Das Ausmaß des auf ukrainischem Territorium ausgetragenen Konflikts zwischen dem US-geführten Westen und Russland hat «alle ursprünglichen Erwartungen übertroffen». Um die Konfrontation zu beenden, müssten nach Äußerungen Moskaus die Grundsätze, auf denen die europäische Sicherheit beruht, grundlegend überdacht werden.
Das schreibt der russische Politikwissenschaftler Fjodor Lukjanow in einem Gastbeitrag in der aktuellen Ausgabe der Schweizer Zeitung Die Weltwoche. Er ist Chefredakteur der russischen Zeitschrift Russia in Global Affairs.
Lukjanow erinnert daran, dass vor 30 Jahren, am historisch bedeutsamen 22. Juni im Jahr 1994, der damalige russische Außenminister Andrej Kosyrew in Brüssel das NATO-Programm «Partnerschaft für den Frieden» unterzeichnete. Damit hätten die offiziellen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und dem von den USA geführten Block begonnen. Die Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Russland und der NATO sei «recht intensiv und interessant» gewesen.
Der russische Politologe schreibt von einer «merkwürdigen Mischung aus guten Absichten, politischer Heuchelei und gegenseitigen Missverständnissen, die manchmal ganz natürlich, manchmal aber auch absichtlich entstanden».
Aus seiner Sicht gab es «nie eine reelle Chance, eine echte Partnerschaft zwischen Russland und der NATO aufzubauen, auch wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt gewisse Illusionen in dieser Hinsicht gab». Russland habe die Idee, Länder über das Programm «Partnerschaft für den Frieden» an die NATO auch mit Blick auf die Erweiterung zu binden, zwar abgelehnt, sei aber nicht konsequent gewesen.
«Kosyrew warnte vor den Folgen der Erweiterung, erklärte jedoch wiederholt, dass die NATO nicht der Feind Russlands sei. Der russische Präsident Boris Jelzin riet den westlichen Staats- und Regierungschefs davon ab, den Block zu erweitern, erklärte aber gleichzeitig dem polnischen Präsidenten Lech Walesa, dass Moskau nicht gegen einen Beitritt Warschaus sei.»
Lukjanow sieht die derzeit in Russland vorherrschende Ansicht als zu einfach an, der US-geführte Westen habe nach der Auflösung der UdSSR einen Kurs der militärischen und politischen Übernahme der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre eingeschlagen – mit der NATO als Hauptinstrument. Der «leichte und unerwartete Erfolg» im Kalten Krieg habe im Westen zu einem «Gefühl eines bedingungslosen Sieges» geführt, politisch, wirtschaftlich, vor allem aber moralisch.
«Der Westen war der Meinung, dass er als Sieger das Recht hatte, die Struktur Europas zu bestimmen, und er wusste genau, wie er es anstellen musste. Dies war nicht nur ein Ausdruck bewusster Arroganz, sondern vielmehr von freudiger Euphorie. Es schien, dass es von nun an immer so sein würde.»
Die NATO in erweiterter Form sei als Garant für die Sicherheit Europas angesehen worden. Der erste Schritt dazu sei gewesen: Die Beteiligten bei den 2+4-Verhandlungen 1990 seien sich darüber einig gewesen, dass das größere Deutschland in der NATO verbleiben würde.
Zu dem oft vorgebrachten Argument, jedes Land habe das Recht, selbst zu entscheiden, ob und welchem Bündnis es beitreten wolle, meint Lukjanow: Dies werde durch das geopolitische Kräfteverhältnis beschränkt. Das habe die Bündnisse gezwungen, die Reaktion von Nichtmitgliedsländern zu berücksichtigen.
Nach 1990 habe der westliche «Triumphalismus» die entsprechende Bereitschaft, Rücksicht zu nehmen, «erheblich verringert». Die NATO habe das Gefühl gehabt, «sie könne alles tun, ohne dass eine Reaktion erfolgen würde».
Die immer wieder diskutierte Möglichkeit einer russischen Mitgliedschaft in der NATO ist aus Sicht des Politologen von Beginn an unmöglich gewesen. Der Grund: Russland sei selbst in seiner schwächsten Phase eine der größten Militärmächte der Welt geblieben und habe über das größte Atomwaffenarsenal verfügt.
Einen so starken potenziellen Partner innerhalb der NATO hätte deren Führungsmacht USA nicht geduldet, da dieser «nicht auf demselben Niveau gehorcht hätte wie andere Verbündete». Stattdessen habe die erfolgte NATO-Erweiterung Russland immer weiter in den Osten gedrängt.
«Moskaus Versuche, diesen Prozess zu regulieren – zunächst durch die Beteiligung an gemeinsamen Institutionen (wie dem NATO-Russland-Rat von 2002, der eine Erweiterung der NATO-Russland-Grundakte von 1997 darstellte) und dann durch zunehmenden Widerstand (beginnend mit Putins Münchner Rede 2007) –, brachten nicht die gewünschten Ergebnisse.»
Der US-geführte Westen habe Moskau das Recht abgesprochen, Bedingungen zu stellen. Es sollte sich dagegen «nur an die von der stärkeren und erfolgreicheren westlichen Gemeinschaft aufgestellten Regeln halten».
Lukjanow meint zum westlichen Argument, die russische Sicht auf die NATO als Bedrohung habe zum Krieg geführt: Der Westen sei darauf vorbereitet gewesen. Dies zeige «die Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der die NATO zu einer starken Konfrontation mit Russland zurückkehrte».
Das russische Memorandum vom Dezember 2021 und die Militäroperation in der Ukraine im Jahr 2022 hätten sich gegen die bis dahin unangefochtene Expansion der NATO gewandt. Für den russischen Experten handelt es sich dabei nicht um einen Territorialkonflikt, sondern um einen Konflikt, «der nur dann beendet werden kann, wenn die NATO ihr Hauptziel und ihre Funktion aufgibt». Bislang sei kein Kompromiss in Sicht:
«Die westliche Seite ist nicht bereit, zu akzeptieren, dass die Ergebnisse des Kalten Krieges überdacht werden müssen, und die russische Seite ist nicht bereit, sich ohne diese Zusicherung zurückzuziehen.»
30 Jahre nach Kosyrews Unterschrift unter der «Partnerschaft für den Frieden» gebe es beides immer noch nicht: Partnerschaft und Frieden zwischen Russland und der NATO. Es fehle auch ein klares Verständnis für die Ursachen dafür.
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