Am 30. Juni 2025 griff die israelische Armee das Internetcafé Al-Baqa in Gaza-Stadt an und tötete mindestens 39 Menschen, darunter Zivilisten und Journalisten. Die israelische Armee (IDF) rechtfertigte das Massaker wie üblich mit der Behauptung, sie habe mehrere Hamas-Aktivisten ins Visier genommen. Laut L’Indipendente war das bombardierte Internetcafé aber nicht als «Terroristenversteck» bekannt, sondern dafür, dass es von vielen palästinensischen Journalisten besucht wurde. Unter den Opfern war der Zeitung zufolge auch Ismail Abu Hatab, ein bekannter palästinensischer Fotojournalist. Seine Reportagen aus dem Gazastreifen seien im vergangenen April in einer Ausstellung in Los Angeles gezeigt worden.
Bilder vom Schauplatz des Massakers im Internetcafé verbreiteten sich schnell, darunter die der überlebenden palästinensischen Journalistin und Aktivistin Bayan Abu Sultan, deren Gesicht und Kleidung auf den Fotos blutverschmiert sind. Wenige Tage danach begannen die Medien mit einem Gegenangriff. Am 1. Juli 2025 gehörte der X-Account des Portals Gazawood zu den ersten, die die Angelegenheit in Zweifel zogen. Dabei ließ es die als Pallywood – eine Mischung aus «Palästina» und «Hollywood» – bekannte Verschwörungstheorie wieder aufleben, wonach alles in Gaza ein abgekartetes Spiel ist und die Palästinenser Tragödien inszenieren, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.
Die italienische Zeitung Libero folgte diesem Beispiel und behauptete, es handele sich um eine Inszenierung. Gazawood selbst teilte dann einen Screenshot des Artikels. Als «Beweis» diente ein Video, das in einer geschlossenen Umgebung – nicht im Café – gefilmt wurde, in dem Bayan angeblich zu sehen ist, wie sie sich «vorbereitet», das heißt wie sie sich laut Libero wie auf einem Filmset schminkt und wie sie mit falschem Blut bespritzt wird.
Tatsächlich wurde das Video aber nach dem Angriff veröffentlicht und zeigt die Frau mit Pflastern am Arm, die auf den vorherigen Fotos, die ebenfalls nach dem Angriff gemacht wurden, nicht zu sehen sind. Ein weiteres Video, in dem die Szene aus einem anderen Blickwinkel zu sehen ist, zeigt Bayan mit blutverschmierter Kleidung. Ein weiterer Clip zeigt, wie die Frau vor einem Spiegel versucht, das Blut aus ihrem Gesicht zu entfernen. Diese Szene geht derjenigen voraus, in der sie beschuldigt wird, die Inszenierung vorbereitet zu haben.
Der Unterschied im Farbton des Blutes auf ihrer Kleidung entspricht zudem der natürlichen Oxidation von Blut an der Luft. «Nichts, was sich nicht mit einem Minimum an gesundem Menschenverstand überprüfen ließe», kommentiert L’Indipendente. Selbst der italienische «Fact Checker» Open hat dieser absurden Verschwörungstheorie einen ausführlichen Artikel gewidmet, um sie zu entlarven.
Das Ende 2023 gegründete Projekt Gazawood, das im Zentrum dieser Desinformationskampagne steht, verfolgt das Ziel, jede Berichterstattung aus dem Gazastreifen als Inszenierung darzustellen. Laut L’Indipendente steht hinter dem Portal der ehemalige Fantasy-Autor Idan Knochen. Es werde von prominenten Figuren der «Desinformationsgalaxie» unterstützt: dem US-amerikanischen Professor Richard Landes, einem Vertreter der Pallywood-These, und dem Ex-General Yossi Kuperwasser, ehemals Leiter des israelischen Ministeriums für strategische Angelegenheiten. Die Gruppe operiere nach einem simplen, aber wirksamen Prinzip: Sie analysiere Videos aus Gaza, reiße sie aus dem Kontext, hebe nebensächliche Details hervor und rufe reflexartig «Fälschung».
Doch selbst laut der israelischen Investigativorganisation Fake Reporter sind diese Vorwürfe überwiegend haltlos. Eine Untersuchung von über 730 Beiträgen zwischen Dezember 2023 und August 2024 ergab, dass nur rund 5,75 Prozent der Inhalte auf belegbaren Fakten beruhen. Der Rest ist Desinformation – «garniert mit zynischem Spott über verletzte oder getötete Kinder», ergänzt L’Indipendente. Gazawood entpuppt sich somit als systematische Propagandamaschinerie, die gezielt Zweifel an der Realität des Leids in Gaza säen will. Die Zeitung schließt:
«Die Anschuldigungen gegen den palästinensischen Aktivisten Bayan Abu Sultan entbehren jeglicher Grundlage. Das Video, das zur Untermauerung der Verschwörungstheorie verwendet wird, ist kein ‹Backstage›-Material, und die kurz nach dem israelischen Angriff aufgenommenen Bilder bestätigen die Anwesenheit der Frau am Schauplatz des Massakers, die Wunden an ihrem Arm und die Blutflecken auf ihrer Kleidung. Im Strudel der Kriegsinformationen wird die Realität oft von giftigen Medienkonstruktionen verschluckt. Wie Hannah Arendt erinnerte, besteht der Zweck der ständigen Lügen nicht darin, die Menschen dazu zu bringen, eine Lüge zu glauben, sondern dafür zu sorgen, dass niemand mehr an irgendetwas glaubt. Und in diesem speziellen Fall, dass man sogar die Gräueltaten der israelischen Armee in Gaza anzweifelt.»