In den vergangenen Jahrzehnten hat die Zahl der Verschreibungen von Antidepressiva drastisch zugenommen. Businessinsider.com etwa berichtete 2014, der Gebrauch sei «seit 1988 explodiert: Amerikaner schlucken Antidepressiva wie Zoloft und Paxil viermal so häufig wie früher». Andernorts ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten.
Auch aktuellere Daten weisen in dieselbe Richtung. So hat sich laut Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) der Einsatz von Antidepressiva zwischen 2000 und 2020 in 18 europäischen Ländern weit mehr als verdoppelt.
Experten wie die Psychiatrie-Professorin Joanna Moncrieff sehen dies mit großer Sorge. Denn das «Serotonin-Dogma zu Antidepressiva ist haltlos – ihr Schadenspotenzial aber so wie das von Drogen», wie sie 2022 im Interview mit Transition News konstatierte.
Nun hat Peter C. Gøtzsche, der 2010 zum Professor für klinisches Forschungsdesign und Analyse an der Universität Kopenhagen ernannt wurde und Mitbegründer der Cochrane Collaboration war, die einst als weltweit führende unabhängige medizinische Forschungsorganisation galt, einen Rundumschlag gemacht, was Psychopharmaka angeht. So führt er in einem Beitrag für das Brownstone Institute aus, das psychiatrische Narrativ, das von wirksamen und sicheren Medikamenten spreche, sei «irreführend», so der 75-Jährige.
So seien die Ergebnisse psychiatrischer Medikamentenstudien nicht aussagekräftig, und auch psychiatrische Diagnosen und Medikamentenklassennamen seien problematisch. Laut DSM-5, also der 2013 erschienenen fünften Auflage des «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», einem Klassifikationssystem für psychische Störungen, das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird, verursache eine schwere Depression «klinisch signifikante Belastungen oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen». Doch es sei genau «umgekehrt», konstatiert Gøtzsche:
«Menschen werden depressiv, weil sie Schwierigkeiten in ihrem Leben haben, nicht weil sie von einem Depressionsmonster befallen werden, das mit sogenannten Antidepressiva – wie Antibiotika, die Bakterien abtöten – bekämpft werden kann.
Die Patienten möchten ein normales Leistungsniveau haben und ein sinnvolles Leben genießen. Dennoch habe ich keine einzige Placebo-kontrollierte Studie mit Depressionsmedikamenten gesehen, die über derartige Ergebnisse berichtete – mit einer Ausnahme, doch hier wurde unethisch vorgegangen, da die Medikamente bei der Hälfte der Patienten abrupt abgesetzt wurden. Dies wiederum hat ihnen erheblichen Schaden zugefügt, da sie Entzugserscheinungen entwickelten.»
So gehe aus dieser Arbeit hervor, dass die Patienten, die Paroxetin, ein Antidepressivum aus der Gruppe der sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), eingenommen hätten, von einer statistisch signifikanten Verschlechterung ihrer Funktionsfähigkeit bei der Arbeit, ihrer Beziehungen, ihrer sozialen Aktivitäten und ihrer allgemeinen Funktionsfähigkeit berichteten.
Im Übrigen würden die Ergebnisse von Psychopharmakastudien anhand von Bewertungsskalen gemessen, obwohl deren Ergebnisse keine Aussage darüber liefern, ob sich der Zustand der Patienten in für sie relevanter Weise verbessert habe. Tatsächlich würden die Medikamente einfach nicht wirken, nicht einmal bei sehr schweren Depressionen. Doch «das wird den Patienten nicht gesagt», beklagt Gøtzsche. «Wir hören zwar ständig von den enormen Auswirkungen von Psychopharmaka.» Doch derlei Aussagen beruhen auf nichts anderem als «statistischem Hokuspokus». Der Psychologe Irving Kirsch und die Psychiaterin Joanna Moncrieff hätten dies auf exzellente Weise aufgezeigt.
Und dies «gilt für alle Psychopharmaka», wie Gøtzsche betont. Sein Fazit:
«Das psychiatrische Narrativ, das von wirksamen und sicheren Medikamenten spricht, ist irreführend. Wenn wir uns ein Bein brechen, wären wir nicht mit einer Behandlung zufrieden, die den Schmerz so wenig lindert, dass wir den Unterschied zu einem Placebo nicht spüren, solange das Bein noch gebrochen ist. Und ob wir nun ein psychisches oder ein körperliches Problem haben, wir wollen Heilung, was kein Psychopharmakon leisten kann.»
