Joseph I., Patriarch von Antiochien und dem Ganzen Orient und Oberhaupt der mit Rom unierten melkitischen griechisch-katholischen Kirche, äußerte schon 2018 gegenüber dem deutschen Journalisten Matthias Matussek bezüglich der Verfolgung der Christen in Syrien seine Verärgerung über die «Christen im ahnungslosen Westen», die «über die Zustände hier belogen» würden.
Auch heute, wo wir Weihnachten feiern, sind in Syrien viele der verbleibenden Christen daran, ihre Koffer zu packen. Und in Bergarabach wurde die autochthone christliche Bevölkerung vor einem guten Jahr vor den Augen der Weltöffentlichkeit in einem kurzen Waffengang durch die Armee des muslimischen Aserbaidschan vertrieben. 120.000 Menschen verließen ihre Scholle praktisch von einem Tag auf den anderen. Wie kam es dazu?
Das, was heute in der Geschichtswissenschaft als orientalische Frage bezeichnet wird, ist die Schwäche und der Rückzug des Osmanischen Reiches vor und während des Ersten Weltkrieges. Vor 150 Jahren erstreckte sich die Türkei bis über die arabische Halbinsel. Auch Ägypten war nominell noch der Oberhoheit des Sultans unterstellt. Die christliche Bevölkerung umfasste etwa 20 Prozent der gesamten Einwohner des Osmanischen Reiches.
Die politische und wirtschaftliche Schwäche dieses Großreiches war notorisch – man sprach vom kranken Mann am Bosporus. Den sprunghaften Modernisierungen des Westens nach der Französischen Revolution hatte der Sultan wenig entgegenzusetzen. Die christlichen Gemeinschaften mit ihren Kontakten in den Westen blühten. Handelsstädte wie Smyrna, das heutige Izmir, mit ihrer mehrheitlich christlichen Bevölkerung, wurden in einem Atemzug mit Venedig genannt.
Gepaart mit den Emanzipationstendenzen der christlichen Völker führte die Schwäche der Osmanen zu einem schrittweisen Rückzug der letzteren aus Europa. Geburtswehen von Ländern wie Serbien, Rumänien und Bulgarien waren die Balkankriege der 1870er Jahre.
Der Erste Weltkrieg und Folgekonflikte wie der griechisch-türkische Krieg brachten den kompletten Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Neuordnung dieser Weltgegend durch die Siegermächte.
Anders als vorhergehende Kriege griff der Erste Weltkrieg tief ins Leben der Menschen ein. Wir sprechen nicht nur von Kriegswirtschaft, sondern auch von einem Krieg gegen unerwünschte Teile der Zivilbevölkerung. So ist der Völkermord an den Armeniern während des Krieges noch heute ein Tabu in der Türkei. Der Vertrag von Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei, der die Vertreibung der seit Jahrtausenden in Kleinasien ansässigen christlichen Bevölkerung legitimierte, etablierte die Vertreibung ganzer ethnischer und religiöser Gruppen als akzeptable Lösung internationaler Konflikte, was das 20. Jahrhundert prägte und zahlreiche spätere Vertreibungen inspirierte.
Die armenisch besiedelten Gebiete, die außerhalb des Einflussbereichs der Türkei lagen, entgingen der Vertreibung. Das betraf das heutige armenische Kerngebiet, die aserische Enklave Nachitschenwan, die um die Jahrhundertwende noch praktisch zur Hälfte christlich-armenisch war, und das geschlossen armenisch besiedelte Bergkarabach.
Die arabische Halbinsel wurde gemäß dem während des Ersten Weltkriegs geheim zwischen England und Frankreich geschlossenen Sykes-Picot-Abkommen aufgeteilt. Dabei wurden die Grenzen mit der Ausnahme Palästinas so gezogen, wie sie auch heute noch völkerrechtlich anerkannt sind. Großbritannien erhielt Jordanien, den Irak und Palästina als Völkerbundsmandat mit dem Auftrag, diese Länder in die Unabhängigkeit zu führen. Frankreich erhielt Syrien und den Libanon mit dem gleichen Auftrag.
