Die Lyrik genießt heute nicht mehr die Bedeutung, die sie mal hatte. Konnten frühere Generationen aus dem Stegreif Gedichte von Goethe, Schiller oder Heine rezitieren, können die heutigen Zeitgenossen mit dieser literarischen Gattung nur wenig anfangen. Die Sprache verkümmert zusehends, auch wegen der zunehmenden Kommunikation über Messenger.
An die Stelle des gewählten Ausdrucks tritt der gehetzte Telegrammstil. Der kreative Umgang mit Sprache schwindet. Der Berliner Moderator Oliver Schindler will ihn wieder kultivieren, mit einem Format, das an die literarische Tradition Deutschlands anknüpft.
Seit über drei Jahren betreibt er das Radio Berliner Morgenröte, einen Online-Sender, der überwiegend Interviews ausstrahlt. Schindler spricht mit Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsbereichen und behandelt brisante Themen der Zeit – oder solche, die er dafür hält. Dazu gehöre auch die deutsche Sprache, erklärt der Moderator.
Fund in der Privatbibliothek
Die Idee zum neuen Format ist ein Produkt der gegenwärtigen soziokulturellen Bedingungen. Weil immer häufiger gegendert und alles Deutsche verschrien wird, fühlte er sich veranlasst, sich intensiver mit der deutschen Sprache zu beschäftigen. Er wollte in die Lyrik eintauchen, um sich wieder an ihrer Schönheit zu erfreuen und das eine oder andere Wort zu entdecken, das in der heutigen Kommunikation kaum noch Gebrauch findet.
Als er in der Privatbibliothek seiner Mutter stöberte, stieß er auf ein glänzendes Werk, das ihn schon äußerlich begeisterte. «Es war in Blattgold eingebunden und spiegelte schon allein aufgrund dieser Aufmachung den Wert des Inhalts wider», erinnert sich Schindler. So entstand die Idee zu seinem neuen Format – und der Titel: «Das goldene Buch».
In der Sendung führt der Moderator ein ungezwungenes Zwiegespräch mit wechselnden Gästen aus den Bereichen Kultur und Bildung. Meistens handelt es sich um Autoren, Synchronsprecher, Schauspieler oder Lehrer. Jedes Mal wird ein Buch aufgeschlagen und darüber diskutiert, was die Gesprächspartner darin finden, jedoch nicht wissenschaftlich, sondern assoziativ. Der kreative Umgang mit der Sprache wird quasi situativ geübt, mit Gedankenspielen, Formulierungsansätzen und Deutungen. Das vorgefundene Kleinod wird bestaunt, geknetet und umgewandelt.
Musik zwischendurch
55 Minuten dauert so eine Sendung. Das Zwiegespräch bildet jedoch nur den Rahmen. Zwischendurch gibt es immer wieder Musik, unter anderem die Lieder und Instrumentalstücke des Duos «Herzgetöne». Der Pianist Arne Schmitt hingegen hat die Klaviereinspielungen an Anfang und Ende der Sendung beigesteuert. Diese Einlagen sollen die Sendung auflockern und den Zuhörern ein bisschen Abwechslung bieten, erklärt Schindler.
Ein weiteres integratives Element sind die Gedichte des Rechtsanwalts Christian Moser. Vorgelesen werden sie jedes Mal von der Schauspielerin und Synchronsprecherin Nadja Reichardt. Danach folgt eine Sequenz, in der der Urheber erläutert, was er darin ausdrücken wollte.
In der Auftaktsendung wurde ein Gedicht präsentiert, in dem Moser sein Dasein als Rechtsanwalt reflektiert und vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Verhältnisse elegisch die Erkenntnis präsentiert, dass er sich mit seiner Berufswahl von seinem wahren Naturell entfernt hat:
Ich wollt’ nie Anwalt werden,
ich hab das nie gewollt.
Ich hätte hier auf Erden
was anderes gesollt.
Ich wollt’ auf grünen Fluren
unter dem Himmel geh’n
und auf der Väter Spuren
frei in die Zukunft seh’n.
Nun hab ich wider Willen,
was rechtens ist, gelernt,
das, was man jetzt im Stillen
aus uns’rem Staat entfernt.
Was soll ich hier noch richten,
was keiner hören will?
Da geh ich lieber dichten,
so schweig’ ich doch nicht still.
Die Idee zu diesem Gedicht sei ihm gekommen, als er mal mit Freunden musiziert und dabei über den gegenwärtigen Zustand der Justiz nachgedacht habe, erklärt Moser. «Läuft das alles noch mit rechten Dingen zu, macht es noch Sinn, was ich gelernt habe?» Das waren die Fragen, die ihm damals durch den Kopf gingen. In dieser Situation floss ihm das Gedicht aus der Feder, recht spontan und flott, wie er sich erinnert. Der Inhalt jedoch sei alles andere als spontan, sondern thematisiere einen Konflikt, der ihn schon sein ganzes Leben beschäftige.
Von Schiller bis Wilhelm Busch
Nadja Reichardt, die Mosers Gedichte vorträgt, war in der ersten Sendung zugleich Schindlers Gesprächspartnerin. Dem Konzept nach lädt der Moderator seine Sendungsgäste nicht ein, sondern kommt zu ihnen nach Hause. Reichardt, die schon für die US-Serie «Friends» Jennifer Aniston ihre Stimme geliehen hatte, schlug unter anderem ein Buch zu mittelterlichen Wendungen auf und las Schillers «Bürgschaft» vor.
Schindler sekundierte und gab hin und wieder ebenfalls ein paar Zeilen zum Besten, unter anderem ein Gedicht von Wilhelm Busch. Auf dieser Grundlage entstand ein Gespräch über ungewöhnliche Formulierungen, alte Wörter und sprachlich erzeugte Bilder. Den Mehrwert einer solchen Auseinandersetzung, beschreibt Schindler so: «Die Schönheit der Sprache, ihre Wendungen und Besonderheiten, all das befruchtet die Seele und formt diejenigen, die sich mit ihr beschäftigen.»
Mit «Das goldene Buch» möchte er Impulse setzen, ohne dass es dogmatisch wirkt. «Die Zuhörer sollen dazu inspiriert werden, das auszuprobieren, was die Gesprächspartner in der Sendung durchexerzieren», sagt er. «Vielleicht finden sie Gefallen an alten Wörtern, gründen Debattierclubs oder Lyrik-Zirkel.»
Ausgestrahlt werden die Sendungen im monatlichen Rhythmus. Zunächst sind acht Folgen geplant. Anfang Juli erscheint die zweite, mit Claudia Jakobshagen als Gesprächspartnerin, einer Schauspielerin und Synchronsprecherin, die jahrelang für Fernsehen und Radio gearbeitet hat. Wer sich die Sendungen anhören möchte, muss einen Mindestbetrag von 2,50 Euro zahlen. Angesichts der sprachlichen Schönheit, die als Gegenleistung geboten wird, sei das ein fairer Preis, sagt Schindler und verspricht eine erkenntnisreiche Reise durch die deutsche Literatur.
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