Zuerst die Fakten. Diese Woche hat die Schweiz beschlossen, die Lieferung von Panzerabwehrlenkwaffen an Deutschland um ein Jahr zu verschieben, um es Berlin zu ermöglichen, die Systeme an die Ukraine weiterzugeben. Diese Entscheidung wurde vom Verteidigungsdepartement (VBS) getroffen und betrifft die letzte Tranche der Lieferung, die nun erst 2026 an die Schweiz geliefert wird. Das VBS argumentiert, dass dieser Schritt mit der Neutralität des Landes vereinbar ist, da die Waffen sich zu keinem Zeitpunkt in der Schweiz befinden werden.
Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die größte Partei des Landes, kritisiert diesen Entscheid scharf und bezeichnet ihn als inkonsequent und inakzeptabel. Sicherheitspolitiker Mauro Tuena äußert Bedenken, dass die Schweiz damit indirekt eine Kriegspartei unterstütze, was für einen neutralen Staat problematisch sei. Das VBS hofft, mit dieser Maßnahme die europäischen Partner zu besänftigen, nachdem die Schweiz anderen Ländern, wie Deutschland und Dänemark, die Lieferung von Schweizer Waffen an die Ukraine untersagt hatte. Dies ist aber nicht das erste Mal, dass die Schweiz einem europäischen Land zugunsten von Waffenlieferungen an die Ukraine den Vortritt lässt.
Kritisch äußerte sich auch für die russische Plattform RT DE ein Hans Ueli Läppli; das klingt bieder-schweizerisch. Hinter diesem Pseudonym versteckt sich ein journalistischer Schmutzfink, der titelt: «Schweiz gibt Neutralität auf: Waffen für Kriegspartei Ukraine». Und dann geht es im gleichen Stil weiter: «Bundesrätin Viola Amherd, eine Befürworterin der NATO, trickst bei den Waffenlieferungen zugunsten der Ukraine, übergeht das Schweizer Volk und bricht die Neutralität der Schweiz. Könnte ihr von EU oder NATO ein Posten nach ihrem Rücktritt angeboten worden sein?»
Erstens ist die Schweiz kein Mitglied der NATO und wird es auf absehbare Zeit nicht sein und auch eine EU-Mitgliedschaft ist in weiter Ferne. Und beim Europarat sitzt schon ein Schweizer in leitender Position.
Richtig ist aber auch, dass die Schweiz, ein seit Jahrhunderten neutraler Staat, angesichts des Krieges in der Ukraine vor der Frage steht, wie sie diese außenpolitische Maxime weiterhin handhabt und ob sie durch ihre Entscheidung eine Position auf der einen oder der anderen Seite möglicher Konflikte einnimmt. Die jüngste sicherheitspolitische Debatte im Ständerat, der Kantonskammer, zeigt tatsächlich, dass die Grenzen der Neutralität immer weiter ausgedehnt werden. Doch was bedeutet dies für das Selbstverständnis der Schweiz und ihre Rolle in der internationalen Gemeinschaft?
Eine Motion hatte verlangt, die Teilnahme von Truppen an NATO-Übungen zu verbieten. Die Mehrheit des Ständerates hat die Vorlage abgelehnt und sich für eine engere Zusammenarbeit mit der NATO ausgesprochen, nachdem der Nationalrat die Vorlage noch gutgeheißen hatte. Das schließt auch die Teilnahme an NATO-Übungen ein.
Diese Entscheidung wurde jedoch von vielen als voreilig und leichtfertig kritisiert. Die Schweiz, bekannt für ihre Neutralität und ihre Vermittlerrolle in internationalen Konflikten, könnte durch eine solche Teilnahme in eine einseitige Position geraten. Kritiker warnen, dass dies das Prinzip der «Guten Dienste» untergräbt, für das die Schweiz seit Jahrzehnten international respektiert wird.
