Vor fast genau 80 Jahren, am 26. Juni 1945, wurde die Charta der Vereinten Nationen, der UNO, verabschiedet. Die UNO-Charta hat eine Hauptbotschaft: «Nie wieder Krieg!» Sie wurde damals als Gründungstext der Vereinten Nationen auf einer Konferenz in San Francisco von 50 Staaten unterschrieben und trat am 24. Oktober als wichtigstes Dokument des Völkerrechts in Kraft.
Noch immer ist sie gültig, aber sie scheint in den 80 Jahren öfter ignoriert worden zu sein, als dass sich die Staaten an ihre Vorgaben hielten. Und immer weniger Menschen wissen, um was es dabei eigentlich geht, wenn in den Nachrichten im Zusammenhang mit Konflikten und Kriegen gemeldet wird, dass ein weiteres Mal gegen die UNO-Charta verstoßen werde.
Fakt bleibt: Kein Staat und keine Staatengruppe hat die UNO-Charta seit ihrer Verabschiedung vor 80 Jahren so oft verletzt wie die USA und die mit ihnen verbündeten westlichen Staaten. Davon künden die zahlreichen Kriege und Interventionen, die verdeckten Operationen und bezahlten Putsche etwa in Lateinamerika und Vietnam, beim Krieg gegen den Irak und bei der Zerstörung Libyens und Syriens sowie bei den jüngsten Angriffen auf den Iran.
Darauf machte am Montag in Berlin Michael von der Schulenburg aufmerksam, der für das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) als parteiloser Abgeordneter im EU-Parlament sitzt. Zuvor war er bei den Vereinten Nationen im Rang eines UN Assistant Secretary-General tätig. Mehr als 34 Jahre arbeitete von der Schulenburg in Friedens- und Entwicklungsmissionen der Vereinten Nationen und der OSZE in vielen Ländern, die durch Kriege und Konflikte mit bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren oder durch ausländische Militärinterventionen geschwächt und zerrissen waren.
Seit 1992 war er in leitender Funktion dieser Friedensmissionen tätig. Dazu gehörten langfristige Einsätze in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, in Somalia, auf dem Balkan, in der Sahelzone und in Zentralasien. Er weiß also, von was er spricht.
Radikales Dokument
Von der Schulenburg sprach in Berlin auf einer BSW-Veranstaltung neben der ehemaligen Bundestagsabgeordneten und heutigen BSW-Außenpolitikerin Sevim Dagdelen sowie dem Friedensaktivisten Reiner Braun. Anlass waren die Verabschiedung der UNO-Charta vor 80 Jahren und die heutigen Kriege und Kriegsgefahren.
Der ehemalige UNO-Diplomat stellte klar, es gebe keine «regelbasierte Ordnung», wie immer erklärt werde, sondern «nur ein internationales Recht, das auf der UNO-Charta beruht, und das muss auch so bleiben». Das vor 80 Jahren verabschiedete Dokument sei eine «Geburt des Krieges» gewesen und erinnere an die beiden Weltkriege mit etwa 80 Millionen Toten innerhalb von 30 Jahren.
Nach dieser «unglaublichen Tragödie» sei in San Francisco die UNO-Charta entstanden, geschrieben von einigen wenigen Menschen, hauptsächlich Männern. «Und wenn man sich das Dokument heute ansieht – wir wären heute gar nicht in der Lage, das zu schreiben», fügte der erfahrene Konfliktlöser und Friedensdiplomat hinzu.
«Das war ein sehr radikales Dokument, das unter dem Eindruck dieser 30 Jahre Krieg geschrieben worden ist. Dieses Dokument kann man zusammenfassen mit ‹Nie wieder Krieg!›. Man wollte keinen Krieg mehr. Man hatte sich hingesetzt und gefragt: Wie können wir verhindern, dass es jemals wieder zu einem Krieg kommt.»
