Die Antwort auf die Frage, ob Israel ohne den Westen überleben kann, offenbart «unsere kollektive Macht». Darauf hat der US-amerikanisch-palästinensische Journalist Ramzy Baroud kürzlich in einem Beitrag für die Online-Ausgabe des Magazins Washington Report on Middle East Affairs aufmerksam gemacht. Er schreibt:
«Der israelische Völkermord in Gaza und die eskalierenden regionalen Kriege, die er ausgelöst hat, haben uns zwei erschreckende Wahrheiten vor Augen geführt: Erstens untergräbt Israel bewusst und aggressiv die Sicherheit und Stabilität des gesamten Nahen Ostens, und zweitens ist Israel völlig unfähig, alleine zu überleben.»
Diese beiden Aussagen seien «untrennbar miteinander verbunden», stellt Baroud fest.
«Denn wenn diejenigen, die Israel – militärisch, politisch und wirtschaftlich – unerbittlich unterstützen, endlich ihre Unterstützung zurückziehen würden, wäre der Nahe Osten nicht mehr das Pulverfass, das er seit Jahrzehnten ist – eine Situation, die sich seit dem 7. Oktober 2023 katastrophal verschlechtert hat.»
Der Autor macht auf «die brutale Realität» aufmerksam, dass Israel sich lediglich aus dem Gazastreifen zurückziehen müsste, um dem verwüsteten, vom Völkermord heimgesuchten Gebiet die geringste Chance auf Heilung zu geben. Seit Beginn dieses Krieges seien über 56.000 Palästinenser, darunter mehr als 17.000 Kinder und 28.000 Frauen, brutal ermordet worden – «eine schreckliche Bilanz, die noch dramatisch steigen dürfte, wenn endlich umfassende Untersuchungen zu den Vermissten durchgeführt werden».
Nur nach einem israelischen Rückzug könne der Prozess der Rückkehr zu einer gewissen Normalität beginnen. In dieser müssten «die unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes innerhalb eines internationalen Systems, das zumindest theoretisch auf der unerschütterlichen Achtung der grundlegenden Menschenrechte und des Völkerrechts beruht, entschlossen verteidigt» werden.
Die abscheuliche Maxime «Macht gibt Recht» müsste aus jeder zukünftigen politischen Gleichung vollständig gestrichen werden, schreibt Baroud. Er fordert von den arabischen und muslimischen Ländern des Nahen Ostens, sich endlich ihrer Verantwortung zu stellen und entschlossen zu handeln, um ihren Brüdern zu helfen. Sie müssten ebenso sicherstellen, dass Israel nicht nicht die Macht hat, ihre Reihen zu spalten.
Es sei verständlich, dass diese Forderung für Israel «schlichtweg unmöglich, ein No-Go», sei, wegen seiner kolonialen Perspektive. Der britisch-australische Historiker Patrick Wolfe habe treffend festgestellt: «Invasion ist eine Struktur, kein Ereignis». Das bedeutet laut Baroud «unmissverständlich, dass die Kriege Israels, beginnend mit der ethnischen Säuberung Palästinas, der Nakba von 1948, und alle nachfolgenden Kriege und militärischen Besetzungen keine zufälligen historischen Zufälle waren». Sie seien «vielmehr integrale Bestandteile einer dauerhaften Machtstruktur, die darauf abzielt, die indigene Bevölkerung zu eliminieren».
«Dies macht die Vorstellung, dass Israels Verhalten nach dem 7. Oktober ausschließlich von Rache getrieben und strategielos war, schlichtweg falsch. Angesichts der grausamen, unaussprechlichen Natur der israelischen Aktionen in Gaza und der offensichtlichen perversen Freude, die Israel offenbar aus der täglichen Ermordung unschuldiger Menschen zieht, kann man uns vielleicht verzeihen, dass wir diesen Unterschied zunächst nicht erkannt haben.»
Doch die Sprache aus Israel sei «erschreckend klar in Bezug auf die wahren Motive». Der Journalist erinnert an die Aussage des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vom 7. Oktober 2023:
«Wir werden Gaza in eine einsame Insel verwandeln.»
Das sei schon immer ein fester, unveränderlicher Bestandteil der kolonialen Struktur Israels gewesen und werde auch so bleiben, «solange es nicht entschlossen eingedämmt wird».
«Aber wer hat den Willen und die Macht, Israel einzudämmen?»