Die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats hatte zuvor versucht, eine Teilnahme an diesen Übungen zu verhindern, da sie der Auffassung war, dass solche Manöver die Neutralität der Schweiz gefährden könnten. Die Kantonsvertreter im Ständerat jedoch ließen sich von der aktuellen Stimmung in der Bevölkerung leiten und entschieden sich gegen diese Bedenken. Dabei, so die Kritiker, zeige sich eine gewisse Geschichtsvergessenheit und die Missachtung der einstigen Prinzipien der Schweizer Neutralität.
Heidi Z’Graggen, Ständerätin aus Uri, erhob ihre Stimme gegen diese Entscheidung und hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Beibehaltung einer konsequenten Neutralitätspolitik. Sie stellte klar, dass die Teilnahme an NATO-Übungen, insbesondere im Rahmen des Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, eine ernste Gefahr für die Neutralität der Schweiz darstelle. Artikel 5, der die kollektive Verteidigung der NATO-Staaten vorsieht, könnte die Schweiz in internationale Konflikte hineinziehen, die sie nicht führen möchte.
Z’Graggen betonte, dass die Schweizer Armee laut Verfassung zur Verteidigung des eigenen Landes und der Bevölkerung da sei, nicht jedoch für Einsätze an den Außengrenzen eines Verteidigungsbündnisses wie der NATO. Sie warnte vor einer schleichenden Abkehr von den neutralitätspolitischen Grundsätzen, die die Schweiz über Jahrzehnte hinweg bewahrt hat.
Trotz dieser Bedenken ist es offensichtlich, dass der Bundesrat eine schrittweise Annäherung an die NATO anstrebt. Es ist nicht so wie «Läppli» schreibt, dass die Neutralität mit einem einzigen Entscheid gekübelt wird. Aber es gibt eine Tendenz, sie immer mehr zu relativieren und auf ihren rechtlichen Kern zu reduzieren. So will der Bundesrat NATO-Streitkräften Truppenverschiebungen über Schweizer Territorium oder Überflüge ohne vorhergehende Genehmigung erlauben und erwägt, sich der European Sky Shield Initiative anzuschießen, einem von NATO-Staaten initiierten Luftabwehrprojekt. Diese Entwicklungen erhöhen laut Z’Graggen nicht nur die technologische, sondern auch die politische Abhängigkeit von der NATO.
Zusätzlich dazu wurde berichtet, dass der Schweizer NATO-Botschafter in Brüssel, Philippe Brandt, einen Fünf-Punkte-Plan unterzeichnet habe, der eine engere Zusammenarbeit neutraler Länder wie der Schweiz mit der NATO vorsieht. Dies umfasst auch gemeinsame militärische Übungen.
Die Teilnahme der Schweiz an Artikel-5-Übungen der NATO, selbst in Friedenszeiten, könnte die Schweiz in den Augen der Weltöffentlichkeit als de-facto Mitglied des Bündnisses erscheinen lassen. In einer zunehmend multipolaren Welt, in der internationale Spannungen steigen, könnte dies die Schweiz in eine Position bringen, die mit ihrer neutralen Tradition unvereinbar ist.
Z’Graggen und andere Kritiker warnen, dass diese Entwicklung die Glaubwürdigkeit der Schweiz in internationalen Krisen untergraben könnte. Zudem gebe es in der Schweiz keinen politischen oder militärischen Konsens über eine derart enge Zusammenarbeit mit der NATO. Es sei unklar, wie die Neutralität der Schweiz bei einer immer intensiveren Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsbündnis gewährleistet bleiben könne. Im Rat sagte Z’Graggen unter anderem:
«Eine Teilnahme an Artikel-5-Übungen der Nato ist neutralitätsrechtlich und neutralitätspolitisch äußerst bedenklich, da sie für den Neutralitätsfall geeignet sind, sogenannte Vorwirkung zu erzielen. (…) Die Teilnahme der Schweiz an Nato-Verteidigungsübungen in Friedenszeiten ist geeignet, die Schweiz als Teil der NATO wahrzunehmen, was sie im Neutralitätsfall jeglicher Glaubwürdigkeit beraubt und sie zur faktischen Kriegspartei machen könnte.
