Mit insgesamt 3,6 Millionen Soldaten, 3‘500 Panzern und 2‘700 Flugzeugen überfiel die faschistische deutsche Wehrmacht gemeinsam mit verbündeten Truppen aus Rumänien, Finnland, Ungarn und der Slowakei am 22. Juni 1941 die Sowjetunion. Der vor 83 Jahren als «Unternehmen Barbarossa» begonnene deutsche Raub- und Vernichtungskrieg sollte nach Vorstellungen der Wehrmachtsgeneräle nur wenige Wochen dauern. Daraus wurde nichts: Er forderte bis zu seinem offiziellen Ende am 8. Mai 1945 allein auf sowjetischer Seite etwa 27 Millionen Tote.
«Der deutsche Angriff erfolgt, ohne dass zuvor politische und/oder ökonomische Forderungen an die Sowjetunion gestellt worden wären», schrieb der Historiker Erich Später 2015 in seinem Buch «Der dritte Weltkrieg – Die Ostfront 1941 – 1945».
Der Autor wies darauf hin, dass die faschistischen Pläne, die Sowjetunion zu unterwerfen und zu zerschlagen, «auf einem breiten Konsens innerhalb der herrschenden deutschen Eliten» beruhten. Die deutschen Machteliten in Wirtschaft, Verwaltung und Militär hätten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik nicht aufgehört, «über eine erneute Offensive nachzudenken».
Das Gebiet der Sowjetunion sei wegen seiner Rohstoffe und Absatzmärkte sowie billigen Arbeitskräfte zum Ziel der deutschen Expansion geworden. Dabei sei es um eine «autarke Großraumwirtschaft» statt einer stärkeren internationalen Verflechtung gegangen.
«Mit dem Vormarsch der Deutschen Wehrmacht und SS in der Sowjetunion realisiert sich im gesamten deutschen Machtbereich das radikalste Programm zur vollständigen Vernichtung eines Teils der Menschheit, das jemals erdacht und geplant wurde.»
Allgemein gilt, dass der 2. Weltkrieg am 1. September 1939 begann, als das Großdeutsche Reich Polen überfiel und das Land gemeinsam mit der Sowjetunion aufteilte. Meist wird die Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages weggelassen: Zuvor hatte Moskau lange Zeit versucht, gemeinsam mit den westlichen Staaten eine kollektive Sicherheitspolitik gegenüber dem faschistischen Deutschland zu gestalten.
Letzter Ausweg
Das sei spätestens mit dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 gescheitert, wie unter anderem Historikerin Bianka Pietrow-Ennker in dem 2000 veröffentlichten Sammelband «Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion» feststellte.
«Wir waren das letzte europäische Land, das einen Nichtangriffspakt mit Deutschland geschlossen hat», erklärte der russische Historiker und Politiker Wjatscheslaw Nikonow dazu in einem Interview im Mai 2020. Er ist der Enkel des früheren sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow, der 1939 den sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrag unterschrieb.
«Das Problem war, dass England und Frankreich wollten, dass die Sowjetunion und Hitler-Deutschland kämpfen. Zu diesem Zweck haben sie alles getan. Es gab eine regelrechte Beschwichtigungspolitik gegenüber dem aggressiven Deutschland. Gleichzeitig erweckten sie den Anschein von Verhandlungen mit der Sowjetunion. Aber niemand wollte ein Abkommen mit uns schließen.»
Doch nicht nur England und Frankreich hatten ein großes Interesse an einem sowjetisch-deutschen Krieg. Werner Rügemer schrieb dazu in seinem jüngsten Buch «Verhängnisvolle Freundschaft – Wie die USA Europa eroberten» unter anderem, die US-Führung habe mit dem Münchener Abkommen die Hoffnung geteilt, «es werde zwischen Deutschland und Russland zu einem Krieg der gegenseitigen Vernichtung kommen». Das habe damals der führende US-Stratege des 20. Jahrhunderts, Walter Lippmann, erklärt.
Dass der Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen das Land im Osten von Beginn an zu den Plänen der deutschen Faschisten gehörte, war lange vorher bekannt.
«In seinem Buch ‹Mein Kampf› (1. Band 1925) hatte Hitler, für jedermann zu lesen, die programmatische Erklärung abgegeben: ‹Der Kampf gegen die jüdische Weltbolschewisierung erfordert eine klare Einstellung zur Sowjetunion (…) Wir weisen den Blick nach dem Land im Osten (…) Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland denken›.»
