Erst hat die US-Regierung Medienberichten zufolge der Ukraine erlaubt, US-Waffen «in begrenztem Umfang gegen Ziele auf russischem Territorium einzusetzen». Kurz danach hat die bundesdeutsche Regierung ebenfalls grünes Licht für den Einsatz deutscher Waffen durch Kiewer Truppen gegen Ziele in Russland gegeben.
Das soll nur in begrenztem Rahmen erfolgen, heißt es, um russische Angriffe auf Charkow in der Ostukraine abzuwehren. Schon länger wird in westlichen Regierungskreisen und Medien darüber diskutiert, der Ukraine weitreichende Waffen wie Raketen und Marschflugkörper zu liefern, mit denen sie militärische Ziele in Russland angreifen könnte.
Experten halten die Debatte für «verlogen», wie ein ehemaliger hochrangiger Bundeswehr-Offizier im Gespräch dem Autor erklärte. Die ukrainischen Truppen würden längst westliche Waffen gegen Ziele in Russland einsetzen – aber nicht gegen militärische, sondern gegen zivile Ziele wie in Belgorod.
Dagegen behauptet ein Kommentar in der österreichischen Zeitung Der Standard am Donnerstag nicht nur wahrheitswidrig, russische Angriffe würden vor allem zivile Ziele in der Ukraine treffen. Es wird gar wider alle Tatsachen erklärt: «Dass sich Kiew bei Angriffen in Russland strikt an das Völkerrecht hält – etwa, indem seine Armee keine zivilen Ziele ins Visier nimmt –, hat es bisher glaubhaft bewiesen.» Dabei reagiert Kiew nachweislich auf die anhaltende russische militärische Initiative mit zunehmenden Angriffen auf zivile Objekte in den nun zu Russland gehörenden Donbass-Gebieten sowie in Russland selbst.
Die jetzt erfolgte Freigabe westlicher Waffen für »begrenzte« Angriffe auf Ziele in Russland dürfte dabei nur eine weitere Drehung an der Eskalationsschraube sein. Längst wird diskutiert und angekündigt, westliche Soldaten als «Ausbilder» und «Berater» für die ukrainischen Truppen an der Front zu entsenden.
Ebenso wollen Mitgliedsstaaten der NATO, zum Beispiel Polen, gern die Luftverteidigung der Ukraine übernehmen. In Kürze sollen auch die erste F-16-Kampfjets aus westlichen Hangars auf ukrainischer Seite eingesetzt werden. Während es der etablierten Politik und den mit ihr verbundenen Medien nicht schnell genug geht, warnen Militärexperten vor den Folgen.
Würden die ukrainischen Truppen vor Ort von westlichen Militärs unterstützt, führe das in den dritten Weltkrieg, warnte zum Beispiel am Mittwoch Ralph D. Thiele in Focus online. Er war Oberst der Bundeswehr, eingesetzt in hochrangigen NATO-Positionen, und ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V., Präsident von EuroDefense (Deutschland) e.V. und CEO von StratByrd Consulting.
Er stellt für den Fall, die Pläne werden umgesetzt, klar:
«Die dafür eingesetzten westlichen militärischen Einheiten übernehmen Schlüsselaufgaben der ukrainischen Streitkräfte. Sie werden zur Kriegspartei und absehbar auch zum Ziel russischer Angriffe.»
Das wäre der Einstieg in eine direkte westliche Kriegsbeteiligung, so Thiele, der auch meint, dass nicht nur die bundesdeutsche Bevölkerung mehrheitlich dagegen sei. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehne das ab, ebenso wie US-Präsident Joseph Biden, der keinen dritten Weltkrieg wolle.
Der Ex-Bundeswehr-Oberst schreibt, es sei «eher Zeit für Waffenstillstandsverhandlungen als für eine Ausweitung und Intensivierung der Kämpfe». Er warnt außerdem vor falschen Hoffnungen auf den Einsatz weiterer westlicher Waffensysteme auf ukrainischer Seite.
«So wie die Ukraine Leopard- und Abrams-Panzer angefordert hat, um dann zu erkennen, dass diese auf dem Schlachtfeld nicht überlebensfähig sind, sind auch Patriot-Systeme kein Allheilmittel, um die extreme Verwundbarkeit der Ukraine zu beheben. Ein für die Ukraine positiver Ausgang dieses Konflikts ist nicht mit militärischer Hilfe möglich. Und eine direkte militärische Intervention der USA riskiert eine nukleare Auseinandersetzung mit Russland.»
