Die Reaktionen auf den Wahlsieg des nationalkonservativen Karol Nawrocki sind drastisch – besonders in westlichen Medien.
«Hemmungsloser Rechtspopulismus!», «Das liberale Europa steht der Herausforderung durch Populisten planlos gegenüber. So erschütternd, wie der Wahlsieg des nationalkonservativen Präsidentschaftskandidaten Karol Nawrocki ist die Hilflosigkeit seiner Gegner.»
So titeln Kommentatoren von Hamburg bis Zürich. Vom Wahlergebnis selbst, von den Gründen der Wähler und vom Zustand der polnischen Gesellschaft erfährt man dabei wenig. Stattdessen wird oft mit moralischer Empörung geurteilt – in einer Tonlage, die wenig mit journalistischer Analyse, aber viel mit Gesinnungsbekundung zu tun hat.
Dabei lohnt ein nüchterner Blick: Nawrocki, Kandidat der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), hat in einer demokratischen Wahl gewonnen – mit einer knappen, aber legitimen Mehrheit. Die Wahlbeteiligung lag hoch, der Ablauf wurde von unabhängigen Beobachtern nicht beanstandet. Der unterlegene Kandidat Rafał Trzaskowski hatte sich früh zum Sieger erklärt – ein klassisches Eigentor –, während Nawrocki im Laufe des Abends die Oberhand gewann. Es war ein enges Rennen, aber das Resultat wurde von beiden Seiten problemlos als demokratisch zustande gekommen anerkannt.
Dennoch ist der Ton, in dem dieser Wahlausgang kommentiert wird, bezeichnend. Der Präsident sei ein «Hooligan», schreibt etwa Tamedia.
«Eine Katastrophe für die Demokratie», meint der deutsche Journalist Georg Restle. «Auch der Sieg der Nazis in Deutschland war das Ergebnis einer Wahl und deren Folgen. Demokratie ist mehr als nur ein Verfahren.»
Solche Urteile disqualifizieren weniger den Gewählten als die Kommentatoren selbst. Zum Mitschreiben:
Hitler wurde nicht gewählt, Hitler wurde von konservativen Kreisen in den Sattel gehoben. Die NSDAP kam selbst unter nur noch halbweges demokratischen Verhältnissen nie auch nur in die Nähe der absoluten Mehrheit. Im Januar 1933 bildete Hitler eine Koalitionsregierung mit konservativen Parteien. Im Februar 1933 erließ Reichspräsident Paul von Hindenburg die Reichstagsbrandverordnung, die de facto die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzte. Diese Verordnung ermöglichte die Verfolgung politischer Gegner der NSDAP, vor allem Kommunisten, und legte die Grundlage für die Errichtung einer Diktatur.
Trotz großer Einschüchterungen kamen die Nazis im März 1933 nicht einmal in die Nähe der absoluten Mehrheit. Konservative Parteien verhalfen dann dem Ermächtigungsgesetz zu einer Mehrheit, das der Regierung Hitler praktisch unbeschränkte Macht verlieh.
Soweit die Korrektur der Fake News von Restle. Es ist nicht zu fassen, welchen Unsinn durch deutsche Zwangsgebühren finanzierte Journalisten erzählen dürfen. Deutsche Kommentatoren wären auch insofern gut beraten, in Bezug auf Polen Zurückhaltung zu üben, als Deutschland für Polen angesichts der vier Teilungen innerhalb von 200 Jahren ein Teil des Problems war.
Was fehlt, ist somit eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage: Warum hat sich eine Mehrheit der Polen für Nawrocki entschieden? Wer Polen kennt, weiß, dass das Land in einem tiefen gesellschaftlichen Spannungsfeld steckt: zwischen nationaler Identität und europäischer Integration, zwischen konservativen Werten und urbanem Liberalismus, zwischen katholischer Tradition und säkularem Fortschritt.
In dieser Gemengelage hat Nawrocki vielen Polen das Gefühl vermittelt, gehört und vertreten zu werden – besonders jenen außerhalb der Großstädte, in Regionen, die sich vom westlich-liberalen Diskurs übergangen fühlen. Die Wähler sahen in ihm offenbar eine stärkere, klarere Führungspersönlichkeit als im blass gebliebenen Trzaskowski, der eher für das urbane, EU-nahe Milieu stand.
Liberale Regierungen haben das Land wirtschaftlich zum Blühen gebracht. Schon vor 2016 unter dem jetzigen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Allerdings ist dabei die Sozialpolitik auf der Strecke geblieben.
Errungenschaften, die zu den Zeiten der kommunistischen Herrschaft eingeführt wurden - Sozialpolitik und Arbeitnehmerrechte –, sind sukzessive geschleift worden. Ab 2016 unternahm dann die nationalkonservative Regierung der PiS, der Nawrocki angehört, hier gewisse Korrekturen vor, die durchaus geschätzt wurden – trotz Dauerclinch mit der Justiz. Seit dem letzten Jahr ist wieder eine Koalition unter dem Liberalen Tusk am Ruder – und kriegt nun wieder einen konservativen Präsidenten. «Cohabitation» nennt man das in Frankreich, einem Land, das Erfahrung mit diesen Konstellationen hat.
Man kann das beklagen oder feiern – aber man sollte es erst einmal verstehen wollen. Die reflexhafte Verurteilung des Wahlergebnisses als «Rückschritt» verkennt, dass liberale Demokratien nicht davon leben, dass immer die «richtigen» Kandidaten gewinnen, sondern davon, dass Wahlen frei, fair und akzeptiert sind – auch wenn das Ergebnis nicht der eigenen Meinung entspricht.
Was also sagt dieser Wahlsieg über Polen? Sicher nicht, dass das Land «verloren» ist. Er zeigt vielmehr, dass es dort, wie überall einen Wettstreit um politische Deutungshoheit gibt – und dass dieser derzeit von einer konservativen Strömung getragen wird, die von vielen Bürgern nicht als «extrem», sondern als notwendig empfunden wird.
Was sagt das über Europa? Vielleicht, dass ein selbsternanntes liberales Zentrum seine Glaubwürdigkeit verspielt, wenn es nur noch Urteile fällt, statt zu verstehen sucht. Und vielleicht auch, dass es an der Zeit wäre, journalistische Tugenden wie Analyse, Differenzierung und Neugier wiederzuentdecken – anstelle von Empörung, Herablassung und moralisierender Belehrung.
Denn eines ist sicher: Demokratie ist auch, wenn das Ergebnis nicht gefällt. Noch ist Polen nicht verloren!