Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat die Schweiz den Großteil der EU-Sanktionen gegen Russland mitgetragen, aber da und dort eine Ausnahme gemacht – die russischen Programme sind immer noch problemlos empfangbar. Diese Haltung beginnt nun zu bröckeln: Der Bundesrat, die Schweizer Landesregierung, hat diese Woche beschlossen, eine wichtige EU-Regel aus dem jüngsten Sanktionspaket nicht zu übernehmen. Diese Entscheidung betrifft Sanktionen gegen Tochtergesellschaften von Schweizer Firmen im Ausland und hat in der Schweiz und international Empörung ausgelöst. Gleichzeitig plant der Ständerat, ein Verbot der Rechtsberatung für russische Unternehmen aufzuheben, was Ende September ebenfalls Wellen geschlagen hat.
Die neue EU-Regel, die der Bundesrat nicht übernehmen will, fordert Unternehmen auf, sicherzustellen, dass ihre Tochtergesellschaften in Drittstaaten keine Sanktionen umgehen, selbst wenn diese rechtlich unabhängig von der Mutterfirma agieren. Ziel ist es, zu verhindern, dass Sanktionen über Tochterfirmen in Ländern außerhalb der EU – wie der Schweiz – unterlaufen werden. Die Schweiz hat jedoch entschieden, diese Regel nicht zu übernehmen. Der Bundesrat argumentiert, dass das Schweizer Recht bereits Mechanismen enthalte, um Sanktionsumgehungen zu verfolgen, wenn es einen direkten Bezug zur Schweiz gibt, wie etwa bei Finanzflüssen oder Anweisungen von der Schweiz an eine Tochtergesellschaft.
Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das für die Umsetzung von Sanktionen verantwortlich ist, wären die EU-Vorgaben zudem rechtlich und praktisch schwer umsetzbar. Simon Plüss, Leiter der Sanktionsabteilung beim Seco, erklärte, dass es für Unternehmen unklar sei, was genau von ihnen erwartet werde. Diese Unsicherheit sei besonders problematisch, da Verstöße mit Strafen bis zu fünf Jahren Gefängnis bedroht seien. Zudem zweifelt Plüss daran, dass in einem Drittstaat, der keine eigenen Sanktionen gegen Russland verhängt hat, Rechtshilfe gewährt würde.
Plüss fügte hinzu, dass die EU-Regel zwar ein starkes politisches Zeichen setze, aber möglicherweise symbolischer Natur sei, da die praktische Umsetzung fraglich bleibe. «Wir müssen sicherstellen, dass Sanktionen klar und rechtlich umsetzbar sind», betonte er. Der Bundesrat will mit seiner Entscheidung Rechtsunsicherheit vermeiden und stattdessen auf die bestehenden Schweizer Sanktionsinstrumente setzen.
Die Reaktionen auf den Bundesratsentscheid fielen scharf aus. Besonders die Sozialdemokratische Partei (SP) kritisierte den Beschluss scharf. Sie bezeichnete ihn als «skandalös» und warf der Regierung vor, die Interessen der Rohstoffhändler über ihre internationale Verantwortung zu stellen. «Die Schweiz darf ihre Rolle als globaler Finanz- und Handelsplatz nicht missbrauchen, um Kriegsprofiteure zu schützen», sagte SP-Vertreterin Franziska Roth. Die SP sieht in der Nichtübernahme der EU-Regel einen gefährlichen Präzedenzfall, der die Glaubwürdigkeit der Schweiz untergrabe.
Auch international stieß die Entscheidung auf Kritik. US-Botschafter Scott Miller äußerte sich enttäuscht über den Entscheid und rief die Schweiz dazu auf, ihre Rolle im Kampf gegen die Umgehung der Russland-Sanktionen ernster zu nehmen. «Es ist wichtig, Russland die Finanzmittel zu entziehen, die es zur Fortsetzung seines brutalen Krieges benötigt», betonte Miller.