Gemeinsam war diesen Ländern, dass sie einen zahlenmäßig großen christlichen Bevölkerungsanteil aufwiesen – überall im zweistelligen Prozentbereich, wobei im Libanon praktisch Parität herrschte.
In der Balfour-Deklaration von 1917 wurde den Juden eine Heimstätte in Palästina versprochen. Alteingesessene Araber, in Palästina damals größtenteils Christen, versuchten, sich in der Folge der einströmenden jüdischen Einwanderer zu erwehren, während England versuchte, dem Zusammenprall dieser Völker zu wehren.
Allen Kriegen, Konflikten und Einschränkungen um Palästina und Israel war eines gemeinsam: Insbesondere die Christen litten darunter. Exemplarisch sei Bethlehem erwähnt, die Geburtsstadt Christi. Nur noch gut zehn Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner von Bethlehem sind Christen. 1947 machten sie noch gut 85 Prozent aus.
Im Irak wurde der Anteil der Christen verschiedener Bekenntnisse 2003 mit acht Prozent angegeben. Zahlreiche irakische Christen flohen daraufhin aus wirtschaftlichen und politischen Gründen. Heute leben noch etwa 3 Prozent Christen im Irak, vor allem im nordirakischen Kurdengebiet, das relativ stabil ist und der direkten Kontrolle der Zentralregierung entzogen ist. Das entspricht einem Rückgang von zwei Millionen auf 580.000 Menschen.
Im Libanon haben die höhere Geburtenrate bei den Moslems und die Verwerfungen des Bürgerkriegs dazu geführt, dass der Anteil der Christen von 51 Prozent im Jahr 1932 auf 37 Prozent im Jahr 2018 sank. Der Libanon ist wohl mit Jordanien das einzige Land im Nahen Osten, wo die Präsenz einer zahlenmäßig sehr wichtigen christlichen Gemeinschaft nicht akut gefährdet ist.
Auch in Jordanien kann die Lage der Christen, die eng mit den Christen Palästinas verbunden sind und etwa 5 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, als gut bezeichnet werden. Im Gegensatz zu einer Reihe anderer Länder in der Region sind Christen in Jordanien aktuell nicht akut gefährdet. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der seit Jahren zu beobachtenden Erstarkung islamistischer Tendenzen.
Und nun kommen wir zu Syrien. Bis zur Islamisierung des Landes im 7. Jahrhundert war Syrien mehrheitlich christlich. Die christliche Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Syrien ist eine der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt. Die Vielzahl nebeneinander bestehender christlicher Konfessionen ist für Westeuropäer schwierig zu verstehen und die Folge innerchristlicher Machtkämpfe. Nur wenige Abspaltungen waren ethnisch bedingt; die Mehrzahl ergab sich aus komplizierten theologischen Differenzen.
Das orthodoxe Patriarchat von Antiochien bildet die größte Kirche Syriens. Etwa 10 Prozent der Syrer waren vor Ausbruch des Bürgerkrieges Christen. Deren traditionelle Siedlungsräume sind vor allem die Hauptstadt Damaskus, Homs, Aleppo und traditionell christliche Dörfer wie Maalula.
Wenn es auch stimmt, dass bis zum Bürgerkrieg in Syrien eine große Toleranz gegenüber den Christen herrschte, so wäre es doch verharmlosend zu sagen, der ehemalige Präsident Baschar al-Assad sei der Beschützer der Minderheiten gewesen, als der er sich gab.
Durch den Bürgerkrieg seit 2011 haben bis Ende 2019 mehr als 500.000 Christen das Land verlassen und viele sind zu Binnenflüchtlingen geworden. Viele gingen in den Westen, wo sie schon Familie hatten. Als Minderheit sind die Christen Syriens im Bürgerkrieg zwischen die Fronten der Konfliktparteien geraten. Die Regierung versuchte sie seit Beginn des Konflikts zu vereinnahmen, was den Christen in ihrem Verhältnis zur Opposition zum Verhängnis wurde.
