Transition News: Sie sind Architekt, Spieleerfinder, Lokalpolitiker und waren früher Leistungssportler. Jetzt möchten Sie Menschen dazu motivieren und auch dabei unterstützen, in ihrem jeweiligen Wahlkreis bei der nächsten Bundestagswahl, am 29. September 2025, als unabhängige Kandidaten anzutreten. Was hat Sie dazu gebracht?
Holger Thiesen: Ich bin einer der wenigen Leistungssportler, die während Corona Gesicht gezeigt haben. Ich war Weltmeister im Handball – Militärweltmeister –, zweimal Deutscher Fachhochschulmeister und Kapitän der Flensburger Bundesligamannschaft. Bis heute kenne ich eigentlich nur den Fußballer Thomas Berthold, der sich auch politisch engagiert. Bisher habe ich noch keinen weiteren Handballer dafür gewinnen können – das hatte ich mir nicht so schwer vorgestellt.
Politik mache ich seit über 30 Jahren nebenher, inspiriert durch den Künstler Josef Beuys, der schon Ende der 1960er Jahre die Parteiendiktatur beenden wollte.
1998 lernte ich den Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief kennen, bei der Einführung seines Projekts «Chance 2000». Er rief damals dazu auf, Kandidat zu werden. Da habe ich mitgemacht und da erst erfahren – ich war ja immerhin schon Mitte 40 –, dass wir nur 200 Unterschriften brauchen, um auf den Stimmzettel zu kommen und für den Bundestag zu kandidieren. Ich war so erschüttert, dass keiner wusste, wie einfach das ist.
Und dann habe ich das gemacht, und inzwischen bin ich der Deutsche, der am häufigsten Wahlen als Einzelkandidat mitgemacht hat. Denn die Parteien waren für mich unwählbar, und so konnte ich wenigstens mir eine Stimme geben.
Sie nennen Ihren Lösungsansatz «Operation ganz unten». Wie sieht das konkret aus?
Aus allen meinen Wahlerfahrungen ist jetzt dieser Lösungsansatz entstanden, wie wir endlich einen Schritt in Richtung direkte Demokratie machen können. Dabei hilft uns das Wahlrecht. Wir haben ja eine Erst- und eine Zweitstimme. Mit unserer Erststimme wählen wir einen Wahlkreisabgeordneten. Die Aufgabe des Wahlkreisabgeordneten ist, seinen Wahlkreis im Bundestag zu vertreten.
Das Problem bei Leuten, die über eine Partei auf diesen Posten gekommen sind – und zurzeit sind das nur Parteimitglieder – ist, sie haben immer einen Interessenkonflikt: Sollen sie sich um das Parteiwohl sorgen, oder um das Wohl des Wahlkreises, aus dem sie kommen. Und eben dieser Umstand führt zu Lähmung beziehungsweise zu Entscheidungen, die dem Kreis, für den sie angetreten sind, oft nicht guttun.
Haben Sie dafür ein Beispiel aus Ihrem Wahlkreis?
Bei uns gibt es inzwischen viel Gegenwehr, wenn es um den Ausbau der Windkraft geht. Das ist völliger Wahnsinn, was hier gemacht wird. Schleswig-Holstein ist eine windreiche Gegend. Und wir gucken immer, wann sich die Windräder drehen, aber selbst bei viel Wind stehen diese still. Denn, wenn gleichzeitig die Sonne scheint, ist einfach zu viel Strom da. Das heißt, es gibt jetzt schon zu viele Windräder und zu viele Solarflächen, weil wir das Problem der Stromspeicherung immer noch nicht gelöst haben.
Zu meiner Idee gehört ja auch, dass der Wahlkreisabgeordnete nicht seiner Partei hörig ist, sondern auf das hört, was die Menschen vor Ort wollen. Er oder sie hat praktisch bei den Kreistagssitzungen dabei zu sein. Ich habe hier noch nie einen Wahlkreisabgeordneten, der für uns jetzt in Berlin ist, gesehen. Den sieht und hört man nicht. Niemand weiß, was der überhaupt macht. Also, ich weiß es nicht, und ich bin immerhin seit einem Jahr Kreistagsabgeordneter. Ich habe den Mann, der damals gewählt worden ist, bis heute nicht gesehen.