Parallel zu dieser Debatte sorgte ein weiterer Vorstoß im Schweizer Parlament für Aufsehen: Ende September beschloss der Ständerat mit 34 zu 10 Stimmen, das Verbot der Rechtsberatung für russische Firmen aufzuheben. Der Vorstoß zur Lockerung der Sanktionen wurde von Beat Rieder (Kanton Wallis, Mitte-Partei) initiiert, der argumentierte, dass auch russische Unternehmen ein Recht auf Rechtsberatung hätten – unabhängig von geopolitischen Entwicklungen. Ähnlich argumentierte der Züricher Sozialdemokrat Daniel Jositsch. Diese Entscheidung stellt die bisherige Sanktionstreue der Schweiz infrage und löste heftige Reaktionen aus.
Im September hatte Wirtschaftsminister Guy Parmelin (Schweizerische Volkspartei (SVP), Kanton Waadt) vergeblich im Ständerat gewarnt, dass eine Lockerung der Sanktionen ein fatales Signal an internationale Partner wie die USA und die EU senden könnte. Die Nichtübernahme der neusten EU-Sanktion hat er nun aber im Bundesrat, der Landesregierung, selber durchgesetzt. Einerseits könnten diese Beschlüsse der Schweiz Ärger mit EU- und NATO-Ländern bereiten. Andererseits hat der weitaus größte Teil der Welt Russland nicht sanktioniert. Es könnte sein, dass in Bern nun Stimmen, denen die Rechtsstaatlichkeit wichtiger ist als die Übernahme des westlichen Sanktionsregimes, wieder Oberwasser kriegen. «Auch russische Firmen haben das Recht auf Rechtsberatung», sagte Beat Rieder.
Während die Schweiz auf der einen Seite betont, dass sie sich weiterhin zu den Sanktionen bekennt, zeigen diese jüngsten Entwicklungen eine deutliche Abkehr von der bisherigen Linie, alle Sanktionen kritiklos zu übernehmen. Kritiker sehen darin einen Versuch, den einflussreichen Rohstoffhändlern in der Schweiz entgegenzukommen, die stark in den Handel mit Russland involviert sind. Die SP warnte davor, dass die Schweiz mit solchen Schritten ihre Glaubwürdigkeit als neutraler und verantwortungsvoller internationaler Akteur gefährde.
Kommentar von Transition News
Wenn immer von Rohstoffhandel die Rede ist, bekommen die Vertreterinnen der SP Schnappatmung. Dabei bezieht sich das neuste EU-Sanktionspaket nicht nur auf diesen Wirtschaftszweig, sondern ganz allgemein auf ausländische Tochtergesellschaften.
Typisch ist auch, dass diese Partei sofort die «Neutralitätskeule» auspackt, dass also die Nichtübernahme von Sanktionen ihrem Status als neutrales Land schaden würde. Gleichzeitig kritisiert auch Russland die Übernahme der meisten Sanktionen mit dem genau gleichen Argument.
Außerdem hat die Weltwoche nachgerechnet, dass die EU Stand Ende Dezember 2023 1435 heute noch gültige Sanktionen gegen Russland erlassen hatte. Die Schweiz hat dies mit knapp 2000 Handelsbeschränkungen noch übertroffen. Die Vermutung, dass in Bern ein lockereres Sanktionsregime herrscht als in Brüssel und Washington, ist also bei Lichte betrachtet falsch.
Das zeigt, dass eine allgemein gültige Regeln, welche Sanktionen übernommen werden und welche nicht, geboten wäre. Eine solche Regel sieht die Neutralitätsinitiative vor, über die Schweizerinnen und Schweizer im nächsten oder übernächsten Jahr abstimmen werden. Diese Ergänzung der Bundesverfassung sieht vor, dass die Schweiz im Prinzip bei Sanktionen gegen kriegführende Staaten dann mitmacht, wenn diese von der UNO unterstützt werden, aber die Umgehung von solchen Sanktionen via Schweiz durch andere Staaten verhindert («courant normal»). Das würde zum Beispiel bedeuten, dass von der Schweiz weiterhin nach Russland geflogen werden darf, dass aber Frequenz und Anzahl der Sitze nicht erhöht werden dürfen gegenüber dem status quo ante bellum.
Transition News ist entschieden der Meinung, dass man der Initiative zustimmen sollte. Eine solche Verfassungsbestimmung würde der Landesregierung, dem Bundesrat, den Rücken stärken, insbesondere gegenüber Druckversuchen aus dem Ausland.
Dieser Beitrag ist Teil einer losen Artikelserie über die schweizerische Neutralität. Der letzte Artikel ist hier zu finden.
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