Als ich am 7. Oktober die ersten Nachrichten aus Palästina beziehungsweise Israel hörte, war meine erste Frage: Was genau ist da los?
Die zweite war: Hat der Mossad mal wieder mit Hilfe seiner Agenten in der Hamas eine verdeckte Operation gestartet, damit die Israelis sich endlich hinter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versammeln, nach all der massiven Demokratiebewegung und Kritik an der Regierung?
Die dritte war: Oder sind die Palästinenser in Gaza tatsächlich so verzweifelt, dass sie eine Operation ohne Rücksicht auf die Folgen starten, die erneut schlimme Folgen für die Menschen in Gaza haben wird?
Meine ersten Antworten an dem Tag waren: Eine «False Flag»-Operation des Mossad würde mich nicht überraschen. Eine Verzweiflungsoperation der Hamas wäre zumindest verständlich, aber nicht gut angesichts der zu erwartenden Folgen wie erneuten Angriffen auf den Gaza-Streifen, das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt.
Inzwischen bombardiert die israelische Luftwaffe Gaza, ohne Rücksicht auf zivile Opfer und dreht so die Gewaltspirale weiter. Die haben nicht die Hamas-Kämpfer ausgelöst, die in einer scheinbaren Überraschungsoperation in Israel eindrangen und Armee und Siedler, aber auch ein Raver-Festival überfielen.
Schweigen über das Leid der Palästinenser
An dieser Spirale wird spätestens seit 75 Jahren gedreht, seit 1948 Hunderttausende Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Das Land wurde vom Westen an die Zionisten übergeben, die Israel gründeten.
Darüber und über die Folgen wird bis heute hierzulande und anderswo im Westen geschwiegen, wie jüngst selbst in der Frankfurter Rundschau festgestellt wurde. Die gepredigte unbedingte Solidarität mit Israel geht auch über das Leid derjenigen, die unter der israelischen Besatzungspolitik leiden.
Damit wurde die Gewaltspirale in Gang gesetzt, die bis heute nicht zu Ruhe kam. Was wir derzeit erleben beziehungsweise aus Palästina sehen und hören ist nur eine weitere Drehung.
Diejenigen, die die Spirale stoppen könnten, haben kein Interesse daran. Sie sitzen nicht in Gaza-Stadt, nicht in Teheran oder einem anderen Ort im Nahen Osten. Sie sitzen in Tel Aviv, in Washington und anderen westlichen Hauptstädten, auch in Berlin.
Die Videos und Bilder der Opfer auf beiden Seiten, die ich unter anderem auf der Plattform Telegram sah, erschüttern mich. Bei allem Entsetzen bleibt die Frage nach den Ursachen wichtig, neben der, wer und wie diese erneute Eskalation stoppen kann, möglichst ohne, dass es am Ende Tausende Opfer auf beiden Seiten gibt.
Eine Erinnerung
Als ich am 7. Oktober die ersten Nachrichten zum neuen Krieg in der fernen und doch nahen Region sah, erinnerte ich mich an ein Erlebnis im Januar 2009. Damals gab es wieder einen der vielen kleinen und grossen Kriege Israels gegen die Palästinenser in Gaza.
Es gab Demonstrationen dagegen, auch in Berlin, wo ich an einer davon teilnahm. Ich hatte mir eine palästinensische Flagge umgehangen, um irgendein Zeichen der Solidarität zu setzen.
Deshalb sprach mich eine Reporterin der Berliner Zeitung an und fragte, warum ich dabei bin. Ich sagte ihr, ich würde mich nach den ungerechtfertigten israelischen Bombardements nicht wundern, dass die Hamas Raketen einsetze.
Schliesslich befänden sich die Menschen im Gazastreifen in einer Zwangslage, eingesperrt, bei menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Dass es dann irgendwann zu einem Gewaltausbruch kommt, sei logisch.
Die Kollegin hat einen Teil meiner Antwort immerhin in ihrem Bericht von der Demonstration festgehalten. Meine damalige Aussage über Gaza als Gefängnis fiel mir nun wieder ein angesichts der Frage, wie es zum derzeitigen Kriegsausbruch kommen konnte.
Darauf hat am Wochenende auch der Schweizer Journalist und Nahost-Experte Erich Gysling hingewiesen, der von der Schweizer Sonntagszeitung zu den aktuellen Ereignissen befragt wurde:
«Man muss wissen, die Palästinenser im Westjordanland – und noch stärker jene im Gazastreifen – leben in einem riesigen Gefängnis. Immer wieder kommt es zu Gewaltausbrüchen.»