Von welcher Partei stammt er?
Der ist jetzt von der SPD. Vorher war es ein CDU-Mann. Die sind dann nur noch in Berlin oder wo auch immer. Kein Mensch weiß es. Aber ein Kreistagsabgeordneter hat im Kreis zu sein, um eben direkt von den Kreistagsabgeordneten, den Landräten und Bürgermeistern, von der Basis, die Themen und Probleme zu erfahren.
Aber zurück zu Ihrem Beispiel mit den Windkrafträdern ...
Es gibt einfach schon so viele. Und nun erpressen praktisch die Windkraft- oder Windräderhersteller die Politik. Weil wir ja dann so und so viele Arbeitsplätze verlieren würden, wenn wir jetzt aufhörten zu produzieren. Es geht nicht mehr um die Sache.
Es geht nicht darum, sinnvoll Energie zu produzieren und zu speichern, sondern es geht einfach darum, einzelne Bereiche der Wirtschaft zu fördern. Und da ist zurzeit eben die Lobby für Windkraft und Solarenergie im Bundestag sehr stark – genauso wie die fürs Impfen.
Und da müssten die Kreise mehr Hoheitsgedanken haben und sagen: Dieser Kreis will das nicht. Macht doch in Hamburg, was ihr wollt, aber wir wollen uns nicht impfen lassen – oder wir wollen hier keine Windräder mehr haben.
Das hat der Kreis zu entscheiden und nicht jemand, der weit weg sitzt und überhaupt nicht betroffen ist. Ich nenne mich auch Direktdemokrat, das heißt:
Ich bin absolut dafür, dass der Wahlkreisabgeordnete, ob auf Bundes- oder Landesebene, seinen Wahlkreis zu vertreten hat und nicht seine Partei.
Und das haben die Parteien praktisch in den 1950ern schon weggebügelt. Das weiß kaum noch jemand, dass es diese Möglichkeit gibt. Also das Wahlrecht, das haben wir ja seit 1949.
Was passierte damals in den 1950er Jahren?
Das war bei der ersten Wahl in Flensburg. Ein Parteiloser hat es damals als einziger bundesweit geschafft, mithilfe der damaligen sehr starken dänischen Partei, dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW). Seither hat das keiner mehr erreicht. Und warum das so ist, das habe ich jetzt erlebt: Bei jeder Wahl wird sich darüber lustig gemacht, dass man als Unabhängiger antritt. Es hat überhaupt keiner nach sachlichen Inhalten oder so gefragt.
Ich war zum Beispiel im Jahr 2000 der Erste, der überhaupt eine Internetseite hatte, wo die Wähler sehen konnten, wofür ich stehe. Alle anderen hatten nichts, gar nichts. Die Leute geben denen einfach nur ihre Stimme, weil da CDU oder SPD vor dem Namen steht.
Aber das Wichtige ist doch, was dieser Kandidat überhaupt für den Kreis will. Und ich will mit der «Operation ganz unten» auch dieses Bewusstsein schärfen. Übrigens, parteilose Kandidaten stehen auf dem Stimmzettel immer ganz unten.
Ausschnitt aus dem Stimmzettel für die Bundestagswahl 2009 im Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde; Foto: Holger Thiesen
Wie kann «ganz unten» gewinnen?
Wie wir gewinnen können? Wenn sich jemand findet, der absolut darauf besteht, dass er parteilos ist und der auch für keine Partei wirbt, wie der Autor und ehemalige TV-Moderator Peter Hahne zum Beispiel. Wenn er sagt, er tritt im Kreis an, wo er wohnt, oder noch besser, im Wahlkreis, wo Friedrich Merz kandidiert – man darf sich ja den Wahlkreis aussuchen –, dann wäre das doch ein toller Auftakt.
