Könnte leichte elektrische Stimulation des Gehirns künftig Schülern helfen, Lernschwierigkeiten zu überwinden? Eine neue Studie, veröffentlicht in der US-amerikanischen Fachzeitschrift PLOS, geht genau dieser Frage nach – und liefert vielversprechende Ergebnisse. Wissenschaftler rund um den Neurobiologen Roy Cohen Kadosh von der University of Surrey experimentierten mit sogenannter transkranieller Rauschstimulation (tRNS), einer nicht-invasiven Methode, bei der über am Schädel angebrachte Elektroden ein schwaches Wechselstromsignal abgegeben wird.
In der Arbeit wurden über 70 Studierende untersucht, deren mathematische Leistungen vorab bewertet worden waren. Besonders spannend: Während sehr gute Schüler keine Veränderung zeigten, verbesserten sich die Leistungen derjenigen mit durchschnittlichem oder unterdurchschnittlichem Niveau um bis zu 29 Prozent.
«Wenn wir dem Gehirn helfen, sein volles Potenzial zu entfalten, können sich ganz neue Bildungswege eröffnen», so Kadosh.
Laut der Studie könnte tRNS künftig nicht nur beim Mathematiklernen helfen, sondern auch in anderen Bereichen wie dem Spracherwerb. Derzeit plant das Forschungsteam weitere Tests und arbeitet an einer tragbaren Version der Technik zur breiteren Anwendung. Angesichts alarmierender Daten – laut einer OECD-Studie von 2016 verstehen 25 Prozent der Erwachsenen in Industrieländern Mathematik auf dem Niveau eines Grundschülers – könnte das ein entscheidender Schritt sein, um Bildungschancen gerechter zu verteilen.
Doch nicht alle Ergebnisse sprechen für tRNS: In einem randomisierten, kontrollierten Experiment zur Arbeitsgedächtnis-Förderung zeigte tRNS über zehn Sitzungen keinen Vorteil gegenüber Placebo – sowohl hinsichtlich der Lernrate als auch der Transferleistungen
Zudem bleibt die methodische Herausforderung der Effekt- oder Placebo-Blindung bestehen. So berichten Studien, dass Teilnehmer oftmals Hautreizungen durch Stromabgabe spüren – ein Hinweis darauf, dass sie zwischen realer und Schein-Stimulation unterscheiden könnten, was die Validität der Effekte gefährden kann.
Schließlich ist unklar, welcher Wirkmechanismus hinter möglichen Verbesserungen steckt. Manche Forschende vermuten, tRNS erhöhe schlicht das Signal-Rausch-Verhältnis im Gehirn statt echte Neuroplastizität zu fördern. Daraus folgt: Die Langzeitwirksamkeit und Nachhaltigkeit vor allem kindlicher oder schulischer Lerngewinne bleibt offen.
Diese Punkte zeigen, dass tRNS zwar Potenzial birgt – die Evidenz aber bisher nicht eindeutig ist und weiterführende Studien erforderlich sind, bevor eine praktikable Anwendung im Klassenzimmer empfohlen werden kann.
Und nicht zuletzt geht es, wie bei jeder neuen Therapie, auch um die grundsätzliche Frage der Wünschbarkeit. Die Vorstellung, alle Kinder und Jugendlichen mithilfe von Medikamenten wie Ritalin oder durch Hirnstimulation zu maximaler Leistungsfähigkeit zu bringen, folgt einem fragwürdigen Ideal. Stattdessen wäre ein Ansatz sinnvoll, der die individuellen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten jedes Kindes respektiert und fördert. Auch werden bei diesem Vorgehen die Ursachen für Lernschwierigkeiten ignoriert. Soziale, emotionale oder pädagogische Faktoren bleiben beispielsweise außen vor.