Ich war zumindest froh, dass Gysling für westliche Verhältnisse einen deutlich differenzierten Blick auf den gegenwärtigen Gewaltausbruch in einem jahrzehntelangen Konflikt zeigte. Alle anderen Medien im Westen überschlagen sich derzeit wieder in einseitigen Schuldzuweisungen an die extremistische Hamas, machen blind mit den schrecklichen Bildern und unterlassen Fragen nach der israelischen Verantwortung für das Geschehen.
Eine der wenigen westlichen Stimmen der Vernunft ist die Journalistin Karin Leukefeld, die sich derzeit in der Region aufhält. Ich habe Hochachtung vor dem, wie sie unbeirrt versucht, aufzuklären und zu informieren, wie aktuell mit einem Beitrag auf den NachDenkSeiten.
Unmenschliche israelische Politik
Zur israelischen Verantwortung für das Geschehen gehört der Umgang mit den Palästinensern auf ihrem eigenen Territorium, eingesperrt in immer kleineren Territorien im Westjordanland und Gaza. Nicht nur, dass anhaltend zionistische Siedler sie vertreiben und illegale Siedlungen auf palästinensischem Territorium errichten, beschützt von der israelischen Armee IDF.
Mit Blockaden und Bomben werden die Palästinenser in ihrem Gefängnis gehalten und getötet. Sie werden von der israelischen Besatzungsmacht nicht wie Menschen behandelt.
Es ist nicht verwunderlich, dass damit Hass und Gewalt gezüchtet werden, die das Gegenüber ebenfalls nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als Feind betrachten, der vernichtet werden muss, um selbst zu überleben. Eine solche Haltung gib es eben nicht nur bei extremistischen Palästinensern.
»Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend«, sagte Verteidigungsminister Yoav Gallant Berichten zufolge. Danach hat Gallant am Montag die «vollständige Belagerung» Gazas und den sofortigen Stopp der Versorgung aus Israel mit Strom, Lebensmitteln und Treibstoff angekündigt.
Was ist das anderes als unmenschlich, barbarisch und auch als faschistisch? Dass eine angegriffene Armee zurückschlägt ist gewissermassen üblich, aber es verstösst gegen mehr als das Völkerrecht, die Zivilbevölkerung so zu behandeln.
Wer hat angefangen?
Inzwischen werden Hunderte Tote auf beiden Seiten gemeldet, auch mehr als 100’000 Flüchtlinge in Gaza selbst. Ich will und kann nicht spekulieren, wie es zu der Überraschung für Israel kam und welche Rolle der Mossad bei all dem spielt.
Er hat noch nie eine gute Rolle in der ganzen palästinensisch-israelischen Tragödie gespielt. Erinnert sei nur unter anderem daran , dass «verschiedenen jetzigen und ehemaligen US-Geheimdienst-Beamten zufolge, … Tel Aviv der Hamas, beginnend in den späten 70ern, über Jahre hinweg direkte und indirekte finanzielle Hilfe» gab, als gewünschtes Gegengewicht zur PLO.
Es ist auch an die Aussage des israelischen Journalisten Gideon Levy zu erinnern, der 2006 in der israelischen Zeitung «Haaretz» die Frage beantwortete «Wer hat angefangen?»:
«Wir haben angefangen. Wir haben mit der Besatzung angefangen, und wir sind verpflichtet, sie zu beenden, ein wirkliches und vollständiges Ende. Wir haben mit der Gewalt angefangen. Es gibt keine schlimmere Gewalt als die des Besatzers, der Gewalt gegen ein ganzes Volk ausübt, daher ist die Frage, wer zuerst geschossen hat, eine Ausflucht, um das Bild zu verzerren.»
Wenn das nicht endlich beherzigt wird, wird geschehen, was der Journalist Gysling erwartet:
«Auch wenn der Einsatz länger dauern wird, wird Israel auch diese Auseinandersetzung mit massivem Einsatz von Gewalt gewinnen. Am Ende wird es einen Waffenstillstand geben, und man ist wieder dort, wo man bereits vor Jahrzehnten war.»
Und das Leid auf beiden Seiten gebiert neuen Hass und neue Gewalt. Ein Ende durch jene, die die Gewaltspirale in Gang gesetzt haben, ist leider nicht zu erwarten – und doch hoffe ich, es könne ein solches geben.
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