Und dann gibt es noch in ganz vielen Wahlkreisen Menschen, die für «ganz unten» kandidieren, und den Wählern vermitteln, dass sie zwei Stimmen haben und nutzen können. Einmal für die Heimat, für ihre Region, also für ganz unten. Und einmal für die Partei ihrer Wahl. Das geht, das ist ja erlaubt. Erlaubt ist auch, nur Erststimme zu wählen.
Wenn wir es schaffen, dass die Menschen das erkennen und nicht einfach immer nur rechts und links in derselben Zeile ihr Kreuz machen, sondern in der ersten Spalte des Wahlzettels nach Person, nach Mensch abstimmen, und auf der rechten Seite die Zweitstimme nach politischer Richtung setzen. Dann sind wir einen guten Schritt weiter in Richtung direkte Demokratie.
Ich werde noch probieren, ein baldiges Gespräch mit Hahne hinzubekommen, damit er kandidiert. Einfach auch, um darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht um links, rechts oder die Mitte geht. Es geht darum, dass wir eine Stimme für unsere Region haben.
Wie kommt man auf den Wahlzettel?
Also das geht relativ einfach, deshalb steht mein Name da jedes Mal drauf. Ich habe das zuerst auch nicht geglaubt. Schlingensief hat eine Spiel-Ereigniskarte geschrieben, auf der stand:
«Werde Kandidat. Geh (über) los zum Kreiswahlleiter. Sag ihm, dass du für Erststimme kandidieren willst.»
Dann gibt der Kreiswahlleiter dir ein paar Formblätter und Blanko-Unterschriftenzettel. Man braucht mindestens 200 Unterschriften von Menschen aus diesem Wahlkreis, die damit die Kandidatur unterstützen. Wenn man die hat, steht man auf dem Stimmzettel ganz unten. Mehr braucht es nicht. Und das kann eben jeder machen. Und das wissen noch zu wenige.
Wie viele Wahlkreise gibt es in Deutschland?
299. Deshalb sage ich: 299-mal ganz unten – wenn wir es schaffen, für jeden Wahlkreis einen Menschen zu finden, der sagt, ich mache da einfach mal mit.
Und ich garantiere, dass wir auch viel Spaß haben werden. Denn die 299 brauchen all die Fehler, die ich schon hinter mir habe, nicht mehr zu machen.
Wie waren denn Ihre Erfahrungen?
Dass es total unfair zugeht. Ich komme ja aus dem Sport, und da geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um Fairness.
Bei meiner ersten Kandidatur für den Landrat beispielsweise wurde ich nicht zugelassen. Und der damalige Wahlleiter hat meine Beschwerde gegen die Nichtzulassung einfach umgeschrieben und dann weitergereicht. Das war im Jahr 2000.
Und mein Anwalt Carsten und ich saßen vor dem Wahlausschuss, der darüber entscheiden sollte, ob ich zugelassen werde oder nicht. Meine Beschwerde wurde vorgelesen, aber die war eben umgeschrieben. Da stand nichts von meinen Fähigkeiten oder dass ich eine Internetseite habe, wo sich Menschen informieren können. Das war alles gestrichen, dafür standen Dinge drin, die mich doch ein bisschen als zweifelhafte Person darstellten.
So, und dann wurde ich abgelehnt. Damals waren es CDU- und FDP-Leute, die im Wahlausschuss gegen mich stimmten. Also es ist ein parteiischer, korrupter Laden bis in die unterste Ebene.
Doch bei der Bundestagswahl funktioniert das anders, da können sie nicht verhindern, dass jemand als unabhängiger Kandidat antritt.
Bei der Zulassung zur Landratswahl wurde mir damals unterstellt, ich hätte ja keine Verwaltungskenntnisse, obwohl ich als bauleitender Architekt Großbaustellen betreute und verwaltete, diverse Baugenehmigungen erwirkte und hervorragende Zeugnisse vorlegen konnte. Zum Vergleich: Der zugelassene SPD-Kandidat war Grundschullehrer.
