Wer die Wahrheit nicht weiß,
der ist bloß ein Dummkopf.
Aber wer sie weiß
und sie eine Lüge nennt,
der ist ein Verbrecher!
Bertolt Brecht
Liebe Leserinnen und Leser
Der katholische Philosoph Josef Pieper hat den Begriff der Pseudo-Realität geprägt, einer Form der menschlichen Verirrung. 1974 hat er in dem Aufsatz «Missbrauch der Sprache – Missbrauch der Macht» begründet, wie es zur Pseudowirklichkeit kommt, «die so täuschend real zu sein scheint, dass kaum noch herauszufinden ist, wie es sich wirklich verhält».
Der Text hat mich beeindruckt, auch, weil er vor 50 Jahren in einer Klarheit beschrieb, was wir heute erleben: Der Missbrauch des Wortes durch die Macht in Form der Propaganda sowie deren Folgen. Der katholische Philosoph warnte vor der Korrumpierung der Sprache durch den Verlust des Realitätsbezuges.
Wort und Sprache seien Mittel der mitmenschlichen Kommunikation, die ohne den Bezug zur Wahrheit, zur Wirklichkeit nicht mehr möglich sei. Werde der Realitätsbezug des Mitgeteilten zerstört, verändere sich die Beziehung zwischen dem Redenden und dem Hörenden; aus Partnern werden Herrscher und Beherrschte, wenn der Dialog zwischen beiden zerstört werde.
Das geschehe absichtsvoll durch «Schmeichelei», durch Propaganda, die dem Hörenden nach dem Mund rede, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dabei werde er zum «Objekt eines Bemächtigungsversuches», stellte Pieper fest. Der Umschmeichelte fühle sich besonders respektiert und beachtet, obwohl dabei seine Würde nicht mehr respektiert werde, indem seine Schwäche ausgenutzt wird.
Die Gefahr entstehe durch die zunehmende Widerstandslosigkeit der Öffentlichkeit, des Publikums gegenüber der gezielten «Schmeichelei». Diese erfolge auch durch die Unterhaltungsindustrie und ihre Produkte: Das Publikum zahlt dafür, dass ihm nach dem Mund geredet wird.
Der Philosoph wusste, dass der Nährboden dafür der menschliche Wunsch nach Sinnlichkeit und die Eitelkeit ist, ebenso die Neugier und die Sentimentalität, aber auch der Hang zu Grausamkeit und Schadenfreude, der Reiz des Schocks und des Grauens, die Begeisterung für das radikale und den Untergang. Dabei werde das gesamte Arsenal der publizistischen Kommunikationsmittel genutzt, die eigentlich die Realität kenntlich machen sollten.
Wenn Menschen nach dem Mund geredet werde, handele es sich nicht um Kommunikation, sondern um «etwas wie Tyrannei», so Pieper in seinem Aufsatz. Damit werde Abhängigkeit und Hörigkeit erzeugt, statt legitimer politischer Macht handele es sich um «falschmünzerische Erschleichung der Macht».
Zugleich gehöre zur Propaganda die Bereitschaft zur Gewalt, erklärte der Philosoph, da sie mehr als nur «Überredung» und ihr wichtigstes Element die verdeckte Drohung sei. Propaganda gebe es überall, wo eine Machtgruppe, ein ideologischer Clan, ein Interessenten-Kollektiv oder eine pressure group das Wort als «Waffe» benutze.
Dadurch werde der Mensch durch den Menschen entwürdigt, so Pieper, durch den Verlust der Würde der Sprache, die in ihrem Bezug zur Wirklichkeit bestehe. Die offene Gewalt sei verbunden mit der Unkenntlichmachung der Realität durch Sprache.
Die Wirklichkeit gerate durch die laute Propaganda mit Hilfe von Vordergrunds-Fakten außer Sicht: Die Kenntnis tausender Einzelheiten verstelle den Blick auf den Kern der Sache und die Zusammenhänge. An die Stelle der außer Sicht geratenen Wirklichkeit trete die Schein-Realität, die Pseudowirklichkeit.
Aus seiner Sicht muss angesichts des Schlimmen das Gute verteidigt werden: Dazu gehöre, die Dinge zu sehen wie sie sind, außerdem die Wahrheit als Lebenselixier für den Mensch und die Gesellschaft sowie das Miteinanderreden, Dialog und Debatte als «natürlicher Ort der Wahrheit».
Pieper forderte eine geschützte und verteidigte «Zone der Wahrheit» inmitten der Gesellschaft als «Ort der unabhängigen Befassung mit der Wirklichkeit», als vom Missbrauch für Zwecke abgeschirmter Bereich des Austausches, des Dialogs, für den offenen Disput. Die Universität sah er als diesen Raum – die heute weiter denn je davon entfernt zu sein scheint, in Anspruch genommen für politische und wirtschaftliche Zwecke.
Es sei notwendig, «sich zur Wehr zu setzen gegen alles, was die reine Offenheit des Realitätsbezuges und den Mitteilungscharakter des Wortes antastet oder zerstört». Doch Pieper wusste auch, «der Ungreifbarkeit der Bedrohung entspricht die Nicht-Organisierbarkeit des Widerstandes».
Das politische Gemeinwesen lebe von freier mitmenschlicher Kommunikation «in bezug auf die wahre Realität, der Welt wie auch unser selbst». Wie es darum bestellt ist, zeigt sich derzeit nicht erst mit dem Wahlkampf in Deutschland, sondern ebenso an der Kriegshetze und gleichfalls an der bisher nicht erfolgten Aufarbeitung der politisch verursachten «Corona-Krise».
Ich empfehle Ihnen den Text von Josef Pieper im Original, wenn sie ihn lesen können. Ebenso empfehle ich Ihnen die Beiträge auf Transition News, die zeigen, wie das heute funktioniert, was der Philosoph vor 50 Jahren beschrieb.
Und ich wünsche Ihnen ein gutes und propagandafreies Wochenende!
Herzliche Grüße
Tilo Gräser