Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer – diese Erkenntnis malte Francisco de Goya 1797 als Bild. Ein Mann schläft am Schreibtisch, ermüdet anscheinend vom Schreiben, während hinter ihm aus dem Dunkeln die Ungeheuer in Fledermausgestalt auftauchen.
Dieses Bild und seine Aussage illustrieren den Titel des kürzlich erschienenen neuen Buches der Publizistin Daniela Dahn. Aus ihrer Sicht trifft beides auch auf unsere heutige Zeit zu:
«Die heutigen Ungeheuer sind so bedrohlich wie selten in der Geschichte: die Erosion der Demokratie von rechts und durch Fake News in den Debattenräumen, der Klimawandel, ein Krieg, der uns in eine weltumspannende Katastrophe reißen kann.»
Die Publizistin versteht ihr Buch als «Weckruf in Zeiten des Albtraums». Sie setzt sich darin mit dem Aufruf der Regierenden in Deutschland, die Gesellschaft und das Land sollten «kriegstüchtig» werden, ebenso auseinander wie mit dem Aufstieg der AfD und Ostdeutschland sowie der um sich greifenden Russophobie.
Sie macht das in der von ihr gewohnten Art und Weise, pointiert und genau recherchiert, klare Worte nicht scheuend und immer auf der Suche nach den Alternativen zu den beschriebenen Zuständen und Entwicklungen. In ihrem neuen Buch greift sie dabei auch auf das Gedankengut von Immanuel Kant und von Baruch Spinoza zurück, deren Anregungen für Vernunft und Aufklärung Dahn aufgreift.
Daniela Dahn (links) und Susan Neiman (Foto: Tilo Gräser)
Kürzlich stellte sie es in Berlin vor, in einer gemeinsamen Veranstaltung der «Internationalen Agentur für Freiheit» (IAFF) mit der jüdischen linken Philosophin Susan Neiman, die aus den USA stammt. Die Publizistin las Textausschnitte vor und sprach mit der Philosophin über einzelne Aspekte, bevor beide mit dem Publikum diskutierten – und auch Widerspruch ernteten.
Das Buch ist nicht groß und hat nur 193 Seiten, aber es ist inhaltlich gewichtig und beschäftigt sich mit verschiedenen Themen. Diese konnte die Autorin bei der Buchvorstellung immer nur anreißen, obwohl jedes einzelne abendfüllend sein könnte.
Sie zitierte zu Beginn den Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der in seinem Roman «Exil» feststellte:
«Was für eine geringe Rolle im geistigen Gesamthaushalt eines Menschen spielt die Vernunft und was für eine ungeheure das blinde Gefühl.»
Dahn erklärte, dass sie bei ihrem Verständnis von Vernunft diese als Fähigkeit sehe, «all sein Wissen in den Dienst eines Allgemeinwohls zu stellen, das die Voraussetzung für die freie Entwicklung eines jeden ist». Die Moral spiele dabei immer eine Rolle und es sei wichtig, zu beachten, dass Moral auch immer missbraucht werde, zum Beispiel bei der Vorbereitung der Bevölkerung auf einen Krieg.
Sie selbst orientiert sich bei der Definition des Gemeinwohls an den entsprechenden Werten des Grundgesetzes, wie sie im Buch schreibt: «Würde, Frieden, Wohlstand auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit, bürgerliche Freiheiten und eine Demokratie, in der das Volk seine Souveränität nicht ausschließlich an Parteirepräsentanten delegiert». Das gelte für alle Gesellschaftsformen in der Geschichte und Gegenwart, betonte sie.
Bei der Buchvorstellung im Berliner «Sprechsaal» las Dahn Ausschnitte aus den Kapiteln zum Krieg allgemein und dem in der Ukraine, zur kapitalistischen «Fassadendemokratie» und zum Rechtsruck in der Gesellschaft sowie zum Rassismus und dem Antisemitismus. Auch die Verhältnisse in Ostdeutschland, mit denen sie sich in ihren Büchern seit 1990 auseinandersetzt, kamen zur Sprache.
