Eine Krisen- oder Kriegssituation komme nicht über Nacht, stellte die langjährige Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld am Samstag in Berlin fest. «Um sich einer Lösung zu nähern, wie man eine solche Situation klären kann, muss man auf jeden Fall sehen: Wie ist es dazu gekommen?» Die Konflikte und Kriege im Nahen Osten hätten immer eine Vorgeschichte, betonte sie.
Karin Leukefeld am 27. April im Berliner «Sprechsaal» (Foto: Éva Péli)
Leukefeld sprach bei einem Vortrag in der Reihe «Denkraum» im «Sprechsaal» in Berlin-Mitte über die Frage «Wie ist Frieden in Palästina möglich?». Ebenso ging sie darauf ein, wer die Akteure in dem Konflikt seit mehr als 100 Jahren sind und welche Interessen sie verfolgen. Eingeladen dazu hatte sie und die etwa 60 Gäste der Kulturkreis Pankow.
Die regierende Politik hierzulande, aber auch die etablierten Medien ließen auch in diesem Fall die Vorgeschichte weg, sagte sie. Das aktuelle Geschehen mit dem israelischen Vernichtungsfeldzug im Gazastreifen werde immer nur als Folge des Überfalls durch die palästinensische Organisation Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober 2023 dargestellt.
«Aber tatsächlich ist der 7. Oktober eine Folge von dem, was vorher passiert ist.»
Leukefeld hielt sich zu dem Zeitpunkt in Damaskus auf, wie sie berichtete. Und sagte, die Palästinenser selber und auch sehr viele Leute, mit denen sie damals gesprochen habe, hätten den Überfall als verständlich bezeichnet. Sie hätten es gut gefunden, dass die Menschen aus dem Gazastreifen «praktisch ausgebrochen sind wie aus einem Gefängnis».
«Wir haben auch vergessen, dass viele Jahre schon der Gazastreifen bezeichnet wurde als das größte Freiluftgefängnis der Welt.»
Unter der Bevölkerung der Region habe es deshalb viel Verständnis für den Hamas-Angriff gegeben, bei dem es vor allem um Geiselnahme gegangen sei. Damit sollten Palästinenser aus israelischen Gefängnissen freigepresst werden.
Unübersehbare Vernichtung
Es gebe im Nahen Osten unter der Bevölkerung immer noch «dieses Gefühl, dass es da ein Land gibt, was nicht frei ist und was befreit werden kann durch eine bewaffnete Operation». Ein Gesprächspartner von der Volksfront zur Befreiung Palästinas habe ihr in Damaskus gesagt:
«Für uns ist diese Operation eine existenzielle Sache. Es geht um unsere Existenz als Palästinenser.»
Die Journalistin beschrieb die aktuelle Lage in Palästina als unübersichtlich. Den offiziell geschätzten 1.200 Toten auf israelischer Seite durch die Ereignisse am 7. Oktober stehen inzwischen mehr als 34.000 offiziell gemeldete Todesopfer durch den israelischen Feldzug im Gaza-Streifen gegenüber. Sie stellte fest::
«Die Vernichtung des Gazastreifens ist heute also unübersehbar.»
Zugleich würden die Angriffe von israelischen Siedlern und der israelischen Armee auf die Palästinenser im Westjordanland ausgeweitet. Im Gazastreifen würden auch arabische Christen zu den Opfern der israelischen Bombardements gehören. Viele der dadurch Getöteten lägen noch unter den Trümmern der zerstörten Gebäude.
Leukefeld berichtete von Munther Isaac, Pastor an der evangelisch-lutherischen Kirche in Bethlehem. Der habe am 23. Dezember 2023 in einer Botschaft in der Weihnachtskirche gesagt: «Christus ist unter den Trümmern«. Und: «Wir sind zornig, wir sind gebrochen», so der Geistliche.
«Dies ist eine Vernichtung, dies ist ein Völkermord. Die Welt sieht zu. Die Kirchen sehen zu.»
Die Menschen in Palästina würden «vom Schweigen der Welt gefoltert», habe der Pastor ihr gesagt. Und hinzugefügt: «Die Führer der so genannten freien Welt haben einer nach dem anderen grünes Licht für diesen Völkermord an einer gefangenen Bevölkerung gegeben.»
Der Krieg bestätige aus Isaacs Sicht, dass die Welt die Palästinenser nicht als gleichberechtigt ansieht«, so Pfarrer Isaac. «In ihren Augen sind wir keine Menschen. Aber in den Augen Gottes kann uns niemand so etwas sagen.»