Und auch die Lokalzeitungen haben sich anfangs über mich lustig gemacht. Dann hatte ich sieben Prozent bei irgendeiner Wahl. Und ab da wurde ich bekämpft. Ich war sehr erfolgreich als Unternehmensberater in den 90ern und Anfang 2000. Da haben auch Leute von den Grünen damals dieses Gerücht aufgebracht, dass ich Scientologe sein könnte.
Aber Sie haben sich nicht beirren lassen ...
Mein Mentor und Trainer war Henning Lorenzen, der damals auch leitender Oberstaatsanwalt und ständiger Vertreter des Generalstaatsanwalts war. So habe ich nebenbei eine ganz gute juristische Ausbildung bekommen. Ich war zweimal in der Woche bei ihm im Oberlandesgericht. Und da haben wir Fälle durchgespielt – weil ich eben Spieler bin und einfach ganz logisch strategisch denke – wie ich reagiere, was ich machen würde. Und das haben wir x-mal gemacht.
Für diese Lösung, die ich jetzt habe, braucht man wirklich nur 200 Unterschriften, dann müssen sie dich auf den Zettel nehmen. Sind die Formalien richtig ausgefüllt, hat der Wahlausschuss keine Hinderungsmöglichkeit. Und deshalb wäre es irre, wenn wir es schaffen, 299 Menschen zu finden, die einfach sagen: «Okay, ich will diesen oder jenen Wahlkreis vertreten, weil er mir am Herzen liegt oder weil ich gegen Olaf Scholz gewinnen will oder weil ich Ideen und Lösungen für den Kreis kenne.»
Ich will das organisieren. Ich habe ja auch ein ziemlich gutes Netzwerk von Menschen, die die potenziellen Kandidaten der «Operation ganz unten» unterstützen können. Und ich werde die nächsten Monate durch die Republik reisen, um unabhängige Kandidaten zu motivieren und zu helfen, wo ich kann.
Wir werden eine gemeinsame Werbeaktion machen, die Kandidaten brauchen kein Geld aufzuwenden. Es geht nur um Zeit, um Know-how, also wer kann was. Und dann fangen wir ganz unten an, mit ganz viel Freude am Tun.
Wie viele Stimmen braucht ein unabhängiger Kandidat, um in den Bundestag einzuziehen?
Die Wahlkreise sind alle so geschnitten, dass es in jedem in etwa 200.000 Wahlberechtigte gibt, das muss laut Wahlrecht so sein.
Zum Beispiel im Kreis Rendsburg-Eckernförde, hier bei uns, hat beim letzten Mal einer gewonnen, ich glaube, mit 48.000 Stimmen. Das sind rund 25 Prozent der Wahlberechtigten. Also braucht der Gewinner eine Stimme mehr. Das geht nicht nach Prozenten, sondern es werden die Stimmen gezählt, und wer die meisten Stimmen hat, der ist Abgeordneter. Je mehr Kandidaten dabei sind, desto weniger Stimmen reichen für einen Sieg.
Wir haben noch ein Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl, am 28. September 2025, und es wird sowieso noch total chaotisch werden. Wir können es schaffen, dass sich haufenweise Leute melden, um mitzumachen. Ich werde Treffen dieser Kandidaten organisieren. Wir haben es im Kleinen schon 2005 probiert, da waren wir 50 Leute, die in Bamberg zusammenkamen. Das war eine absolut hochgradige Energie in dem Raum, und da haben wir auch diese Idee gehabt. Allerdings ist sie dann im Sande verlaufen, weil damals die Kommunikationsmöglichkeiten bei weitem noch nicht so waren wie heute. Das war alles zu träge, man konnte nicht schnell mal eine Videokonferenz machen.
