Es sei möglich, dass der Krieg in der Ukraine sich so lange hinziehe, bis der Westen nicht mehr in der Lage sei, Kiew weiter Waffen zu liefern. Das erklärte der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusse Harald Kujat in einem aktuellen Interview.
Gegenüber der Schweizer Zeitschrift Zeitgeschehen im Fokus benannte er einen anderen möglichen Kriegsverlauf: Der Westen könnte demnach eigene Kampftruppen schicken, um eine endgültige Niederlage der Ukraine zu verhindern. Sollte es nicht dazu kommen, müsse der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Weigerung, mit Russland zu verhandeln, aufgeben. Kujat sieht als vierte Option, dass der eventuell wiedergewählte US-Präsident Donald Trump den Krieg, wie mehrfach angekündigt, beenden könnte.
Der ehemalige Bundeswehr-General warnt erneut vor einer Wiederholung der Entwicklung im Vietnam-Krieg, in dem die USA zunächst Berater, dann Ausbilder und dann Kampftruppen schickten. Das könne im Fall der Ukraine deren Probleme aber nicht lösen: von einer schwachen Luftverteidigung über den Mangel an Waffensystemen und Munition bis hin zum wichtigsten Problem, den zunehmend fehlenden Soldaten infolge großer Verluste.
Die russische Armee würde ihre Übermacht nicht durch eine große Offensive nutzen, so Kujat. Stattdessen gehe es ihr vor allem darum, einen größeren Abstand zwischen der russischen Grenze und den ukrainischen Truppen zu erreichen, um die ukrainischen Angriffe auf russische Orte im Grenzgebiet wie Belgorod zu unterbinden.
Kujat macht in dem Interview darauf aufmerksam, dass die Menschen in der Ukraine endlich Frieden und ein Ende des Krieges wollten. Zudem werde die Lage für die Ukraine immer schlechter, ebenso wie ihre Position für mögliche Verhandlungen für ein Kriegsende.
Der Ex-General weist auch darauf hin, dass zwar immer noch westliche Waffenlieferungen kommen, aber ein Großteil des jüngsten US-Pakets für Kiew von 61 Milliarden Dollar bleibe in den USA, um die eigenen Waffenlager wieder aufzufüllen. Er hält es trotz der anhaltenden westlichen Unterstützung «nicht für möglich, dass die Ukraine die strategische Lage grundsätzlich zu ihren Gunsten wenden kann».
Zudem erinnert er an die wiederholt vom russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgebrachten Vorschläge zu einem baldigen Beginn von Verhandlungen für ein Kriegsende. Die USA hätten Kiew nach der gescheiterten «Gegenoffensive» im vergangenen Jahr geraten, sich auf die Verteidigung des verbliebenen Territoriums zu konzentrieren.
«Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die ukrainischen Streitkräfte kaum noch zu einem offensiven Landkrieg in der Lage sind und es ihnen nicht möglich ist, die territoriale Integrität der Ukraine in den Grenzen von 1991 wieder herzustellen.»
Das bedeute de facto, dass die Gebiete unter russischer Kontrolle aufgegeben werden. Außerdem habe US-Präsident Joseph Biden in einem Interview mit dem Time Magazine vom 4. Juni klargestellt, dass die Ukraine kein Teil der NATO werde. Kujat schlussfolgert daraus:
«Damit hat Biden den Kern der russischen Sicherheitsinteressen anerkannt und die Aussicht auf eine diplomatische Lösung erheblich verbessert. Denn im Prinzip liegen die russische und die amerikanische Position sehr nahe beieinander.»
Die USA hätten immer gesagt, dass die Entscheidung über mögliche Verhandlungen von Selenskyj getroffen werden müsse. Dieser müsste eine realistische Verhandlungsposition haben und zu Verhandlungen bereit sein, so der ehemalige Bundeswehr-General. Es gebe zudem Informationen, dass Trump bei einem Wahlsieg die Ukraine zu Verhandlungen zwingen wolle.
Russlands Präsident wolle wie sein US-amerikanischer Amtskollege eine direkte Konfrontation zwischen beiden Großmächten vermeiden, schätzt Kujat ein. Deshalb habe Putin auf die westliche Erlaubnis an Kiew, mit westlichen Waffen Russland anzugreifen, nur indirekt geantwortet, indem er ankündigte, russische Waffen in der Nähe von NATO-Staaten zu stationieren. Mit Blick auf den Eskalationskurs der westlichen Politik sagt er:
«Ehrlich gesagt macht mich die Tatsache, dass eskaliert wird, ohne die Folgen zu bedenken oder diese sogar in Kauf zu nehmen, ratlos.»
Es werde weiterhin die Strategie verfolgt, Russland als engen Verbündeten Chinas politisch, militärisch und wirtschaftlich zu schwächen. Diesem Ziel werde das Schicksal der Ukraine untergeordnet. Der Westen habe von Anfang an keine erfolgversprechende Strategie gehabt, «in deren Mittelpunkt das Schicksal der Ukraine stand».
Zugleich sei klar, dass die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen werde. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spreche zwar immer wieder von fortgesetzter Unterstützung für Kiew, aber der Konsens im Bündnis für eine Mitgliedschaft sei nicht gegeben.
«Stoltenberg muss sich bewusst sein, dass sein Konfrontationskurs für das Bündnis zu einer Zerreißprobe werden könnte.»
Die EU sei «in der neuen Weltordnung der rivalisierenden großen Mächte ins Hintertreffen geraten (...) – politisch, wirtschaftlich und militärisch», stellt Kujat fest. Das zeige sich daran, dass die EU-Staaten nicht in der Lage seien, «auf der Grundlage einer fundierten strategischen Lagebeurteilung eine eigene sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit zu entwickeln».
Die «mangelnde strategische und sicherheitspolitische Kompetenz Europas» habe dazu beigetragen, dass dem Westen unter der Führung der USA «eine Reihe von Fehleinschätzungen» unterlaufen sei. Dazu gehöre die Annahme, Russland könne durch Sanktionen zur Einstellung des Angriffs gezwungen werden, ohne dass für die europäischen Staaten negative wirtschaftliche Auswirkungen entstünden: «Das Gegenteil ist der Fall.»
Der frühere oberste NATO-Militär bewertet die jüngste Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán als Suche nach einem Weg aus der Sackgasse, «in die sich die Europäer durch ihr unrealistisches und strategieloses Agieren manövriert haben».
«Anstatt sein Bemühen um europäische Handlungsfähigkeit zu unterstützen, wurde Orban von den Brüsseler Beamten auf die übliche bürokratische Weise kritisiert, er habe kein Mandat gehabt, beziehungsweise seine Gespräche seien nicht abgestimmt gewesen.»
Kujat weist daraufhin, dass die Interessen der USA und der Ukraine inzwischen auseinanderdrifteten. Auch die US- und die EU-Positionen zum Ukraine-Krieg seien in der NATO «nicht mehr völlig deckungsgleich». Er rät der EU, «eine Rückfallposition für den Fall zu entwickeln, dass im November ein neuer amerikanischer Präsident gewählt wird».
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