«Entsetzliche Heuchelei»
Der Pastor habe die Heuchelei und den Rassismus der westlichen Welt als «offensichtlich und entsetzlich» bezeichnet. An die Europäer gerichtet habe er gesagt: «Ich will nie wieder hören, dass Ihr uns über die Menschenrechte oder über das internationale Recht belehrt.»
Die Nahost-Korrespondentin berichtete von einer der Folgen der europäischen und insbesondere deutschen Unterstützung für den israelischen Vernichtungsfeldzug: Brüssel und Berlin hätten massiv an Ansehen in der arabischen Welt verloren. Sie seien nicht mehr als Gesprächs- und Verhandlungspartner gefragt.
Die Europäische Union (EU) sei an dem Verbrechen gegen die Palästinenser beteiligt: Weil sie unter anderem israelische Forschungen an Drohnen, die im Gazastreifen eingesetzt werden, finanziell förderte. Die westlichen Staaten, voran die USA und Deutschland, seien die Hauptwaffenlieferanten Israels, das immer mehr Waffen bekomme.
«Was wir im Gazastreifen sehen ist auch eine Art Test von neuen militärischen Geräten und Waffen.»
An den Planungen der israelischen Armee, die auch die sogenannte Künstliche Intelligenz für die Zielerfassung einsetze, seien US-Militärs beteiligt. Zugleich würden die USA im UN-Sicherheitsrat alle Resolutionen für einen Waffenstillstand mit ihrem Veto boykottieren. Derzeit würden weltweit immer mehr Menschen gegen den Völkermord im Gazastreifen protestieren, zunehmend auch an US-Universitäten.
Leukefeld ging ausführlich auf die geopolitischen Interessen seit mehr als einem Jahrhundert im Konflikt um Palästina ein. Diese würden die Region, das Land und seine Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen.
Zerstörerische Rolle
Und sie erinnerte daran, dass es dabei um einen Teil des sogenannten Fruchtbaren Halbmondes mit seinen jahrtausendealten Kulturen geht. Dieser habe als Wiege der europäischen Zivilisation eine wichtige Rolle in den vergangenen Jahrhunderten gespielt. Die Region habe einst eine Brückenfunktion zwischen den Kontinenten und Ländern gehabt und sei mit der alten Seidenstraße über Jahrhunderte wichtig für den Handel gewesen.
Sie verwies in ihrem Vortrag auf die zerstörerische Rolle der europäischen Kolonialmächte wie Frankreich und Großbritannien im Nahen Osten seit dem 19. Jahrhundert. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches in Folge des Ersten Weltkrieges habe sich das noch verstärkt.
London habe die Bevölkerungsgruppen, ob arabisch oder jüdisch, in der Region benutzt, um seine Interessen durchzusetzen. Dabei hätten die Briten den Arabern wie den zionistischen Juden jeweils Land versprochen, das ihnen nicht gehörte. Die westlichen Siegermächte des Ersten Weltkrieges, einschließlich der USA, hätten die Entwicklung in Arabien bestimmt – mit Folgen bis heute.
Leukefeld erinnerte dabei an das britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen, mit dem London und Paris 1916 den Nahen Osten aufteilten. Sie verwies ebenso auf die weithin unbekannten US-amerikanischen Untersuchungen der King-Crane-Commission 1919.
Der King-Crane-Report sei für die Pariser Friedensverhandlungen 1919 bestimmt gewesen. In ihm seien nach zweimonatigen Studien und Umfragen vor Ort Regelungen für die Region vorgeschlagen worden, die dieser ein anderes Gesicht als das heutige verliehen hätten: mit einem kurdischen Staat, einem syrisch-palästinensischen-jüdischen Staat, einem Staat Mesopotamien, einem armenischen Staat, einer Rumpf-Türkei – ohne einen eigenständigen jüdischen Staat.
Doch Paris und London hätten die US-Kommission nicht nur mit medialer Hetze begleitet und zu verhindern versucht. Ihre Ergebnisse seien bei den Pariser Verhandlungen ignoriert worden, so Leukefeld. Damit habe sich die französisch-britische Teilung der Region, einschließlich eines eigenständigen jüdischen Staates, durchgesetzt.
Europäischer «Feuerring»
Der britische Feldmarschall Earl Archibald Wavell habe das Pariser Friedensabkommen als «A peace to end all peace» (Ein Frieden, der jeden Frieden beendet) bezeichnet. «Teile und herrsche» – dieses Prinzip der Aufteilung eigentlich zusammenhängender Gebiete sei nach dem Ersten Weltkrieg von den westlichen Mächten im Nahen Osten bis heute fortgesetzt worden, machte die Journalistin deutlich.