Das schrieb der Historiker Fritz Fischer 1992 in seinem Buch «Hitler war kein Betriebsunfall». Der Überfall traf die Sowjetunion «umso härter, als die Moskauer Führung trotz zuverlässiger Warnungen von innen und außen bis zum letzten Tag auf dem fatalen Fehler beharrte, ihre Truppen im Westen davon abzuhalten, eine wirksame Verteidigung aufzubauen», stellte der Historiker Dietrich Eichholtz 2011 fest.
Bittere Erkenntnisse
«Dass es zwischen uns und dem faschistischen Deutschland zum Krieg kommen würde, unterlag für mich nicht dem geringsten Zweifel», erinnerte sich der sowjetische Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Konstatin Simonow. «Seit dem Jahr 33, seit Reichstagsbrand und Dimitroff-Prozess schien meiner Generation die Auseinandersetzung mit dem Faschismus unvermeidlich», schrieb der 1915 Geborene in seinem letzten, 1979 verfassten Buch «Aus der Sicht meiner Generation – Gedanken über Stalin», das 1988 erstmals erscheinen konnte und 1990 auf Deutsch veröffentlicht wurde.
Auch der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag habe diese Gewissheit nicht beseitigen können, wenn er auch beruhigte:
«Allerdings bestand die Meinung, bis dahin wär’s noch ziemlich weit, der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich und England würde lange dauern, erst danach, irgendwann, würden wir mit dem Faschismus zusammenprallen.»
Simonow äußerte sich in einem im Buch enthaltenen Text aus dem Jahr 1965 über die Rolle Stalins im Krieg. Darin widerspricht er der Vorstellung, Stalin hätte nur auf die frühen Warnungen vor einem deutschen Angriff, unter anderem von Richard Sorge, hören müssen. Dann hätte der Überfall die Sowjetunion nicht so schwer getroffen und nicht zu den großen Anfangsverlusten geführt, meinen manche.
Der Schriftsteller erinnerte an den Terror, der 1937/38 auch die Rote Armee erfasste und dem zahlreiche erfahrene Kommandeure zum Opfer fielen. «Ohne das Jahr 37 wären wir im Sommer 41 unstrittig in jeder Hinsicht stärker gewesen», so der Schriftsteller. Selbst 1940 und 1941 habe der «Wahn der Verdächtigungen und Anschuldigungen» angehalten.
Das habe dazu geführt, dass hochrangige Militärs verhaftet und ermordet wurden. Der offizielle Grund: Sie hätten den Gerüchten von angeblichen feindseligen Absichten Deutschlands Glauben geschenkt. Selbst der vorherige Generalstabschef und der Volkskommissar für Rüstung waren zu Kriegsbeginn in Haft, beschrieb Simonow das Klima in der Sowjetunion kurz vor dem faschistischen Überfall.
Der wurde in Moskau in den ersten Stunden als Provokation und nicht als Beginn des Krieges gesehen. Das schrieb Alexander Nekritsch in dem Buch «Genickschuss – Die Rote Armee am 22. Juni 1941». In dem setzte er sich 1965 mit den Gründen für die militärischen Misserfolge der sowjetischen Armee in der Anfangsphase des Krieges auseinander. Erst am Abend des Juni-Tages 1941 seien den eigenen Truppen Gegenschläge gegen die einfallende faschistische Wehrmacht befohlen worden.
«Innerhalb von wenigen Stunden hatte das gesamte Leben der UdSSR abrupt eine neue Richtung erhalten», schrieb Nekritsch über die Folgen des Kriegsbeginns. «Der Krieg war da, ein grausamer und schonungsloser Krieg.» Viele hätten sich freiwillig zur Roten Armee gemeldet:
«Der Wunsch aller fand in der lakonischen Schlagzeile der Prawda vom 23. Juni 1941 seinen Ausdruck: ‹Der Faschismus wird vernichtet werden›.»
Westliche Interessen
Zur Wahrheit des 22. Juni 1941 gehört das Interesse der führenden Kräfte im Westen an dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Bevor sie später mit dem überfallenen Land die Anti-Hitler-Koalition bildeten, hofften sie, dass das auch mit ihrer Hilfe wieder aufgerüstete Deutschland als «Bollwerk gegen den Bolschewismus» dient. Auf diese Rolle hatte bereits 1920 der US-amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen hingewiesen.