Artikel 51 mit dem Recht auf Selbstverteidigung sei erst später hinzugekommen, sagte von der Schulenburg. Und er erklärte:
«Der Kerngedanke der UNO-Charta ist das Wort, zu reden, zu verhandeln, zu vermitteln, Schiedsgerichte anzusprechen. Es ist im Grunde genommen die Bedeutung des Wortes zwischen den Menschen, um zu sagen: Wir müssen miteinander reden, um das zu verhindern. Das ist das Wichtigste.»
Der BSW-Parlamentarier ging auf die Fälle Ukraine-Krieg und Israels Vernichtungskrieg in Palästina sowie den Angriff auf den Iran ein, bei denen gefragt werde, wie Schutz vor einem völkerrechtswidrigen Angriff möglich sei. Er sieht in diesen aktuellen Fällen einen Völkerrechtsverstoß, machte aber im Laufe der Veranstaltung den Unterschied deutlich, dass Russland zumindest bereit sei, zu verhandeln, und das schon frühzeitig, nämlich im Frühjahr 2022, gezeigt habe.
Die Pflicht, zu verhandeln, um Konflikte zu lösen, gehöre zu den Verpflichtungen der Staaten, die die UNO-Charta ratifiziert haben. Dennoch habe der Westen keinerlei entsprechende Initiativen im Ukraine-Krieg gezeigt, um diesen zu beenden, sondern bewirke mit den Waffenlieferungen das Gegenteil. Das zeige sich ebenso im Nahen Osten.
Unerfüllte Vorgaben
Keines der Länder, die 1945 die UNO-Charta unterschrieben haben, hätte deren Vorgaben danach erfüllt, erinnerte von der Schulenburg vor etwa 400 Zuhörern im Willy-Brandt-Saal des Rathauses von Berlin-Schöneberg. Dennoch habe es sich vor 80 Jahren um eine «Revolution» gehandelt, als erklärt wurde, dass alle Menschen gleich seien – und das sei zu einem Zeitpunkt passiert, als beispielsweise die USA noch ein Apartheidstaat waren. Das wäre schon kurze Zeit später nicht mehr möglich gewesen.
«Und deshalb sollten wir das bewahren, weil es eine Sternstunde der Menschheit ist, dass wir so ein Dokument haben.»
Doch nur wenige Wochen nach der Konferenz in San Francisco, auf der der Versuch unternommen worden sei, mit der UNO-Charta endgültig Kriege zu verhindern, indem miteinander geredet wird, seien auf Hiroshima und Nagasaki die beiden US-Atombomben geworfen worden.
«Die Atombombe bedeutet natürlich etwas völlig anderes. In der Atombombe gehen wir davon aus, dass der Mensch schlecht ist, dass er eine Gefahr ist, dass wir uns bewaffnen müssen, dass wir stärker sein müssen als die anderen. Wir müssen eine Überbewaffnung haben, um überhaupt Frieden zu haben.»
Die Idee, dass Frieden nur durch Waffen und gegenseitige Abschreckung geschaffen werden könne, folge einer «unglaublich zerstörerischen Logik», stellte von der Schulenburg klar. Dem Frieden durch Reden stehe die vermeintliche Sicherheit durch eine Überbewaffnung mit Atomwaffen gegenüber.
Es habe Versuche gegeben, eine Brücke zwischen beiden Positionen zu bauen: durch die Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen, vor allem zwischen der Sowjetunion/Russland und den USA. Doch diese und der von ihr geführte Westen hätten diese Brücke inzwischen alle wieder abgebrochen, seien aus den Abkommen ausgetreten oder hätten sie erst gar nicht ratifiziert.
Enorme Gefahr
Was vor allem den sogenannten Kalten Krieg bis 1989/90 prägte, setzt sich aus seiner Sicht heute wieder durch. Davon würden die aktuellen NATO-Beschlüsse künden. Die vereinbarte Erhöhung der Rüstungshaushalte der NATO-Staaten auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) würde bedeuten, dass sich die Militärausgaben der NATO de facto verdoppeln.