Bleibende waren Terror und Mord ausgesetzt. Während die christlichen Gemeinschaften zum Beispiel in Damaskus und Latakia zahlreiche Binnenflüchtlinge aufgenommen haben und lange noch als weitgehend stabil eingeschätzt wurden, ist die Zahl der Christen etwa in der alten christlichen Stadt Aleppo stark geschrumpft. In von den Islamisten zerstörten Orten gibt es keine Christen mehr.
Aus diesem Grund misstrauen viele Christen dem neuen Machthaber Julani, wenn er von Toleranz spricht. In der Region Idlib, die seit 2017 von seiner Organisation kontrolliert wird, wurden fast alle Christen vertrieben. Julani scheint vielleicht verstanden zu haben, dass es ihm nutzt, die Christen zu tolerieren, weil er dann sein Image im Westen aufpolieren kann. Ob das von Dauer ist, wird sich weisen. Es kann aber durchaus sein, dass die definitive Vertreibung der Christen nur aufgeschoben ist.
«Viele der verbleibenden Christen sind nun dabei, ihre Koffer zu packen», sagte ein Syrien-Experte der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Die Bischöfe würden versuchen, sie zu beruhigen und zum Bleiben zu animieren. «Sie wissen aber sehr gut», sagt der Experte, «dass es mit den Christen in Syrien zu Ende geht.»
Frohe Weihnachten gibt es jedenfalls in Syrien nicht.
Um die Armenier im Gebiet der Sowjetunion (wir haben zum Beispiel hier darüber berichtet, weitere Links im Beitrag) war es Jahrzehnte ruhig geblieben. Moskau hatte allerdings nach dem Ersten Weltkrieg das geschlossen armenisch besiedelte Bergkarabach der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeschlagen, wie auch die gemischte Region Nachitschewan. Im letzteren Gebiet wurden die Armenier während Jahrzehnten schikaniert und dezimiert, bis es sie nicht mehr gab. Und dann wurden auch ihre Kirchen und Friedhöfe zerstört. Heute ist die aserische Position, dass es dort nie welche gegeben habe.
In der armenischen Enklave Bergkarabach geschah im Rahmen von zwei aserischen Angriffskriegen (2020 und 2023) im Expresstempo das Gleiche. Im Moment ist Aserbaidschan daran, die zum Teil mittelalterlichen Kulturdenkmäler der Armenier zu zerstören und das Gebiet aserisch zu besiedeln. Baku wird dann wohl auch behaupten, es hätte in Bergkarabach nie Armenier gegeben. Die vertriebenen Armenier aus Bergkarabach verbringen Weihnachten schwerpunktmäßig im armenischen Kerngebiet – keine frohen Weihnachten.
Beide Entwicklungen, Syrien und Bergkarabach, hängen zusammen und sind eine Langzeitfolge des Ersten Weltkrieges. Der Westen tut in Bergkarabach wie beim Völkermord an den Armeniern 1915 nichts; in Syrien unterstützt er die Islamisten.
Er muss sich dann allerdings nicht wundern, wenn er sich politisch unglaubwürdig macht und als schwach angesehen wird.
Die Präsidenten der Türkei und Aserbaidschans, Erdoğan und Alijew, halten den Westen offen für dekadent, heuchlerisch und käuflich. Das Tragische ist, dass diese Einschätzung wohl zutrifft. Zusätzlich ist Joseph I. zuzustimmen, der den Westen in Bezug auf das orientalische Christentum für ahnungslos hält. An der Tatsache, dass es in Syrien und Bergkarabach keine frohe Weihnachten gibt, trägt er ein gerütteltes Maß an Verantwortung.
Kommentare