In seiner 1920 veröffentlichten Rezension des Buches von John Maynard Keynes «Die ökonomischen Folgen des Friedens» über den Versailler Vertrag beschrieb Veblen klar, worum es bei dem Vertrag eigentlich ging: Nämlich «das reaktionäre Regime in Deutschland wiederherzustellen und es zu einem Bollwerk gegen den Bolschewismus zu machen».
Die «zentrale und verbindlichste Bestimmung» des Vertrages und des Völkerbundes sei «eine uneingestandene Klausel» gewesen, «durch welche sich die Regierungen der Großmächte zur Unterdrückung Sowjetrusslands zusammentun». Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges hätten das seit 1917 kommunistische Russland als Bedrohung ihres eigenen grundlegenden Systems gesehen. Dieses funktionierte längst auf Grundlage der «Eigentümerschaft in Abwesenheit», wie Veblen nannte, was wir heute Herrschaft des Finanzkapitals durch Aktien- und Fondsbesitz und andere Formen kennen.
Veblen machte darauf aufmerksam, dass die nach außen gegen Deutschland streng wirkende Vertragskonstruktion in Wirklichkeit von einer «bemerkenswerte Nachsicht» bestimmt sei, «die auf eine Art von betrügerischer Nachlässigkeit hinausläuft». Das hätten sich vor allem die britischen Vertreter in Versailles ausgedacht, mit dem Ziel, Deutschland nicht so sehr zu lähmen, «dass das kaiserliche Establishment in seinem Kampf gegen den Bolschewismus im Ausland oder den Radikalismus im Inland wesentlich geschwächt wird».
Die deutsche Oberschicht sollte verschont bleiben und das Elend der Kriegsfolgen nur die einfachen Deutschen treffen, erkannte Veblen. Der Zorn der Unterschicht sollte dann der Nährboden sein, auf dem die herrschenden Kreise in Deutschland im Sinne ihrer westlichen Gesinnungsgenossen ein reaktionäres, antibolschewistisches Regime errichten konnten.
«In ihrem Bestreben, die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung zu sichern – die Welt für eine Demokratie der Investoren sicher zu machen – haben sich die Staatsmänner der Siegermächte auf die Seite der kriegsschuldigen deutschen abwesenden Eigentümer und gegen deren untergebene Bevölkerung gestellt.»
Zu diesem Urteil kam Veblen Jahre bevor der Faschismus sich in Deutschland breit machte und 1933 an die Macht gehievt wurde.
Nützlicher Hitler
Danach zeigte sich der Westen gegenüber dem deutschen Faschismus weiterhin sehr nachsichtig und ließ ihm fast alles durchgehen: von der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes 1936, über die Annexion der Tschechoslowakei 1938 bis hin zum Überfall auf Polen 1939. Das wird allgemein als Appeasement-Politik aufgrund wirtschaftlicher Interessen oder gar des Friedens willens gedeutet, hatte aber handfeste ideologische Motive.
Der Historiker und Gewerkschafter Peter Scherer schrieb dazu 1989 in seinem Buch «Freie Hand im Osten – Ursprünge und Perspektiven des Zweiten Weltkrieges»:
«Nicht der Vertreter des deutschen Imperialismus wurde zwischen 1935 und 1938, ja bis 1940 hinein, von Großbritannien und Frankreich hofiert, sondern der Kommunistenfresser und Antibolschewik. Ihm hätten sie ganz Ost- und Südosteuropa ausgeliefert, wenn er sich nur auf diese Rolle des ‹Exterminators›, des politischen Kammerjägers und Massenmörders hätte beschränken lassen.»
Hitler sei der garantierte Krieg gegen Sowjetrussland, an dem auch die westlichen Mächte interessiert gewesen seien. Die russische Revolution 1917 habe anders als von ihren deutschen Finanziers gedacht «innerhalb weniger Wochen ein Loch in die Landkarte des Imperialismus gebrannt, das sich so schnell nicht mehr schließen sollte».
Das konnten sie Russland und später der Sowjetunion nie verzeihen. «Die imperialistische Welt sieht sich aus der Basis des europäischen Kontinents heraus in Frage gestellt», so Scherer über die Folgen.