Bereits heute beträgt der Anteil der NATO an den weltweiten Militärausgaben 55 Prozent. Damit gibt die NATO mehr für Rüstung und Militär aus als alle anderen Staaten. Dabei würden die NATO-Staaten nur zehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, erinnerte von der Schulenburg.
«Das heißt also, hier nehmen sich zehn Prozent der Weltbevölkerung, hauptsächlich weiße Leute, das Recht heraus, zu sagen: Wir müssen so stark übermäßig Waffen produzieren, dass wir die anderen im Grunde genommen klein halten.»
Das solle jetzt sogar noch verdoppelt werden, was angesichts der Folgen nicht akzeptabel sei, wie der ehemalige UNO-Diplomat betonte. Zur Frage nach den Gründen dafür verwies er auf eine Aussage der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas kürzlich im EU-Parlament. Sie habe erklärt, dass der Westen mehr Geld für Waffen ausgeben müsse, da Russland aufrüste, weil es Krieg führen wolle:
«Man gibt nicht so viel für das Militär aus, wenn man nicht plant, es einzusetzen.»
Ihr sei anscheinend nicht klar, «dass wir aufrüsten», so von der Schulenburg, der hinzufügte:
«Bedeutet das auch, dass wir Krieg haben wollen?»
Er kritisierte, dass die bundesdeutsche Politik nur noch in der «Kriegssprache» rede. Wenn Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) verkünde, Deutschland müsse die größte Armee Europas haben, dann sei das eine «alte Sprache». Wenn Außenminister Johann Wadephul erkläre, «Russland wird immer ein Feind und eine Gefahr für unsere europäische Sicherheit sein», dann handele es sich um die Sprache des Krieges.
Auch die Reden von der «Drecksarbeit» und den «Schurkenstaaten» seien eine «unglaubliche Sprache, die wir führen». Von der Schulenburg stellte klar:
«Das ist die Logik und die Sprache des Krieges, kurz davor, dass wir wirklich Krieg führen.»
Diese Entwicklung beeindrucke ihn, sagte er als «jemand, der so viele Kriege gesehen hat». Kriege hätten nie etwas Heldenhaftes, «das ist nichts, das wir haben wollen», was auch in der Ukraine zu sehen sei. Zudem seien Kriege unberechenbar und hätten immer ganz andere Ergebnisse gebracht, als vorher erhofft worden sei.
Aktuelles Dokument
Der ehemalige UNO-Diplomat und heutige BSW-Abgeordnete setzt trotz allem darauf, dass die UNO-Charta auch nach 80 Jahren voller Verstöße gegen sie das Mittel sein kann, um der Welt mehr Frieden zu bringen. Das begründete er mit vier Aspekten, die das Dokument auch heute noch bedeutsam und gültig machten.
Dabei verwies er zuerst darauf, dass die modernen Waffensysteme so komplex und schnell geworden seien, dass Menschen sie nur noch mit Hilfe der sogenannten Künstlichen Intelligenz bedienen könnten. Das mache sie zunehmend unberechenbarer und Reaktionen auf ihren Einsatz zunehmend unmöglich.
«Das können wir dann im Grunde genommen nicht mehr selber beherrschen, weil es im Grunde genommen alles eine Entscheidung von Sekunden ist», stellte er klar. Die Menschheit habe sich durch die Waffenentwicklung seit der Atombombe in eine Situation hineinmanövriert, in der es keinen Schutz mehr für irgendjemanden gebe. Die Logik, mit immer mehr Waffen Schutz und Sicherheit zu erreichen, sei am Ende.
