Es war augenscheinlich eine Geschmacklosigkeit der westlichen Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich diese am 6. Juni zur Feier des 80. Jahrestages der Eröffnung der «Zweiten Front» gegen das faschistische Deutschland, also des «D-Day» leisteten. Nicht nur war Russland als Rechtsnachfolger des alliierten Siegers Sowjetunion, der einst die Hauptlast im Kampf gegen die Deutschen trug, nicht eingeladen.
Dem wurde noch eins obendrauf gesetzt, indem der Kiewer Präsidentendarsteller Wolodymyr Selenskyj zu den Feierlichkeiten in der Normandie eingeladen wurde. Dabei wurde nicht nur ignoriert, dass in Kiew Ultranationalisten und Neofaschisten das Sagen haben, die notfalls auch Selenskyj unter Druck setzen: Die ukrainischen Truppen kennzeichnen im Krieg gegen die russischen Einheiten ganz offen ihre Kampffahrzeuge mit dem Balkenkreuz, das einst die faschistische Wehrmacht benutzte.
Selenskyj vollendete die Geschmacklosigkeit und historische Amnesie, indem er einen Tag später in der französischen Nationalversammlung Russlands Präsident Wladimir Putin erneut mit Adolf Hitler gleichsetzte und ihm dessen Eroberungsstreben zuschrieb. Russland sei ein «gemeinsamer Feind» und der russische Präsident Putin errichte ein «Anti-Europa», durfte der Präsidentendarsteller ohne offenen Widerspruch sagen.
Kritiker des Geschehens werten es als Teil des westlichen Versuchs, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umzuschreiben. Es werde versucht, den großen Anteil der Sowjetunion am Sieg über den deutschen Faschismus ebenso vergessen zu machen wie die mehr als 27 Millionen sowjetischen Opfer des faschistischen Vernichtungskrieges.
Doch ein genauer Blick zeigt: Damit wird der alte westliche Krieg gegen Russland und später die Sowjetunion fortgesetzt, der auch dann nicht endete, als beide Seiten im Zweiten Weltkrieg Alliierte gegen den deutschen Faschismus waren. Damit wird offen bestätigt, worum es den westlichen Mächten schon immer ging und geht. Davon zeugt unter anderem das Buch «Zweite Front» des ehemaligen sowjetischen Diplomaten Valentin Falin aus dem Jahr 1995.
Falin beschrieb darin die Interessenskonflikte innerhalb der Anti-Hitler-Koalition, die aus seiner Sicht auf eine wichtige Frage hindeuten: Gab es in dieser Koalition eine gegen die Sowjetunion gerichtete Interessengemeinschaft zwischen Großbritannien und den USA? Er verwies darauf, dass eine gemeinsame Strategie der Alliierten erst ab 1943 entwickelt wurde, als sich das Ende des faschistischen Dritten Reiches abzeichnete – in Folge der zunehmenden Siege der Roten Armee gegen die faschistische Wehrmacht.
Für den damaligen britischen Premier Winston Churchill und die reaktionär eingestellte Umgebung von US-Präsident Franklin D. Roosevelt war «Sowjetrussland zu einer tödlichen Gefahr für die freie Welt geworden», so Falin. Er zitiert aus Churchills Memoiren, in denen dieser forderte, dem sowjetischen «Gewaltvormarsch unverzüglich eine neue Front entgegenstellen».
«Diese Front war so weit im Osten Europas zu errichten wie möglich», sagte demnach der damalige britische Premier. Falins Frage kann aus meiner Sicht heute mit einem klaren Ja beantwortet werden. Insofern ist das Schmierentheater mit dem Schauspieler Selenskyj in der Normandie vor wenigen Tagen nichts Neues, sondern die Fortsetzung von etwas Altem.
Dieses Alte, der Kampf des Westens gegen Russland im Osten auch im zweiten Weltkrieg, wurde mir bereits klar, als ich vor einigen Jahren das Buch «Die Große Täuschung – Hitler, Stalin und das Unternehmen ‹Barbarossa›» des Historikers Gabriel Gorodetsky aus dem Jahr 2000 las: Die Alliierten in West wie Ost dachten aus verschiedenen Gründen lange nicht daran, einen Krieg zu führen, um Europa von den deutschen Faschisten und die von den deutschen Faschisten Versklavten zu «befreien» und die Ermordeten zu rächen.
Erst als das faschistische Deutschland ihre Einflusssphären und Territorien bedrohte und überfiel, griffen auch sie zu den Waffen. Und die ruhmreiche Sowjetarmee kämpfte für Mutter Heimat und nicht für das Glück der Menschheit.
In dem empfehlenswerten Buch ist anhand zugänglicher Akten viel darüber zu erfahren, warum Stalin so lange wie möglich mit Hitler zu verhandeln versuchte. Und darüber, dass er für das Ziel, den von Hitler selbst Jahre zuvor angekündigten Krieg von der UdSSR fernzuhalten, alles zu tun bereit war.
Gordetsky beschrieb auch einen Wettlauf des Misstrauens zwischen den späteren Alliierten und belegte, warum die Sowjetunion damals in dieser Weise handelte und im August 1939 den Nichtangriffsvertrag mit dem faschistischen Deutschland abschloss. Zu den allgemein verschwiegenen historischen Tatsachen gehört: Sie war das letzte Land, das damals diesen Schritt ging.
Auch bei diesem Thema wird die Vorgeschichte weggelassen: Zuvor hatte Moskau lange Zeit versucht, gemeinsam mit den westlichen Staaten eine kollektive Sicherheitspolitik gegenüber dem faschistischen Deutschland zu gestalten. Das scheiterte spätestens mit dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938, wie die Historikerin Bianka Pietrow-Ennker in dem 2000 veröffentlichten Sammelband «Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion» feststellte.
«Wir waren das letzte europäische Land, das einen Nichtangriffspakt mit Deutschland geschlossen hat», erklärte der russische Historiker und Politiker Wjatscheslaw Nikonow dazu in einem Interview im Mai 2020. Er ist der Enkel des früheren sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow, der 1939 den sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrag unterschrieben hat.
«Das Problem war, dass England und Frankreich wollten, dass die Sowjetunion und Hitler-Deutschland kämpfen. Zu diesem Zweck haben sie alles getan. Es gab eine regelrechte Beschwichtigungspolitik gegenüber dem aggressiven Deutschland. Gleichzeitig erweckten sie den Anschein von Verhandlungen mit der Sowjetunion. Aber niemand wollte ein Abkommen mit uns schließen.»
Bevor die westlichen Mächte später die Anti-Hitler-Koalition mit dem überfallenen Land bildeten, hofften sie, dass das auch mit ihrer Hilfe wiederaufgerüstete Deutschland seiner zugedachten Rolle als «Bollwerk gegen den Bolschewismus» gerecht werden würde. Auf diese Rolle hatte bereits 1920 der US-amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen hingewiesen.
In seiner 1920 veröffentlichten Rezension des Buches «Die ökonomischen Folgen des Friedens» von John Maynard Keynes über den Versailler Vertrag beschrieb Veblen klar, worum es bei dem Vertrag eigentlich ging: Nämlich darum, «das reaktionäre Regime in Deutschland wiederherzustellen und es zu einem Bollwerk gegen den Bolschewismus zu machen». Die «zentrale und verbindlichste Bestimmung» des Vertrags und des Völkerbundes sei «eine uneingestandene Klausel» gewesen, «durch welche sich die Regierungen der Großmächte zur Unterdrückung Sowjetrusslands zusammentun».
Und so bestätigte 1937 der britische Politiker Edward Frederick Lord Halifax bei seinem Besuch von Adolf Hitler auf dem Obersalzberg, was Veblen 1920 voraussagte: Hitler habe dem Kommunismus den Weg nach Westeuropa versperrt, indem er ihn im eigenen Land vernichtete. Daher könne «mit Recht Deutschland als Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus angesehen werden», so Halifax damals.
Dazu gehört auch, was der italienischstämmige Ökonom Guido Giacomo Preparata 2005 in seinem Buch «Conjuring Hitler» (auf Deutsch 2010: «Wer Hitler mächtig machte») schrieb: Schon seit etwa 1900 sei für die britischen Eliten klar gewesen: Sie würden es niemals zulassen, dass Deutschland und Russland zusammenkämen, egal in welcher Form – weil ein verbundenes Eurasien mit seinem Potenzial «für die Vorherrschaft des britischen Empires eine tödliche Bedrohung» darstellen würde. Preparata, der viele Jahre in den USA gelebt und gearbeitet hat, stellte fest:
«Die gegenwärtige Geopolitik der Vereinigten Staaten ist eine unmittelbare und völlig schlüssige Fortsetzung der alten imperialen Strategie Großbritanniens.»
Wie einst Deutschland soll nun die Ukraine samt Faschisten als Bollwerk gegen das heutige, nicht mehr kommunistische Russland dienen. Dazu wird sie missbraucht, aufgerüstet und zerstört. Nebenbei wird Deutschland wieder auf US-Kurs gebracht. Wenn auch der Bolschewismus Geschichte ist, ist Russland immer noch der Feind: Weil es bis heute nicht bereit ist, sich einfach dem Westen unterzuordnen.
Wie damals wird dieser Versuch scheitern, den aber viele Menschen auf beiden Seiten mit dem Leben bezahlen. Die Interessen dahinter sind die gleichen wie vor 110 Jahren beim Ersten Weltkrieg und vor mehr als 80 Jahren beim Zweiten Weltkrieg. Insofern war das Schmierentheater mit dem Hauptdarsteller Selenskyj vor wenigen Tagen abstoßend, aber nicht überraschend und gewissermaßen sogar folgerichtig.
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