«Es lag nahe, dieser Bedrohung im Maßstab ihrer geographischen Dimension entgegenzuarbeiten: im Osten mit Japan gegen die Revolution in China, im Westen mit Deutschland gegen die Sowjetunion.»
Scherer zitierte aus der US-Zeitung New York Herald Tribune vom 12. Oktober 1939, die kurz nach dem polnischen Zusammenbruch schrieb:
«Die Frage besteht nicht darin, wo die Grenzen Deutschlands, Polens oder der Tschechoslowakei verlaufen. Die Frage besteht darin, wo in Europa die Grenze gegen die Verbreitung des Bolschewismus verläuft.»
Er erinnerte auch daran, dass die Westmächte selbst dann nicht Deutschland angriffen, als die faschistische Wehrmacht am 10. Mai 1940 ihren «Westfeldzug» begann. Es habe nicht schon 1939 einen Zusammenbruch der Wehrmacht gegeben, weil «die rund 110 französischen und englischen Divisionen im Westen sich während des Polenfeldzuges gegenüber den 23 deutschen Divisionen völlig untätig verhielten». Das sagte der ehemalige Chef des Wehrmachtsführungsamtes, Alfred Jodl, vor dem Internationalen Militärgerichtshof 1946 in Nürnberg.
Dafür hatten die Westmächte begonnen, Expeditionskorps gegen die Sowjetunion aufzustellen, die im sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/40 in Narvik, Petsamo und Murmansk landen sollten. Ebenso wurde in London und Paris geplant, die sowjetischen Erdölgebiete von Baku und Batumi zu bombardieren. Es blieb bei den Plänen.
Der Historiker machte auf die zunehmende Rolle des US-Kapitals hinter der britischen Politik aufmerksam und zitierte den späteren US-Präsidenten Harry Truman. Der hatte am 24. Juni 1941, zwei Tage nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion, gegenüber der Zeitung New York Times erklärt [2]:
«Sehen wir, dass Deutschland gewinnt, so müssen wir Russland helfen, wird aber Russland gewinnen, so müssen wir Deutschland helfen, und auf diese Weise sollen sich nur möglichst viele totschlagen.»
Der Überfall am 22. Juni vor 83 Jahren war «keine spezifisch deutsche Aktion», stellte Scherer klar. Briten, Franzosen, Tschechen, Japaner, Amerikaner und 1920 Polen hätten sich schon daran versucht, «das bedrohliche Loch zu stopfen», welches das kommunistische Russland und dann die UdSSR «in die Landkarte des Imperialismus gerissen hatte». Hitler habe als «ideeller Gesamtimperialist» gehandelt, es aber nicht vermocht, «der imperialistischen Führungsmacht Großbritannien ihren Segen zu seinem Kreuzzug abzuringen» – die auch das Interesse hatte, dass der Konkurrent Deutschland geschwächt wird oder gar untergeht.
Mit Blick auf das Verhalten der Westmächte schrieb Scherer:
«Die Zeit nach Barbarossa kam nicht und die Westmächte zogen es endgültig vor, den deutschen Konkurrenten mehr zu fürchten als den Bolschewismus, der ihnen auf Jahre hinaus ein nützlicher Verbündeter sein sollte.»
Zugleich gaben sie ihre antikommunistische Russophobie nicht auf:
«Deutschland wurde nach Meinung der US-Regierung und ihres Emissärs Allan Dulles 1943 für ‹Ordnung und Wiederaufbau› hinter einem neuen antibolschewistischen ‹sanitären Riegel› vorgesehen.»
Wie einst Deutschland soll nun die Ukraine samt Faschisten als Bollwerk gegen das heutige, nicht mehr kommunistische Russland dienen. Dazu wird sie missbraucht, aufgerüstet und zerstört. Wenn auch der Bolschewismus Geschichte ist, ist Russland immer noch der Feind: Weil es bis heute nicht bereit ist, sich einfach dem Westen unterzuordnen.
Wie damals wird auch dieser Versuch scheitern, den aber viele Menschen auf beiden Seiten mit dem Leben bezahlen. Die Interessen dahinter sind die gleichen wie vor mehr als 100 Jahren beim ersten Weltkrieg und vor mehr als 80 Jahren beim Zweiten Weltkrieg.
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2023 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop: