Die Biden-Administration hat vor einem Jahr die Nord Stream-Pipelines in die Luft gesprengt, um die langjährige US-Vormachtstellung in Westeuropa zu sichern. Zu diesem Schluss kommt der renommierte Journalist Seymour Hersh in seinem am Dienstag veröffentlichen Text zum Jahrestag des Anschlags auf Nord Stream.
Die Aktion habe, anders als zuvor geplant, nichts mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zu tun, so Hersh:
«Sie resultierte aus Befürchtungen im Weissen Haus, dass Deutschland schwanken und den Zufluss von russischem Gas aufdrehen würde – und dass Deutschland und dann die NATO aus wirtschaftlichen Gründen unter die Herrschaft Russlands und seiner umfangreichen und kostengünstigen natürlichen Ressourcen geraten würden.»
Daraus sei «die ultimative Angst» gefolgt, «dass Amerika seine langjährige Vormachtstellung in Westeuropa verlieren würde». So beschreibt der 86-jährige Investigativjournalist die Antwort auf die Frage «Wer hat es getan?».
In seinem neuesten Beitrag gibt Hersh wieder, was er nach seinem ersten aufsehenerregenden Text zum Anschlag auf die Nord Stream-Leitungen weiter dazu erfahren hat. Im Februar dieses Jahres hatte er von Informationen aus Geheimdienstkreisen berichtet, nach denen die Administration von US-Präsident Joseph Biden die Pipelines sprengen liess.
Erneut beruft sich Hersh auf einen nicht genannten CIA-Mitarbeiter. Vorwürfe, er sei unglaubwürdig, weil er seine Quellen nicht nenne, weist er zurück:
«Ich muss hier anmerken, dass ich in meiner Karriere buchstäblich Dutzende von Preisen für Artikel in der New York Times und dem New Yorker gewonnen habe, die sich auf keine einzige namentlich genannte Quelle stützten.»
Er verweist darauf, dass der «wesentliche Bestandteil» aller erfolgreichen CIA-Missionen die «totale Abstreitbarkeit» sei. Diejenigen, die in Zusammenarbeit mit norwegischen Geheimdiensten in Oslo die Sprengung vorbereiteten, hätten keinerlei Spuren hinterlassen.
Aber es sei auch für Präsident Biden und seine aussenpolitischen Berater von «grösster Wichtigkeit» gewesen, alles leugnen zu können. Für die Kommunikation im Zusammenhang mit der geplanten, verdeckten Operation seien keine digitalen technischen Mittel und zum Beispiel nur analoge Schreibmaschinen verwendet worden.
CIA-Chef William Burns sei die einzige Verbindung zwischen den Planern und dem US-Präsidenten gewesen. Letzterer hat laut Hersh die Aktion dann am 26. September 2022 genehmigt. Danach seien alle physischen Spuren und Belege vernichtet worden.
Was er beschreibt, entspricht einem Muster der US-amerikanischen Politik: Hohe Regierungsbeamte hecken eine geheime Operation aus, die ohne Zustimmung des jeweiligen US-Präsidenten nicht durchgeführt werden darf. Aber das Ganze wird so organisiert, dass im Fall des Scheiterns nicht nachweisbar ist, dass der Präsident etwas damit zu tun hat.
Das entsprechende Gremium der USA für geheime Operationen im Ausland zum Beispiel wurde 1955 ins Leben gerufen und wechselte seitdem mehrmals den Namen: Von der «Special Group» des Nationalen Sicherheitsrates (NSC) zum «303 Committee», danach «40 Committee», «Operations Advisory Group», später «NSC Special Coordination Committee». Den letzten bekannten Informationen zufolge wurde in den 1980er Jahren von der «National Security Planning Group» gesprochen.
In welcher Form und unter welchem Namen dieses Gremium weiterarbeitet, ist derzeit nicht bekannt. Laut dem einstigen US-Geheimdienstoffizier Fletcher L. Prouty gehörten dem Gremium meist der Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten als dessen Vertreter an genau wie ein Vertreter des US-Aussenministeriums, einer aus dem Kriegsministerium und einer aus dem Pentagon, der CIA-Direktor und seit US-Präsident John F. Kennedy auch der US-Generalstabschef.
In der BBC-Dokumentation «Death in the Water» (2003) von Christopher Mitchell über den Angriff israelischer Flugzeuge und Schnellboote auf das US-Spionageschiff «USS Liberty» bestätigt der Ex-CIA-Chef Richard Helms die Existenz des «303 Committee» (auch «Committee 303» geschrieben). Laut Helms plante und entschied es verdeckte Aktionen der USA im Namen des US-Präsidenten. Das sei so geschehen, dass der Präsident bei einem Scheitern nicht belastet werden könne, erklärte der Ex-CIA-Chef in dem BBC-Film.
Genau dieses Muster beschreibt Hersh nun beim Attentat auf die Nord Stream-Pipelines. Als Informationsquelle dient ihm ein CIA-Mitarbeiter. Dieser habe auf einen «Fehler» bei der Aktion hingewiesen:
«Der einzige Fehler war die Entscheidung, es zu tun.»
Ursprünglich sei die Sprengung der Gasleitungen von Russland nach Deutschland nur vorbereitet gewesen, um Russland damit zu drohen und von einem Einmarsch in die Ukraine abzuhalten. Washington wollte Moskau vor Augen führen, welch enormen wirtschaftlichen Konsequenzen eine solche Invasion für das Land haben würde, und es so von einem Eindringen in die Ukraine abhalten, schreibt Hersh.
Der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan habe Ende 2021 eine Beratung des oben genannten Gremiums einberufen, um den Plan zu besprechen und vorzubereiten. Die vorbereitete Sprengung sollte Russland von den US-amerikanischen Fähigkeiten überzeugen.