Der zweite Aspekt, der für die UNO-Charta spricht, ist laut von der Schulenburg, dass es nur im Westen Europas eine solche Kriegshetze wie gegen Russland gebe. Er warnte davor, dass es sich um eine selbsterfüllende Prophezeiung handeln könne, während im Rest der Welt und selbst in den USA niemand von einem drohenden russischen Angriff spreche. Die Rede von der drohenden russischen Gefahr sei «unverantwortlich», betonte er und fragte:
«Warum sind wir so verrückt nach Krieg?“
Wenn sich die EU und Deutschland wie die BRICS-Staaten für die UNO-Charta und ihr Friedensgebot einsetzen würden, hätten sie die Mehrheit der Welt auf ihrer Seite. Ein weiterer Aspekt ist für ihn, dass Kriege sich nie bezahlt gemacht hätten. Von der Schulenburg verwies auf eine Studie des US-Kongresses, der zufolge allein die USA von 1991 bis 2022 251 Mal offen militärisch interveniert oder Krieg geführt haben.
Die Stellvertreterkriege und Waffenlieferungen würden dabei nicht einmal mitgezählt. Die davon betroffenen Länder würden das nicht mehr wollen und sich deshalb in Richtung Russland und China orientieren.
«Das Entscheidende ist, dass ich kein einziges Land wüsste, wo das stattgefunden hat, wo am Ende Demokratie rausgekommen ist, Rechtsstaatlichkeit oder ein stärkstes Wirtschaftswachstum. Kein einziges. Das heißt also, diese enormen Ausgaben für Militär haben nur Chaos, Anarchie und Unglück gebracht und viele Tote.»
Auch der US-geführte «Krieg gegen den Terror» seit 2001 habe Untersuchungen zufolge 4,5 Millionen Tote verursacht und dazu weltweit für 38 Millionen Flüchtlinge gesorgt, erinnerte der frühere UNO-Diplomat. Kein anderes Land, keine der bekämpften Terrororganisationen sei für «so viele Tote in so kurzer Zeit verantwortlich». «Das sind wir», fügte er hinzu und ergänzte:
«Und wir denken immer noch selbstgerecht, dass wir das für das Gute der Welt tun. Das tun wir nicht!»
Die westlichen Medien würden falsch informieren, indem sie ständig behaupten «Wir sind die Guten, wir tun da was Gutes, wir befreien die Leute.» Doch sie würden nicht befreit:
«Wir bringen sie um und danach lassen wir sie dann fallen, genauso wie wir jetzt die Ukraine fallen lassen.»
Großes Potenzial
Als viertes Argument für die Aktualität der UNO-Charta nannte er die Menschlichkeit, weil doch alle Menschen seien, egal, wo sie leben. Wenn jemand sage, nur mit Reden lasse sich nichts durchsetzen, gibt von der Schulenburg nach eigener Aussage zu bedenken: «Wir können bald nichts mehr durchsetzen, weil die Waffen so gefährlich geworden sind. Also müssen wir doch wieder zum Reden kommen.»
Die Entscheidung, ob der Weg der Atombombe weitergegangen wird oder der Weg, friedlich miteinander auszukommen, die könnten alle Menschen treffen. Deshalb sei die UNO-Charta so wichtig, denn sie sage nicht nur «Nie wieder Krieg!», sondern entwickle auch ein Bild, «wie wir miteinander friedlich leben sollten». Deshalb gebe es keinen anderen Weg als zurück zur UNO-Charta, hinter der ganz viele Menschen stünden, da 193 Staaten das Dokument unterzeichnet haben.
«Also in allen diesen Ländern ist es eigentlich Gesetz, auch in Deutschland. Wir werden uns vielleicht daran nicht halten, aber die anderen werden sich doch daran halten. Die Brasilianer, die Afrikaner, die Asiaten, das sind doch ganz viele Menschen und Potenzial. Das sind unsere Brüder und Schwestern, wenn wir für Frieden sind.»
Der internationale Austausch für Frieden müsse mehr ausgebaut werden, wünschte sich von der Schulenburg und betonte zum Schluss:
«Wir haben eine gemeinsame Sprache, wir haben ein gemeinsames Dokument dafür, das uns zusammenbringen kann, und das ist die UNO-Charta.»