Worauf Gøtzsche hier aufmerksam macht, ist derweil ein Problem, auf das Kritiker der medikamentenfixierten Psychiatrie seit längerem verweisen. Zu ihnen zählt US-Bestsellerautor Robert Whitaker. In einem Interview mit mir aus dem Jahr 2013 konstatiert er, das es Pychopharmaka im Grunde «wirklich ein bisschen wie Hexerei» seien. Was Antidepressiva angeht, so merkt er Folgendes kritisch an:
«Zahlreiche Studien zeigen, dass Antidepressiva kurzfristig besser abschneiden als Placebos. Allerdings wissen wir inzwischen, dass SSRI-Antidepressiva nur bei Patienten, die eine schwere Depression hatten, kurzfristig wirksam waren. Dabei werden dann nicht nur die möglichen Nebenwirkungen übersehen, sondern auch, dass wir hier lediglich über ‹kurzfristige› Wirkungen reden. Und so erweckt die Wissenschaft den Anschein, SSRI-Antidepressiva seien generell wirksam bei Depressionen.»
Und wenn der Medikamenteneffekt nach kurzer Zeit nachlasse, wo Whitaker weiter, dann würden die Patienten oftmals ein neues Präparat oder einen neuen Pillenmix verschrieben bekommen. Einen solchen Mix zu verschreiben – etwa bestehend aus einem Antidepressivum, einem Stimmungsstabilisierer, einem Aufputschmittel plus eventuell noch einem Neuroleptikum –, sei zunehmend gängige Praxis. «Wenn man sich aber anschaut, wie die Medikamentencocktails verschrieben werden, so ist das alles wirklich ein bisschen Hexerei», so die Auffassung von Whitaker.
Viele Psychiater würden dem freilich widersprechen. Sie berufen sich dabei insbesondere auf den erwähnten DSM-5. Seit nunmehr Jahrzehnten liste dieses «Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen» Hunderte von Gemütszuständen auf, die in der Medizin als anerkannte Geisteskrankheiten gelten würden. «Ärzte, Psychiater oder auch Versicherungen bestimmen mithilfe des DSM, was psychisch krank und was noch ‹normal› ist», so Whitaker. «Ich denke aber, auch mit dem DSM-5 wird es keine höhere Diagnosesicherheit geben. Und jeder Leitfaden, der wie der DSM Hunderte von Krankheitsbildern enthält – so viele, dass sich praktisch jede und jeder darin wiederfinden kann –, dürfte kaum von wissenschaftlichem Nutzen sein, um mentale Störungen zu verstehen.» Es sei «alles zu pauschal und verschwommen».
Doch dass dieses Handbuch über die Jahrzehnte mit immer mehr Krankheitsdefinitionen bestückt worden sei, komme den Pharmaunternehmen und der Psychiatrie natürlich zugute. Denn je mehr Krankheitsbilder das DSM enthalte, umso mehr neue Patienten könne sie dazugewinnen. Als Beispiel nennt Whitakter das Krankheitsbild einer Depression unter Jugendlichen, das in den 1980er Jahren noch als sehr selten gegolten habe. In den frühen 1990er-Jahren hätten Pharmaunternehmen aber damit begonnen, nach neuen Märkten Ausschau zu halten – «und plötzlich meinten US-Kinderpsychiater, von denen viele Beraterverträge mit Pharmafirmen hatten, sie hätten entdeckt, dass Kinder und Jugendliche in der Tat depressiv sein können». Whitaker weiter:
«Und so wurde die Depression bei Kindern zu einer ‹echten› Krankheit. Dasselbe geschah mit der bipolaren Störung bei Jugendlichen. Früher ging man davon aus, dass diese bipolare Störung, bei der Menschen sowohl depressive, das heißt extrem niedergeschlagene als auch manische und damit extrem euphorische Phasen erleben, bei Kindern nicht existierte.
Doch als sogenannte atypische Neuroleptika auf den Markt kamen, die die zweite Generation der Neuroleptika darstellen und weniger Nebenwirkungen haben sollen, wurde diese Störung unversehens überall diagnostiziert. Der Boom der bipolaren Störung bei Kindern und Jugendlichen ist letztendlich eine Geschichte des Kommerzes und nicht etwa eine der Medizin.»
Betroffen war davon vor allem die USA. So nahm dort die Zahl der Bipolar-Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung von 1994/95 bis 2002/03 um das 40-Fache zu . Und auch danach (2004 bis 2010) stieg die Zahl der Diagnosen «bei Jugendlichen weiter an», wie es in einer 2022er Studie heißt. Der Anteil der Diagnosen von psychischen Störungen bei Kindern sei in dieser Zeit allerdings wieder im Fallen begriffen gewesen. Dieser Umstand spiegele, wie es in dieser Arbeit heißt, aufkommende «Bedenken hinsichtlich Überdiagnosen und ein zunehmendes Bewusstsein für die Nebenwirkungen der Primärmedikamente zur Behandlung einer bipolaren Störung bei Jugendlichen» wieder.