Die Publizistin stellte fest, «Krieg ist ebenso eine Kapitulation vor dem Verstand wie das Abgleiten ins Totalitäre». Es sei der von einflussreichen Kräften gestützte Faschismus gewesen, der zum Zweiten Weltkrieg geführt hat.
Das ist einer der Punkte, wo ihr zu widersprechen oder sie zu ergänzen wäre, denn der Faschismus war das Mittel derjenigen Kräfte des Kapitals, die Krieg wollten. «Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen», hatte schon 1939 Max Horkheimer geschrieben.
Mit Blick auf die Gegenwart diagnostizierte Dahn, dass die «Scheindemokratie» erodiere, was sich auch am Aufstieg der «Alternative für Deutschland» (AfD) zeige. Sie warnte, dass der Schlaf der Vernunft «etwas Totalitäres gebiert». Und fügte hinzu:
«Kapitalismus ist nicht demokratisch, Demokratie nicht kapitalistisch.»
Die «soziale Marktwirtschaft» und die Entspannungspolitik aus der Zeit der Systemkonkurrenz seien nach deren Ende abgelöst worden von der «marktkonformen oder eben kapitalistischen Demokratie». Deren Defizite würden den gegenwärtigen Rechtsruck verursachen, erklärte Dahn und erinnerte: «Ausgrenzungsdemokratie hat immer dazu geführt, dass Faschisten ihre Anhänger bei denen fanden, die sie entrechten, verarmen und schließlich verheizen lassen wollen.»
Sie ging auch kurz darauf ein, dass Antisemitismus eng verbunden ist mit dem Kapitalismus. Dieser inzwischen von seinen Ursprüngen losgelöste und abstrakt verwendete Begriff lenke von den eigentlichen Ursachen für Feindschaft ab, den machtpolitischen und ökonomischen Verteilungskämpfen.
Ebenso streifte sie die Diskussion um Ostdeutschland und die ostdeutsche Identität, eines der Themen ihres Buches. Um zu verstehen, was da seit etwa 30 Jahren geschehe, seien die rechtlichen Hintergründe wichtig. Dazu gehöre das «Sonderrecht Ost», das Ostdeutsche gezielt benachteilige, über das aber nicht offen geredet werde.
Das habe nicht nur die Frage der ostdeutschen Eliten aus der DDR-Zeit betroffen, die anders als jene aus der Zeit des Faschismus selbst bei der Altersversorgung benachteiligt wurden. Dabei sei es auch um die Formel «Rückgabe vor Entschädigung» bei Eigentumsfragen gegangen.
Es habe sich um «ein reines West-Eigentümerschutzgesetz» gehandelt. «Kein einziger Osteigentümer konnte irgendeinen Antrag in Westdeutschland stellen, auch nicht, wenn er Jude war», erinnerte Dahn und nannte Beispiele dafür.
Sie hat immer wieder über diese Themen und auch die Ungerechtigkeiten nach der Übernahme der DDR durch die alte BRD geschrieben. Bei der Buchvorstellung beklagte sie das «Defizit bei der Durchsetzung von Alternativen» und bezeichnete die repräsentative Demokratie als «Barriere gegen revolutionäre Flausen» der Bevölkerung.
Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, ging im Gespräch mit Dahn auf deren Aussagen ein, so zum Beispiel auf die über Ostdeutschland. Sie bezeichnete den Angriff auf den vermeintlich «verordneten Antifaschismus» der DDR als gegen den «wichtigsten Teil der DDR-Identität» gerichtet.
Für sie selbst als Jüdin sei immer wichtig gewesen, dass der Antifaschismus in der DDR nicht reduziert wurde auf den Kampf gegen Judenhass und Judenvernichtung. Dahn bestätigte, wie nach 1990 in Ostdeutschland Antifaschismus sofort delegitimiert wurde, weil der angeblich «nicht von Herzen kam, sondern nur verordnet war».