Israel agiere über ein Netzwerk von Unterstützern, Wohltätern, «die seit langem die Existenz Israels als unverzichtbare Kolonialfestung betrachten, die den Interessen des westlichen Kolonialismus dient». Der ehemalige US-Präsident Joseph Biden habe im Juli 2022 «mit beeindruckender Überzeugung» erklärt:
«Die Verbindung zwischen dem israelischen Volk und dem US-amerikanischen Volk ist tief verwurzelt ... Wir sind durch unsere gemeinsamen Werte vereint.»
Ohne sich auch nur die Mühe zu machen, diese «gemeinsamen Werte» zu hinterfragen, die es Israel erlauben, einen Völkermord zu begehen, während die USA ihn aktiv unterstützen, sei Biden «unbestreitbar ehrlich» gewesen. Er habe in seiner schonungslosen Darstellung gezeigt, dass die Beziehung zwischen beiden Ländern über reine Politik hinausgeht. Andere westliche Staats- und Regierungschefs «plappern blind dieselbe Wahrnehmung nach», so Baroud.
Der sich vollziehende Völkermord habe jedoch einige westliche und eine Vielzahl nicht-westlicher Regierungen dazu veranlasst, sich mutig gegen den Krieg Israels, Netanjahu und seine extremistische Ideologie auszusprechen. Das sei seit der Gründung Israels noch nie zuvor geschehen. Für einige dieser Länder, darunter insbesondere Spanien, Norwegen, Irland und Slowenien, sei die sprichwörtliche «Bindung» nachweislich «zerbrechlich» und ihre Unterstützung ganz sicher nicht «eindeutig».
Es gebe verschiedene Theorien, warum einige westliche Regierungen es wagen, Israel herauszufordern, während andere sich hartnäckig weigern, so Baroud. Es sei jedoch «von entscheidender Bedeutung, die Bindung zwischen Israel und dem Westen zu zerstören – nicht nur für einen gerechten Frieden, sondern auch für das Überleben des palästinensischen Volkes».
«Die fast 21 qualvollen Monate des unerbittlichen Völkermords durch Israel haben uns eine brutale Lektion erteilt: Israel ist letztlich ein Vasallenstaat, der ohne die direkte, massive Unterstützung der USA und anderer Länder völlig unfähig ist, seine eigenen Kriege zu führen, sich zu verteidigen oder sogar seine eigene Wirtschaft aufrechtzuerhalten.»
Die vor dem Krieg zu vernehmenden Aussagen von israelischen Regierungsvertretern, Israel sei ein unabhängiges Land und nicht «ein weiterer Stern auf der US-Flagge» seien seither weitgehend verstummt, so der Journalist. Sie seien «durch einen ständigen Strom von Bitten und Flehen an die USA ersetzt worden, Israel zu Hilfe zu kommen». Er fordert:
«Während die Palästinenser weiterhin mit legendärem Mut Widerstand gegen die israelische Militärbesatzung und Apartheid leisten, müssen diejenigen, denen internationales Recht, Gerechtigkeit und Frieden wirklich am Herzen liegen, entschlossen handeln und sich direkt gegen Regierungen stellen, die Israel weiterhin dabei unterstützen, den Völkermord in Gaza und die Destabilisierung des Nahen Ostens aufrechtzuerhalten.»
Regierungen wie die Spaniens würden tun, was viele noch vor wenigen Jahren nicht erwartet hätten. So habe der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez sich nachdrücklich dafür eingesetzt, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel auszusetzen – aufgrund der «katastrophalen Situation des Völkermords». Würden weitere Regierung eine solche kompromisslose Haltung einnehmen, «würde Israel zumindest daran gehindert, die Mordwaffen zu erwerben, mit denen es seinen barbarischen Völkermord verübt». Barouds Fazit:
«Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, uns geschlossen hinter diese mutigen Stimmen zu stellen und kompromisslose Rechenschaft nicht nur von Israel zu fordern, sondern auch von denen, die aktiv die israelische Siedlerkolonialstruktur aufrechterhalten.»
Dr. Ramzy Baroud ist Journalist, Autor und Herausgeber von Palestine Chronicle. Sein neuestes Buch «Our Vision for Liberation: Engaged Palestinian Leaders and Intellectuals Speak Out», das er gemeinsam mit dem israelischen Historiker Ilan Pappé herausgegeben hat, ist bei Middle East Books and More erhältlich. Dr. Baroud ist nicht-residierender Senior Research Fellow am Center for Islam and Global Affairs (CIGA).
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