Wolf Linder erklärte in der NZZ:
«Es ist kurzsichtig, die Neutralität kleinzureden. In einer zunehmend multipolaren Welt steigen die Kriegsrisiken, wenn sich alle Länder einem der großen Machtblöcke anschließen. Ich stimme meinem Doktorvater zu. Auch ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die vom Bundesrat angestrebte schrittweise Annäherung an die NATO wie eine gezielte Salamitaktik wirkt, die die Option einer vollständigen Integration offenhält, ohne dies offen auszusprechen. Ich sehe nicht, wie die militärische Zusammenarbeit mit der NATO intensiviert werden kann und gleichzeitig neutralitätsrechtliche Pflichten garantiert werden sollen.»
Neben den politischen und rechtlichen Bedenken gibt es auch ganz praktische Herausforderungen. Die Schweizer Armee, deren Auslandseinsätze auf Freiwilligkeit basieren, hat bereits Schwierigkeiten, genügend Freiwillige für Übungen im Ausland zu rekrutieren. Dies zeigt sich beispielsweise bei einer geplanten Übung im Frühjahr 2025 in Österreich, für die die Armee bisher nicht genügend Soldaten gewinnen konnte. Sollte ein Obligatorium für solche Auslandseinsätze eingeführt werden, könnte dies auf erheblichen Widerstand stoßen, da viele Soldaten dies als Widerspruch zur Neutralität der Schweiz ansehen. Ein Referendum gegen diese Gesetzesänderung wäre gewiss.
Kommentar von Transition News
Meine Erfahrungen mit Panzerabwehrlenkwaffen beschränken sich darauf, dass ich damit einmal fast einen Wald in Brand gesteckt hätte, anstatt die Panzerattrappe zu treffen. Ich diente in der Schweizer Armee in den 1980er und 1990er Jahren, als die Schweizer Armee hochgerüstet war. Seither wurde aber vieles abgebaut und verkauft. Ich denke trotzdem, dass die Schweiz durchaus ein Jahr mehr auf die neuen Panzerabwehrlenkwaffen warten kann.
Die kommenden Monate und Jahre werden zeigen, ob die Schweiz ihren traditionellen Weg der Neutralität fortsetzen kann oder ob sie sich schrittweise in Richtung eines militärischen Bündnisses bewegt, das ihre historische Rolle in der internationalen Diplomatie in Frage stellt.
Insbesondere die Verteidigungsministerin, Bundesrätin Viola Amherd, nota bene eine Parteikollegin der Mitte-Ständerätin Heidi Z’Graggen, trägt die Verantwortung für diesen gefährlichen Kurs, der unser Land auf eine sicherheitspolitische Abhängigkeit zusteuert. Nun liegt es an der Bevölkerung und den wahren Verteidigern der Schweizer Neutralität, diesen Entwicklungen entgegenzutreten und für die Unabhängigkeit des Landes einzustehen.
In der nächsten Zeit wird die Schweizer Bevölkerung über eine Volksinitiative abstimmen, die die Neutralität in der Verfassung festschreiben will.
Transition News ist entschieden der Meinung, dass man der Initiative zustimmen sollte. Eine solche Verfassungsbestimmung würde der Landesregierung, dem Bundesrat, den Rücken stärken gegenüber Druckversuchen aus dem Ausland.
Fazit: Verteidigungsministerin Viola Amherd dürfte wohl nach ihrem Rücktritt nicht in eine Position nach Brüssel wechseln. Allerdings ist es vorstellbar, dass, wenn der Sitz ihrer Mitte-Partei im Bundesrat frei wird, es eine spannende Ausmarchung gibt. Wer war ihre Gegenkandidatin, als die Walliserin um den Sitz in der Landesregierung kämpfte? Heidi Z’Graggen. Die Vertreterin aus dem Urkanton Uri (oder der «Üsserschwyz», wie man im Wallis sagt) und Neutralitätsbefürworterin als Verteidigungsministerin. Das wär doch was!
Dieser Beitrag ist Teil einer losen Artikelserie über die schweizerische Neutralität. Der letzte Artikel ist hier zu finden.
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