spitze der Gesundheitswissenschaften. Trotz aller Herausforderungen ist er überzeugt, dass die Wissenschaft, wenn sie richtig angewendet wird, ein mächtiges Werkzeug für das Wohl der Menschheit sein kann. Doch um das zu erreichen, müssen Forscher bereit sein, sich selbst und ihre Ergebnisse ständig zu hinterfragen:
«Folgen Sie mir nicht. Fordern Sie mich heraus. Stellen Sie meine Arbeit in Frage. Zeigen Sie mir, bei welchen Dingen ich falsch liegen könnte.»