Heute sind Kommunikation und Strukturen so gut, dass wir uns unten wirklich ein Riesenwurzelwerk bilden können. Und die Bürger erkennen, dass sie doppelt wählen können, einmal für ihre Heimat und einmal für die politische Richtung. Die wenigsten wissen, dass es so ist. Das bringt auf jeden Fall schon mal viel Aufmerksamkeit und Aufklärung, und mehr Leute beginnen sich zu wundern, wieso ihr jetziger Wahlkreiskandidat eigentlich nie im Wahlkreis zu sehen ist.
Wie kommt das?
Die stehen ja auch gleichzeitig auf der Parteiliste. Nur als Beispiel: Der hier gewählt worden ist, der stand gleichzeitig auf der Liste in der SPD recht weit oben. Der wäre sowieso in den Bundestag gekommen. Der hat also überhaupt keine Motivation.
Die Parteien wählen auf der sogenannten Aufstellungsversammlung, wer an Platz eins und zwei und drei steht. Jedes Bundesland macht eine Aufstellungsliste. Danach werden, je nachdem wie viel Prozent die Partei kriegt, die Sitze verteilt, und es wird von oben abgezählt, eins, zwei drei, vier, fünf und so weiter.
Wenn die SPD jetzt fünf Sitze hätte, dann würden die ersten fünf Listenplätze reinkommen. Und sollte sie auch bei der Erststimme den ersten Platz bekommen und der Kandidat steht unter den ersten fünf Listenplätzen, dann kriegen sie sogar noch den sechsten. Es ist für eine Partei wichtig, dass sie möglichst viele Erststimmabgeordnete bekommen, damit sie insgesamt ihre Liste verlängern können.
Die Erststimmgewinner sind gesetzt, die haben garantiert einen Platz im Parlament, weil sie direkt gewählt sind. Die Zweitstimmen sind davon abhängig, wie viel Prozent ihre Partei bekommt.
Und wenn jemand als Wahlkreisabgeordneter aus einer Partei kommt, dann befindet er sich dauernd im Interessenkonflikt. Und wenn ein Mensch im Interessenkonflikt ist, dann trifft er entweder irre oder keine Entscheidungen. Und wenn man das über Generationen macht, wie jetzt, die letzten Generationen, dann kommt nur noch Murks raus.
Können sich unabhängige Kandidaten für «ganz unten» bei Ihnen melden?
Wir haben eine Chance, davon bin ich wirklich felsenfest überzeugt, sonst würde ich das nicht machen und Zeit und Geld reinstecken. Und ich bin natürlich auch neugierig, wie so ein Experiment ausgeht, wenn wir es schaffen, dass die Menschen über «ganz unten» sprechen. Wenn jemand mitmachen will, als Kandidat oder Helfer, kann er oder sie sich einfach bei mir melden: [email protected]. Und dann treffen wir uns in Bayern, in Berlin oder wo auch immer. Ich fahre herum und werde einfach mit den Leuten sprechen, die Regeln erklären und wie sie sich bekannt machen. Ein Vorteil ist auch, dass Erststimmkandidaten zu den Talkrunden auf Kreisebene eingeladen werden.
Suchen Sie die Kandidaten aus?
Nein, ich suche überhaupt nichts aus. Die möglichen Kandidaten stellen sich in ihrem Wahlkreis vor, nur regional. Ich maße mir nicht an, reinzureden, was für einen anderen Wahlkreis gut ist. Ich will ja weg von der parteipolitischen, hin zur regionalen Schiene.
Es geht darum, dass der Bundestag davon erfährt, was in den Regionen wichtig ist, und entsprechend mal anders reagiert.
Und wenn in einem Wahlkreis zum Beispiel zwei oder drei unabhängige Leute kandidieren wollen, dann wird vorher die Regel festgelegt, dass der Vorrang hat, der die meisten Unterstützerunterschriften sammelt.
Das heißt, ich will natürlich auch, dass wir endlich mal wieder einen fairen Wettbewerb haben. Und wenn dann einer zum Beispiel 300 Unterschriften sammelt und die anderen nur 250, dann hat der natürlich mehr Energie aufgewandt und hat auch mehr Kontakte, dann wird der natürlich favorisiert.