Die Nord Stream-Pipelines seien ausgewählt worden, weil sie die einzige Direktleitung zwischen Russland und Deutschland darstellten und in der Ostsee frei zugänglich gewesen seien. «Wir gingen davon aus, dass der Präsident die Drohung gegen Nord Stream als Abschreckung nutzen würde, um den Krieg zu verhindern», wird der CIA-Mann von Hersh zitiert.
Victoria Nuland habe als seinerzeitge Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten im US-Aussenministerium am 27. Januar 2022 erstmals gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit der Sprengung der Pipelines gedroht. Dabei habe sie auch auf «sehr intensive und klare Gespräche mit unseren deutschen Verbündeten» hingewiesen.
Biden habe noch im Juli 2021 erklärt, die USA würden die in Bau befindliche Pipeline Nord Stream 2 nicht stoppen können. Aber bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz am 7. Februar 2022 kündigte der US-Präsident dann an, dass es die Pipeline «nicht mehr geben» werde, wenn Russland in die Ukraine einmarschiere. Biden betonte auf Nachfrage einer Journalistin:
«Wir werden es tun, das verspreche ich Ihnen, wir werden dazu in der Lage sein.»
Hersh erinnert an den damals fehlenden Widerspruch von Scholz gegen diese Aussage. Stattdessen sagte der Kanzler: «Wir handeln gemeinsam.» Und: «Wir werden die gleichen Schritte tun, und sie werden für Russland sehr, sehr hart sein, und sie sollten das verstehen.»
Innerhalb der CIA sei klar gewesen, dass Scholz «voll im Bilde» war «über die geheimen Pläne zur Zerstörung der Pipeline», zitiert Hersh seinen Informanten. Zu dem Zeitpunkt hätte das CIA-Team Kontakt zu Partnern in Norwegen aufgenommen. Die USA und Norwegen hätten bereits in den vergangenen Jahrzehnten bei verdeckten Operationen zusammengearbeitet, so Hersh.
«Norwegische Matrosen und Patrouillenboote der Nasty-Klasse halfen in den frühen 1960er Jahren, amerikanische Sabotageakteure nach Nordvietnam zu schmuggeln, als die USA unter den Regierungen Kennedy und Johnson dort einen nicht erklärten Krieg führten. Mit norwegischer Hilfe erledigte die CIA ihre Aufgabe und fand einen Weg, das zu tun, was das Weisse Haus unter Biden mit den Pipelines anstellen wollte.»
Der Journalist beschreibt, wie US-amerikanische und norwegische Spezialkräfte die Bomben an den beiden Gasleitungen platzierten, und zwar von einem norwegischen Schiff aus. Doch dann sei der Befehl zum Sprengen im weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine nicht gekommen.
Das geschah dann vor einem Jahr – als die CIA-Gruppe, die den Anschlag vorbereitet hatte, laut Hersh bereits aufgelöst war. Die Sprengung sei mittels eines norwegischen Kampfflugzeuges und eines umgebauten Sonargerätes erfolgt.
«Wir erkannten, dass die Zerstörung der beiden russischen Pipelines nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hatte», zitiert Hersh seinen Informanten aus der CIA. Stattdessen sei sie «Teil einer politischen Agenda der Neokonservativen, um Scholz und Deutschland angesichts des nahenden Winters und der stillgelegten Pipelines davon abzuhalten, kalte Füsse zu bekommen und die stillgelegte Nord Stream 2 zu öffnen».
Die Erdgas-Verbindung zwischen Russland und Deutschland sollte also endgültig gekappt werden. Der CIA-Mann dazu:
«Der Präsident hat also einen Schlag gegen die deutsche und westeuropäische Wirtschaft ausgeführt.»
Das Schweigen und das Dementi des Weissen Hauses zur erfolgten Sprengung sei von den beteiligten CIA-Mitarbeitern als Verrat an ihrer Arbeit gesehen worden. Und: Die Führung des CIA-Teams habe Bidens Befehl zur Zerstörung der Pipelines als «einen strategischen Schritt in Richtung Dritter Weltkrieg» gesehen.
Es sei nicht klar gewesen, wie Russland darauf reagiert, so der CIA-Mann laut Hersh. Russland hätte daraufhin westliche Pipelines und Kommunikationskabel in der Ostsee angreifen können – was aber nicht geschah.
Hersh schreibt, dass die dänischen und schwedischen Behörden entgegen offizieller Erklärungen ihrer Ahnungslosigkeit sehr wohl wussten, was in ihren Hoheitsgewässern geschah. Aber trotz der Ankündigung von Ermittlungen, auch aus den USA und Deutschland, seien bis heute keine ernsthaften Untersuchungen zu dem Anschlag bekannt geworden. Die Mainstream-Medien hätten bisher auch nicht weiter nachgefragt.
Stattdessen habe US-Sicherheitsberater Sullivan behauptet, es sei klar, dass Russland seine eigenen Leitungen gesprengt habe. Hersh stellt fest:
«Die Biden-Administration hat die Pipelines in die Luft gejagt, aber die Aktion hatte wenig mit dem Gewinnen oder Beenden des Krieges in der Ukraine zu tun.»
Zum Jahrestag des Anschlags erklärte passenderweise die Sprecherin des russischen Aussenministeriums Maria Sacharowa:
«Die Auftraggeber des Terroranschlags auf die Nord Streams verfolgten ein durchaus konkretes Ziel. Es galt, die vorteilhaften energiepolitischen Beziehungen zwischen Russland und der EU zu torpedieren.»
Alle russischen Angebote, bei der Aufklärung des Attentats mitzuhelfen, seien von den westlichen Behörden entweder abgelehnt oder unbeantwortet geblieben, so Sacharowa am Montag in einer Presseerklärung.
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