Bei den Verhandlungen um die Bildung einer neuen österreichischen Regierung scheint die Außenpolitik ein Bereich zu sein, der für Gesprächsstoff sorgt. Unter Führung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) laufen gegenwärtig Verhandlungen zur Bildung einer Koalition mit der Österreichischen Volkspartei (ÖVP).
In Bezug auf wirtschaftliche Themen dürften sich die Koalitionspartner – der Wahlsieger FPÖ tritt erstmals in führender Rolle auf – recht schnell einigen. Am Freitag meldeten die Medien bereits eine Einigung auf ein Sparpaket. In Bezug auf die Außenpolitik liegen aber die im Wahlkampf geäußerten Positionen weit auseinander. Während die FPÖ die traditionelle Auffassung der österreichischen Neutralität vertritt und wieder stärker in den Vordergrund rücken möchte, hat die ÖVP in ihrer Regierungszeit das Land näher an die NATO geführt.
Anlässlich der Nationalratswahlen hat der in Norwegen tätige Historiker Stefan Sander-Feiss in einem Radiointerview auf Kontrafunk erklärt, dass Österreich nur noch dem Namen nach neutral sei, aber still und leise seit vielen Jahren die Annäherung an die NATO vorantreiben würde. Was steckt dahinter?
Österreich wurde nach dem Zweiten Weltkrieg analog zu Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Auch die Hauptstadt Wien verfügte über vier Besatzungszonen. Niederösterreich, das Burgenland, ein Teil Oberösterreichs und ein Teil Wiens waren sowjetisch besetzt. Bereits im Frühling 1945 wurde aber wieder eine österreichische Zentralregierung eingesetzt, der es über die Jahre schrittweise gelang, von den Besatzungsbehörden Kompetenzen zu übernehmen. Die Besatzung war aber lange fühlbar – zwischen Nieder- und Oberösterreich bestand zum Beispiel lange eine Demarkationslinie, bei der Züge und Autos kontrolliert wurden.
Der österreichische Staatsvertrag (1955) stellte dann den Abschluss der Alliierten Besatzung Österreichs (1945-1955) durch Großbritannien, Frankreich, die USA und die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dar. Damit erlangte Österreich die Souveränität wieder, die das Land 1938 durch den «Anschluss» an das Deutsche Reich verloren hatte.
Der Vertrag nennt einige Bedingungen für den Abzug der Besatzungstruppen, unter anderem wurde das Anschlussverbot an Deutschland, das schon im Versailler Vertrag enthalten war, bestätigt. Die Neutralität wird aber im Vertrag nicht erwähnt, war aber politische Vorbedingung der Sowjetunion.
Die Sowjets betrachteten die immerwährende Neutralität als Vorbedingung für die Wiedererlangung der Souveränität Österreichs, während die Verhandler aus Österreich der Meinung waren, dass nur ein souveräner Staat seine rechtlich verbindliche Neutralität beschließen könne.
Schließlich führten die Gespräche zu dem Ergebnis, dass das Neutralitätsgesetz vom freien und souveränen Staat Österreich beschlossen werden sollte. Im Abschlussdokument zur Neutralität, dem Moskauer Memorandum, wurde festgehalten, dass Österreich ein neutraler Staat sein würde und die vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Unversehrtheit und Unverletzlichkeit des Staatsgebietes garantieren würden.
Im Kalten Krieg wurden das Anschlussverbot und die immerwährende Neutralität vor allem von der Sowjetunion und von Großbritannien dahingehend interpretiert, dass Österreich der Beitritt zur heutigen EU nicht erlaubt sei. Sander-Feiss sagt denn auch, dass Österreich seit dem Antrag auf Aufnahme in die damalige EG nicht wirklich neutral sei.
Eine wichtige Frage ist also: Kann ein EU-Land neutral sein? Theoretisch schon. Das Neutralitätsrecht gibt nur vor, dass ein neutraler Staat gehalten ist, keinem Militärbündnis beizutreten und Kriegsführende nicht einseitig mit Waffen zu unterstützen.