Und das nenne ich direkte Demokratie. Der hat sich gut organisiert, der hat Leute, die für ihn werben und ihn bekanntmachen. Und wenn drei Leute in einem Kreis unterwegs sind und Unterschriften sammeln, da fragen die Wähler, was «ganz unten» ist und so weiter.
Ich will die Wahlen neu aufstellen, damit es wieder spannend wird. Ohne Spannung verabschieden sich die Leute.
Überregional soll dann was passieren?
Wir klären darüber auf, was dieser für den Wahlkreis gewählte Mensch überhaupt für eine Aufgabe hat. Und zweitens machen wir die Leute darauf aufmerksam, dass sie zwei Stimmen haben und dass diese zweifachen Wert haben, also einmal für die Heimat und einmal für eine Partei.
Wir wollen den Wählern vermitteln, dass sie ihre Erststimme den unabhängigen Kandidaten ganz unten geben können. Dass es sich um parteilose Abgeordnete handelt, die sich für ihren Wahlkreis einsetzen.
Und ich will Menschen ermutigen, einfach erst mal aus dem Nichts anzufangen. Wir haben diese Möglichkeit.
Wie ist der Zeitplan für das Projekt?
Es handelt sich um kein Projekt, es ist eine Operation. Das ist eine wichtige Unterscheidung: «Operation ganz unten».
Einen Bauplan fängt man immer mit der Fertigstellung an. Das ist zum Beispiel auch eine grundsätzliche Sache, die ich als Architekt gelernt habe. Jetzt brauchen wir noch keinen Wahl-Zeitenplan, der wird in den kommenden Wochen wachsen. Unser erster Zug ist: Bis Silvester 299 Menschen finden, die sagen, ich mache mit – entweder selbst als Kandidat oder als Sekundant im Team eines Kandidaten.
Wir werden auf der Karte jeden Kreis markieren, wo wir einen Kandidaten haben. Und dann werden wir in den Kreisen Umfragen starten, in Vereinen und Wählergemeinschaften vorsprechen und so weiter. Wir bauen ja praktisch eine Lobby für ganz unten.
Das ist also mein Ziel, spätestens zu Silvester 299 Leute zu haben, die ein bisschen Arsch in der Hose haben und mitmachen.
Und danach kommt der nächste Punkt, die Formalitäten erledigen. Wenn wir diese 299 Kandidaten zusammenkriegen, brauchen wir da höchstens vier Wochen dafür. Dann sind wir so gut im Zeitplan wie keine der Parteien. Parallel dazu geht es in die Details, wie schaffen wir es, in die Medien zu kommen und so weiter. Das Land soll davon sprechen, dass die Hälfte der Parlamentarier parteilos ist. Das ist das Ziel.
Und die Kreise helfen einander. Das Zentrale ist nur das Logistische. Wenn Logistik oder Geld fehlt, kann ich mich darum kümmern, wie und von wem wir das bekommen. So was kann ich.
Was muss ein unabhängiger Kandidat von ganz unten mitbringen?
Er muss wirklich Idealist sein und sich für seine Region, für seine Heimat, für seinen Kreis einsetzen wollen. Wenn der Mensch das mitbringt, dann reicht das.
Das ist meine 13. Wahl jetzt. Und ich weiß, dass es überall Menschen gibt, die voll Energie sind, die nur befreit werden will. Manche haben oft nur noch nicht den Mut zu sagen, okay, ich mache jetzt mit.
Allein die Zeit, das zu machen, lohnt sich – ohne zu überlegen, was rausspringt oder rumkommt. Je mehr mitmachen, umso schöner wird es. Und wir haben keinen Parteienstreit, denn jeder Wahlkreis entscheidet für sich. Die Leute im Kreis einigen sich, wen sie aufstellen – zum Beispiel den, der die meisten Unterschriften gesammelt hat.
Und wenn die Menschen mitkriegen, dass sie direkten Einfluss darauf haben, wer auf den Stimmzettel kommt, dann ist das der erste Schritt.