Ebenso skeptisch zeigt sich mit Wolfgang Richter ein anderer früherer Bundeswehr-Oberst, der im Interview mit dem Nachrichtensender Welt warnte, dass NATO-Waffen auf Russland «ein Spiel mit dem Feuer» seien. Er macht darauf aufmerksam, dass die jetzige «begrenzte» Freigabe westlicher Waffen für Ziele in Russland zur Folge haben kann, dass auch die bisherige entsprechende Sperre für Langstreckenwaffen aufgehoben wird.
Die seien dann gegen strategische Ziele in Russland gerichtet. Das sei «wirklich das Drehen an der Eskalationsschraube», so Richter mit Blick auf den kürzlichen ukrainischen Angriff auf ein strategischen Frühwarnsystem Russlands.
Aus seiner Sicht hat die Ukraine völkerrechtlich das Recht, russische Basen anzugreifen, von denen aus sie selbst angegriffen wird – solange nach der UN-Charta das humanitäre Völkerrecht eingehalten werde.
«Aber am Ende entscheidet ja über solche Fragen nicht nur das Völkerrecht, denn es nützt ja niemanden, wenn dann hinterher auf dem Grabstein steht: Ich hatte Recht. Sondern, es ist die strategische Logik. Es ist die politische Logik, die entscheidend ist.»
Richter warnt davor, «dass man im Laufe des Krieges Mittel anwendet, die in das strategisch-nukleare Gleichgewicht zwischen den USA und Russland eingreifen». Das sei schon «zweimal oder dreimal der Fall» gewesen, sagte er mit Verweis auf den jüngsten Angriff auf das russische Frühwarnsystem sowie einen vorherigen ukrainischen Angriff auf einen Flugplatz der russischen Atombomber bei Engels.
«Da muss man auch eine deutliche Warnung an Kiew aussprechen, dass das nicht passieren darf. Wir dürfen nicht in ein Eskalationsszenario hineinkommen.»
Richter warnt außerdem vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen in Folge einer möglichen Eskalation des Krieges in der Ukraine. «Einzelne Theoretiker auf beiden Seiten» würden glauben, ein Nuklearkrieg wäre auf ein Gefechtsfeld begrenzbar.
«Dem müssen wir natürlich entgegentreten, denn alles hat eskalatorische Wirkung. Und auch der Einsatz taktischer Nuklearwaffen wäre fürchterlich.»
Der Militärexperte macht darauf aufmerksam, dass aus russischer Sicht der Westen Russland strategisch in die Knie zwingen will. Er verwiest auf die russische Nukleardoktrin, nach der im Fall einer Existenzbedrohung Russlands der Einsatz von Atomwaffen möglich sei.
Doch die Warnungen dieser und anderer Experten vor einer Eskalation und die Forderung nach einem Waffenstillstand scheinen bei den verantwortlichen Politikern im Westen zu verhallen. Der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat hatte bereits davor gewarnt, dass westliche Ausbilder für die ukrainische Truppen der Weg in ein «neues Vietnam» wären.
Er machte bereits im Januar darauf aufmerksam, dass laut Medienberichten der Befehlshaber des US-amerikanischen Ukraine-Stabes, Generalleutnant Antonio Aguto, Ende 2023 mit einem Beraterteam dauerhaft nach Kiew abkommandiert wurde. Dort solle der US-General den ukrainischen Befehlshabern «über die Schulter schauen». Kujat dazu:
«Es ist leicht vorhersehbar, dass die Beratermission wachsen wird. Das erinnert sehr an den Beginn des Vietnamkrieges.»
Manches deutet auf eine eingeplante Eskalation hin: Bereits im Herbst 2022 wurde die 101. Luftlandedivision der US-Armee nach Rumänien verlegt, angeblich um die Grenze zur Ukraine zu sichern. Die US-Truppen übten einem Bericht nach gemeinsam mit rumänischen Einheiten nach dem Muster der Kämpfe in der Ukraine.
Sie seien zwar in erster Linie da, um das NATO-Gebiet zu verteidigen, hieß es. Aber bei einer Eskalation oder einem Angriff auf die NATO seien sie darauf vorbereitet, «die Grenze zur Ukraine zu überschreiten».
Im Oktober 2022 sagte der ehemalige CIA-Chef und US-General David Petraeus gegenüber der französischen Zeitung L’Express, er halte es «für möglich, dass Russland eine Aktion in der Ukraine unternimmt, die so schockierend und schrecklich wäre, dass die USA und andere Länder in irgendeiner Weise reagieren könnten, aber als multinationale Truppe unter der Führung der USA und nicht als NATO-Truppe». Inzwischen steigt der Chor der westlichen Empörung an, Russland greife bei seinem Vorgehen in der Ostukraine zivile Ziele an.
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