Am 13. Oktober 2022 unterzeichneten im Brüsseler Hauptquartier der NATO 15 Nationen das Abkommen für die European Sky Shield Initiative (ESSI). Dabei handelt es sich um eine Initiative Deutschlands zur bodengestützten Luftverteidigung.
Zu den Unterzeichnern gehörten neben Deutschland die Länder Belgien, Bulgarien, Estland, Finnland, Großbritannien, Lettland, Litauen, Niederlande, Norwegen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Auch Dänemark, Griechenland, Schweden und die Türkei haben sich der ESSI inzwischen angeschlossen. Die Initiative steht aber auch interessierten Nicht-NATO-Staaten offen – und von denen haben mittlerweile Österreich und die Schweiz ihren Beitritt bekundet.
Großes Thema ist die ESSI in den Medien erstaunlicherweise nicht. Wenn man zum Beispiel auf Spiegel Online nach «European Sky Shield Initiative» sucht, so datiert der letzte Treffer vom 24. April dieses Jahres – und der zweitaktuellste Treffer trägt das Datum 12. September 2023.
Auch geht es in dem Beitrag vom 24. April, der die Headline «Deutschland und Großbritannien wollen gemeinsam Waffen optimieren» hat, nur am Rande um ESSI. Und dass etwa der Schweizer Bundesrat kurz zuvor, nämlich am 10. April, den Beitritt zur ESSI beschlossen hat, erfährt man gar nicht.
Dabei ist dies gerade für ein Land wie die Schweiz, genau wie für Österreich, für die die Neutralität eine der wichtigsten Grundsätze ihrer Außenpolitik darstellt, von enormer Tragweite. Bedeutet die Neutralität doch eigentlich, dass sich die Alpenländer nicht militärisch an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten beteiligen sollen.
Dennoch wird etwa auf dem Webportal der Schweizer Regierung geradezu gefrohlockt:
«Mit der Teilnahme an der European Sky Shield Initiative (ESSI) vergrößert die Schweiz ihre internationalen Kooperationsmöglichkeiten ... Im Vordergrund der Zusammenarbeit steht eine bessere Koordination von Beschaffungsvorhaben, der Ausbildung sowie logistischer Aspekte im Bereich der bodengetzten Luftverteidigung.»
Pikant ist zudem, dass die ESSI als Reaktion auf Russlands Angriff gegen die Ukraine gestartet wurde. Dabei verweisen kritische Stimmen wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer aber darauf, dass die Hauptursache für den Ukraine-Krieg das 2021 bekräftigte NATO-Ansinnen sei, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen (Transition News berichtete).
Darauf habe, so Mearsheimer, sogar Jens Stoltenberg, bis zum 1. Oktober NATO-Generalsekretär, im vergangenen Jahr gleich zweimal aufmerksam gemacht, indem er konstatierte, dass «Präsident Putin diesen Krieg begonnen hat, weil er die Tür der NATO schließen und der Ukraine das Recht verweigern wollte, ihren eigenen Weg zu wählen».
Tatsächlich ist die vereinbarte Position der Allianz, «dass die Zukunft der Ukraine in der NATO liegt und ihr Beitritt ‹unumkehrbar› ist», wie am Wochenende in der Financial Times zu lesen stand.
Zugleich würden alle verfügbaren Beweise darauf hindeuten, so der 76-Jährige Mearsheimer weiter, dass Russland nicht an der Übernahme ukrainischen Territoriums interessiert gewesen sei – mit Ausnahme der Krim, die es 2014 annektiert hatte, und möglicherweise des Donbass. Die österreichische Organisation «Menschen, Freiheit, Grundrecht» (MFG) schreibt dazu auf ihrer Website unter dem Reiter «Stoppt Sky Shield» analog zu Mearsheimer:
«Russland hat kein Interesse an territorialer Erweiterung – diese fiktive Bedrohung ist primär Propaganda der NATO in ihrem eigenen Interesse. Sie erinnert an die Vietnam-Lüge im Golf von Tonkin 1964, die Brutkastenlüge zum Start des Kuwait-Krieges 1990 und die Lüge über die Massenvernichtungswaffen des Irak 2003.
Unabhängige Militärexperten begründen anhand der eingesetzten Mittel Russlands, dass es im Ukraine-Konflikt nicht um russische Expansion geht. Und Russland hat gar nicht die militärische/wirtschaftliche Kapazität für eine Eroberung von Territorien über die Ukraine hinaus, geschweige denn die Mittel und das Personal für eine Administration eroberter Gebiete.»
Wer diesem Gedankengang folgt, kann keinen wirklichen Grund dafür sehen, dass sich die NATO auf eine Verteidigung gegen Russland vorbereiten und ein «sündhaft» teueres ESSI installieren müsse. Und die Kosten haben es durchaus in sich. So wurde im Mai dieses Jahres berichtet, dass sich die ursprünglich geplanten Kosten für Sky Shield von 2 Milliarden Euro auf mindestens 6 Milliarden Euro erhöht hätten.
Im Übrigen stellt sich die Frage, ob Sky Shield die Länder, die es finanzieren, vor Raketenangriffen zu schützen vermag. Die Organisation MFG verneint das. Raketenabwehr sei ein veraltetes Verteidigungskonzept, wie aktuelle Kriege zeigen würden. MFG weiter:
«Beim Hamas-Angriff auf Israel und im Israel-Iran-Konflikt wurde der Welt die Sinnlosigkeit der modernsten Raketenabwehr à la Sky Shield ‹Iron-Dome› deutlich vor Augen geführt. Sie ist einerseits konzipiert für die Zerstörung weniger großer Flugkörper und extrem teuer, wird aber durch eine große Anzahl billiger Raketen schlicht und einfach überfordert. Darüber hinaus kann Sky Shield moderne Hyperschall-Raketen gar nicht abwehren.»
Erschwerend kommt hinzu, dass eine Sky-Shield-Stationierung das betreffende Land zum Ziel von Vergeltungs-Schlägen machen könnte für den Fall, dass sich irgendein NATO-Land zum direkten Angriff auf Russland hinreissen lassen sollte.
Die Organisation MFG ist außerdem der Auffassung, dass der Beitritt zu Sky Shield letztlich «als ein weiterer Schritt für die NATO zur Erlangung einer atomaren Erstschlagkapazität» gewertet werden müsse. Das sogenannte Abwehrsystem könne nämlich in kürzester Zeit zu einem Angriffssystem umfunktioniert werden. Demnach würde Sky Shield für ein beteiligtes Land vor allem bedeuten, dass es am von der NATO und den Rüstungsfirmen vorangetriebenen Rüstungswettlauf mitwirkt.
Österreich und die Schweiz würden zudem ihre Neutralität mindestens gefährden – oder gar einbüßen, wie kritische Stimmen warnen. Medien wie die NZZ sehen das zwar anders. Dem Traditionsblatt zufolge «revitalisiert die Teilnahme am European Sky Shield die bewaffnete Neutralität». Doch die Begriffe «Revitalisierung» und «Bewaffnung» in einem Atemzug zu nennen, das muss man freilich als journalistisches Medium auch erst einmal hinbekommen.
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Herzlichen Dank an den Leser Michael Brandenberger für den Hinweis auf das und Input zum Thema.
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