Aus ihrer Sicht wäre es «sehr viel klüger gewesen, die brauchbaren Teile des Antifaschismus aus dem DDR-Bild und die brauchbaren Teile aus dem westdeutschen Bild zu vereinen, um zu zeigen, dass hier kein Rechtsextremist seinen Fuß dazwischen kriegt». Gerade weil es in der DDR um den «systemischen Hintergrund und die Kapitalinteressen hinter dem Faschismus» gegangen sei.
Aber genau deshalb wurde deren grundlegender und im Wortsinn radikaler Antifaschismus delegitimiert. Dieser war nämlich für die in der Bundesrepublik fortgesetzte Herrschaft der Kapitalkreise eine Gefahr, die einst den Faschismus in Deutschland an die Macht brachten.
Das aber benannten Dahn und Neiman bei ihrer deutlichen Kritik am Kapitalismus und dessen krisenhaften Erscheinungen an dem Abend im Berliner «Sprechsaal» nicht. Dafür gab es einige Unklarheiten, die zu Widerspruch aus dem Publikum führten.
So als Neiman, die sich als Sozialistin bezeichnete und berichtete, dass sie im jüngsten US-Wahlkampf anfangs die Demokratin Kamala Harris unterstützt habe, mit Blick auf Russland sagte, dessen Präsident Wladimir Putin sei «gegen alles, was gut und richtig war an der Sowjetunion». Sie begründete das damit, dass Russland heute ein kapitalistisches Land sei.
Dass das so nicht stimmt, davon zeugt nicht nur, dass die einstige sowjetische Nationalhymne heute die Russlands ist, wenn auch ohne den damaligen Text. Dafür steht auch, dass die Zeit der Sowjetunion als Teil der Geschichte Russlands behandelt und respektiert wird und nicht wie etwa die Zeit der DDR in der deutschen Geschichte weitgehend diffamiert und teilweise ignoriert wird.
Widerspruch bekam Publizistin Dahn vom Publikum, als sie im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg erklärte, Moskau sei mit seinen Vorschlägen und Forderungen an die NATO vor dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 nicht genügend an die Weltöffentlichkeit gegangen. Russland habe nicht alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft, um den Krieg zu vermeiden, sagte sie.
Dabei übersah sie, dass Moskau sehr wohl im Dezember 2021 seine Forderungen an die NATO zu Sicherheitsgarantien im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt öffentlich vorgelegt hatte. Darüber berichteten damals Medien weltweit, auch in Deutschland – einzig die NATO und ihre Führungsmacht zeigten kein Interesse, darüber zu verhandeln und darauf einzugehen. Und was es bringt, mit solchen Anliegen vor den UN-Sicherheitsrat zu gehen, wie sich Dahn und auch Krone-Schmalz gewünscht hätten, zeigt der Umgang mit all den UN-Resolutionen zu Israel, die entweder blockiert oder ignoriert werden.
Aber diese gegensätzlichen Sichten machten bei der Buchvorstellung nur einen kleinen Teil der Diskussion mit dem Publikum aus. Das stimmte der Publizistin und ihrer Gesprächspartnerin weitgehend zu und ließ sich am Ende das Buch signieren. Das endet mit folgender Aussage:
«Unter den gegebenen Umständen bleibe ich skeptisch, ob menschliche ‹Vernunft› das, was sie angerichtet hat, auch richten kann. Nichts wünsche ich mir mehr, als mich zu irren.»
Buchtipp:
Daniela Dahn: «Der Schlaf der Vernunft – Über Kriegsklima, Nazis und Fakes»
Rowohlt Verlag 2024. 192 Seiten; ISBN: 978-3-499-01658-5; 16 Euro
geändert: 17.12.24; 9:20 Uhr
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