«Der Ukraine-Krieg war eine vorhersehbare Folge einer unhaltbaren Weltordnung und wurde zum Schlachtfeld für die Gestaltung einer künftigen Weltordnung, die entweder auf globaler Hegemonie oder westfälischer Multipolarität beruht.»
Das schreibt der norwegische Politikwissenschaftler Glenn Diesen in seinem neuen Buch «The Ukraine War & the Eurasian World Order». Die Schweizer Zeitung Die Weltwoche hat daraus einen Auszug in ihrer aktuellen Ausgabe veröffentlicht.
Die Versuche, Russland militärisch, wirtschaftlich oder politisch zu isolieren seien gescheitert, stellt Glenn Diesen fest. Die NATO habe darauf mit «ständiger Eskalation und Theatralik» reagiert. Um den Konflikt in und um die Ukraine sowie damit das Leid vieler Menschen zu beenden, müssten die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands anerkannt werden.
Damit könne das Sicherheitsdilemma entschärft werden, so der norwegische Politologe.
«Die Schwierigkeit, dies zu tun, liegt darin, dass dies das Ende der Ära der liberalen Hegemonie bedeuten würde.»
Der Westen habe in den 1990er Jahren und danach die Sicherheitsinteressen des geschwächten Russlands ignoriert. Infolge dessen sei die strategische Situation für Russland «unerträglich geworden, da die NATO-Erweiterung in der Ukraine als existenzielle Bedrohung angesehen wird».
Allerdings habe sich inzwischen die internationale Machtverteilung grundlegend geändert. Das zeige sich an neuen Machtzentren weltweit, «die Russlands Ambitionen zum Aufbau einer multipolaren westfälischen Weltordnung teilen». Als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, habe die Welt wich «mitten im Übergang zur Multipolarität» befunden, schreibt Glenn Diesen.
Der Krieg habe die globale Abkopplung vom Westen verstärkt. Diese stelle den Krieg «offen als einen Alles-oder-nichts-Kampf um die Weltordnung» dar.
«Unabhängig vom Ausgang des Ukraine-Krieges hat er bereits zum Friedhof der liberalen Hegemonie geführt.»
Die vom Westen definierte Sicherheit bedeute die Wiederherstellung der militärischen Überlegenheit, die Ausweitung von Militärbündnissen, die Zunahme gemeinsamer Militärübungen, die Ausübung der Freiheit der Schifffahrt entlang der Küsten rivalisierender Mächte und die Bewaffnung der wirtschaftlichen Verflechtung. Dafür seien «Demokratie, Zivilgesellschaft und Menschenrechte instrumentalisiert und als Waffe eingesetzt» worden.
In Folge der westlichen Hegemonie sei die Diplomatie durch die Sprache des Ultimatums ersetzt worden, stellt Glenn Diesen fest. Er kritisiert dabei deutlich, was der Öffentlichkeit als «pro-ukrainische» Politik und «Hilfe für die Ukraine» verkauft worden sei.
Der Politologe befürchtet: «Ein friedliches Ende des Ukraine-Krieges ist nur schwer vorstellbar.» Er rechnet mit Vorschlägen für einen Waffenstillstand, um den Konflikt einzufrieren. Ein solcher sei aber ohne eine politische Lösung für Russland inakzeptabel. Das sei mit den Negativerfahrungen der Minsker Abkommen begründet.
«Im Idealfall ist die humanitäre Tragödie eine Motivation, den Krieg, der so viele ukrainische und russische Menschenleben gefordert hat, zu beenden.»
Für eine politische Lösung müssen aus seiner Sicht «der Expansionsdrang der NATO und der Zusammenbruch der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur als der eigentliche Casus Belli angegangen werden». Glenn Diesen meint, die EU müsse angesichts der verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges die Diplomatie wiederbeleben.
Allerdings würden die euroatlantischen Entscheidungen «in erster Linie in Washington getroffen», benennt der Politologe von der Universität Südost-Norwegen das Dilemma. Moskau könne versuchen, mit weiteren Gebietseroberungen den Druck auf Washington zu erhöhen, ein Abkommen abzuschließen. Die Folge sei:
«Die NATO muss vor diesem Hintergrund entweder eine demütigende Niederlage hinnehmen oder direkt in einen Krieg eintreten, der schnell zu einem Atomkrieg eskalieren könnte.»
Der Ukraine-Krieg ist für Glenn Diesen «ein Symptom für eine umfassendere Krise des internationalen Systems». Es komme nach fünf Jahrhunderten westlich-europäischer zu einer «spektakulären Neuordnung der Machtverhältnisse in der Welt».
Glenn Diesen rechnet damit, dass die Konflikte um die künftige Weltordnung weiterhin militarisiert werden. Die Angst vor einem Atomkrieg scheine ebenso verschwunden wie inzwischen Kriege zwischen den Großmächten nicht mehr als unvorstellbar gelten. Die Welt befinde sich in einer Übergangsphase zwischen Unipolarität und Multipolarität, ohne dass schon neue gemeinsame Regeln erkennbar seien.
«Dem Westen steht eine traumatische Erfahrung bevor, denn er muss sich an eine multipolare internationale Machtverteilung und an Regeln gewöhnen, die von nichtwestlichen Mächten festgelegt oder beeinflusst zu werden scheinen.»
Allerdings würden die USA einen friedlichen Übergang zu einer neuen Weltordnung nicht akzeptieren wollen. Den Grund dafür macht der Politologe im «Mangel an politischer Vorstellungskraft in Washington» aus. Das habe «zu einer Weltsicht geführt, in der das Chaos die einzige Alternative zur globalen Dominanz der USA ist».
Er verweist auf Aussagen des US-Außenministers Antony Blinken, der die Welt als geteilt zwischen Gut und Böse ansehe sowie einen Kampf gegen China und Russland unter der globalen Führung der USA voraussagte. Glenn Diesen warnt:
«Wenn dies weiterhin die Sichtweise des Westens ist, werden wir Zeugen einer großen Tragödie für die Menschheit.»
Buchtipp: Glenn Diesen: «The Ukraine war & The Eurasien World Order»; Clarity Press 2024
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