69 Tage vor der Wahl muss alles fertig sein, etwa dreieinhalb Monate vorher. Ende September ist die Wahl, wenn sie nicht vorgezogen wird, was ich fast vermute. Insofern haben wir ein bisschen aufs Gaspedal zu drücken – sicherheitshalber. Gehen wir davon aus, dass die Formalitäten im März fertig sind, und parallel dazu können wir schon die Werbestrategie entwickeln.
Gibt es da schon erste Ideen?
Der grundsätzliche Gedanke ist: Wir wollen ein lokales Europa und keine zentrale EU. Denn echte Vielfalt entsteht dadurch, dass ich allen Regionen Freiheit gebe.
Vielfalt ist, wenn ich nach Bayern fahre und dort was anderes serviert bekomme als hier im Norden.
Es geht darum, dass Heimat wichtiger ist als die große Politik. Es kann nicht sein, dass die Politik uns vorschreibt, wie wir zu leben haben. Was in Bayern richtig ist, das muss woanders überhaupt nicht richtig sein.
Sozusagen lokal statt zentral?
Ja, genau. Damit die Entscheidungshoheit bei den Kreisen liegt und wir ein lokales Europa haben. Es kann nicht sein, dass Brüssel uns vorschreibt, wie krumm oder lang unsere Gurken sind. Wir dürfen alles verkaufen, was hier wächst, das soll die Region entscheiden und nicht irgendeiner, der weit weg sitzt.
Aus meiner Sicht müssten Politiker eine gewisse Lebenserfahrung und wirklich eine Berufszeit gehabt haben, möglichst auch Eltern gewesen sein, um wirklich diese ganzen Phasen des Lebens aus ihrer Erfahrung heraus zu beurteilen.
Bürgermeister werden ja auch in der Regel ein bisschen danach gewählt, wie erfahren sie sind. Und erst in der großen Politik, wo alles ganz anonym ist, weiß keiner mehr, wie die Leute überhaupt da hinkommen. Wie Ricarda Lang, die in ihrem Wahlkreis nur rund elf Prozent der Direktstimmen bekam. Erst über die Liste ist sie in den Bundestag gekommen und ist jetzt Bundesvorsitzende der Grünen. Wie kann das sein? In ihrer Heimat überhaupt nicht anerkannt, aber darf jetzt große Politik machen. Und das wäre bei direkter Demokratie eben nicht möglich, da muss man seinen Wahlkreis gewinnen.
Die «Operation ganz unten» klingt nach einem Mittel gegen Resignation und Politikverdrossenheit ...
Ja, auf jeden Fall. Viele haben resigniert. Und das kenne ich im Sport eben nicht: Wenn die Übermacht groß ist, gibt es trotzdem irgendwo eine Chance, wenn ich immer weiter trainiere. Irgendwann macht der andere Fehler. Und zurzeit machen die Altparteien ja nur noch Fehler.
Ich behaupte, dass ich wirklich eine Lösung gefunden habe, wie wir – also die Parteilosen meine ich damit, völlig wurscht, welche politische Richtung – uns wirklich einmischen können.
Und wenn wir es zum Beispiel schaffen 50 Unabhängige in den Bundestag zu bekommen, dann bilden diese Abgeordneten die Fraktion der Parteilosen – also ohne Fraktionszwang natürlich. Und dann hat man plötzlich Einfluss. Das ist doch geil.
Ich habe natürlich auch Tage gehabt, wo ich gesagt habe, das ist alles Wahnsinn, das ist alles Energieverschwendung. Nur mir fällt eben noch nichts Besseres ein, als einfach zu machen. Und ich will mich mit Menschen treffen, die einfach auch Lust auf Machen und Ausprobieren haben, und die sagen, machen wir das ganz unten einfach so.
Die «Operation ganz unten» ist ein Ansatz. Und dadurch werden sich wieder neue Netzwerke bilden. Ich brenne auf jeden Fall dafür und will den Leuten Mut machen.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
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