Der von den arabischen Staaten abgelehnte UN-Teilungsplan von 1947, der Palästina in ein jüdisches und ein arabisches Gebiet aufteilte, habe das fortgesetzt. Die Folge seien die als «Nakba» bekannten Vertreibungen von Hunderttausenden Palästinensern schon vor der Gründung Israels 1948 gewesen, einschließlich von Mord und Totschlag durch zionistische Terrorgruppen.
Der kurz nach der Staatsgründung erfolgte Angriff arabischer Staaten auf Israel habe zur Folge gehabt, dass am Ende 1949 das israelische Gebiet größer wurde als vorgesehen. Die lange Zeit diskutierte sogenannte Zwei-Staaten-Lösung sei inzwischen nicht mehr realistisch, sagte Leukefeld mit Verweis auf das israelische Vorgehen im Gazastreifen und im Westjordanland.
Sie beschrieb den Gang der Ereignisse bis heute, einschließlich des Auftritts des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im September 2023 vor der UN-Vollversammlung. Dabei zeigte dieser eine Karte des «Neuen Nahen Ostens», auf der es kein Palästina mehr gab. Ebenso erinnerte sie daran, dass der Gaza-Streifen seit 2007 komplett von Israel blockiert wurde.
Die Bevölkerung der Region sei «gefangen im Netz der Geopolitik». Dieses werde bestimmt zum einen vom westlichen Block der alten Kolonialmächte und andererseits vom Block des Ostens und Südens mit Russland China und den einstigen Kolonien. Die USA hätten rund um die arabische Halbinsel Militärstützpunkte platziert, um die Seewege und Handelsrouten, vor allem den Öltransport, kontrollieren zu können.
Die EU versuche, mitzumischen und habe den Mittleren Osten einschließlich Nordafrikas als Interessensgebiet für die eigene Politik und für den Handel bestimmt. Dazu habe sie unter dem Etikett «Nachbarschaftspolitik» einen «Feuerring» um das Mittelmeer gelegt. Das verdeutlichte sie anhand einer Karte, die zeigte, dass in den betreffenden Ländern in den letzten Jahren zahlreiche Konflikte ausbrachen.
Beim Versuch, als Weltmacht aufzutreten, versuche die EU, Verbindungen zwischen Asien und Europa über den Mittleren Osten zu schaffen. Diese sollen von Rohstoffen bis Daten das transportieren, was der eigenen europäischen Wirtschaft nutzt.
Westlicher Fehler
Heute gehe es zunehmend auch um Erdgas, erklärte Leukefeld mit Hinweis auf die Erdgasfelder im Mittelmeer, die von der EU ins Visier genommen worden seien. Sie verwies auch auf ein großes Gasfeld vor der Küste des Gazastreifens. Das stehe den Palästinensern zu, die aber keine Möglichkeit hätten, das Erdgas zu fördern. Das wolle nun Israel auch gemeinsam mit der EU machen.
Während regionale Akteure wie Jordanien und Ägypten von den USA abhängig seien, würden andere wie die Golfstaaten zunehmend die Zusammenarbeit mit China und Russland suchen. Der «große Fehler des Westens» sei, dass dessen Regierungen die eigene Politik und deren Folgen in der Region nicht reflektierten.
Die gegenwärtige Debatte um den Konflikt Israel-Iran zeige, dass es immer nur um Konfrontation gehe, um die eigenen westlichen Interessen durchzusetzen. Die Region sei durch den mehr als zwanzigjährigen US-geführten «Krieg gegen den Terror» zerstört und habe in der Folge viele Probleme hervorgebracht.
Die westliche Politik im Nahen Osten habe die Lebensgrundlagen und -perspektiven der Menschen zerstört. Leukefeld forderte «viel mehr Kritik daran» auch in Deutschland ein, insbesondere von den Medien. Das jüngste G7-Treffen habe erneut gezeigt:
«Sie reden über die Region, als wäre das ihr Gebiet.»
Dabei wollten die Länder im Nahen Osten und ihre Menschen nichts anderes, «als dass sie mit einander dort kooperieren und Handel treiben können und wieder aufbauen können». Die Chance dafür würden sie bei China und Russland sehen.
Die Nahost-Korrespondentin erinnerte am Ende ihres Vortrages in Berlin an Julian Assange. Der habe unter anderem die gegenwärtigen westlichen Verbrechen in der arabischen Welt aufgedeckt und sitze dafür im Gefängnis. Sie forderte Freiheit für ihn wie auch für Palästina.
ergänzt am 2.5.24; 9:45 Uhr
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