Praktisch ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit, auf die Sander-Feiss zu Recht hinweist. 1986 stellte Österreich einen EG-Beitrittsantrag. Unter den vier Staatsvertragsländern reagierte Moskau verhalten und verwies auf die traditionelle Auffassung, wonach das mit dem Staatsvertrag und dem Moskauer Memorandum nicht vereinbar sei. Bundeskanzler Franz Vranitzky reiste darauf nach Moskau und erklärte, dies sei nur eine wirtschaftliche Gemeinschaft und deshalb mit dem 1955 Unterzeichneten vereinbar.
Sander-Feiss ist der Meinung, dass Vranitzky damit Moskau glatt angelogen habe. Er stützte sich auf eine Aussage des damals mächtigen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, der sagte, eine rein wirtschaftliche Gemeinschaft sei nicht das, was die Kommission mit der EU vorhabe. Die EU-Sicherheitspolitik sei die Verschriftlichung einer NATO-Annäherung.
Die Regierung schrieb dann den österreichischen Aufnahmeantrag um und stimmte zu, die dynamische Anpassung der Außen- und Sicherheitspolitik vollumfänglich mitzutragen. Damit sei Österreich nicht mehr neutral, sagt Sander-Feiss. Auch sei das Neutralitätsgesetz seit dem EU-Beitritt siebenmal umgeschrieben worden.
Die Neutralität sei für die österreichische Bevölkerung immer noch sehr wichtig. In Umfragen seien 80 Prozent der Österreicher dafür. Die Regierung mache aber seit Jahren etwas anderes, sagte der Historiker. Es gäbe eine riesige Diskrepanz zwischen dem, was in der Verfassung und im Neutralitätsgesetz stehe und das Volk wolle und dem, was tatsächlich gemacht wird.
Zwei Beispiele dazu: In Österreich habe, so Sander-Feiss, die Regierung kurz vor Wahlen klammheimlich und ohne Diskussion in großer Eile eine neue Sicherheitsstrategie verabschiedet. Darin werde die Bedrohung durch Russland betont. In der bisherigen Sicherheitsstrategie von 2013 sei Russland noch als strategischer Partner aufgeführt.
Das andere Beispiel ist Sky Shield. Es handelt sich um ein geplantes europäisches Raketenabwehrsystem. Auch neutrale Länder wie die Schweiz oder Österreich wurden zum Mitmachen eingeladen und haben positiv reagiert.
Beide Dinge, Sky Shield und die neue Sicherheitsstrategie, sind theoretisch mit der Neutralität vereinbar. Aber eben nur theoretisch. Denn es gibt nicht nur das Neutralitätsrecht, sondern auch die Neutralitätspolitik. Die geänderte Prämisse, wonach Russland nun ein böses Land ist, hat auch praktische Folgen. Vor allem seit Februar 2022 gibt es praktisch täglich Überflüge und Militärtransporte auf Straße und Schiene durch NATO-Militär. Ein kleines Kabinett innerhalb der österreichischen Regierung beschließt diese Dinge jeweils, ohne dass sie politisch entschieden, geschweige denn diskutiert wurden.
Die Tatsache, dass auch das mit dem Neutralitätsrecht vereinbar ist, zielt insofern am Kern der Sache vorbei, als es bei der Neutralitätspolitik darum geht, dass diese glaubwürdig ist und ein Land auch als neutral wahrgenommen wird. Das war in Österreich bis in die jüngste Vergangenheit so. Heute ist das aber je länger, je mehr in Frage gestellt.
Es gibt also bei den jetzt laufenden Regierungsbildungsverhandlungen Diskussionsbedarf in Bezug auf Außenpolitik. Dabei ist es durchaus vorstellbar, dass die FPÖ Österreich wieder auf eine traditionellere Neutralitätspolitik zurückführen möchte. Die ÖVP dürfte damit nicht einverstanden sein. Aber ihre Karten bei diesem Poker sind schlecht. Scheitern auch diese Verhandlungen, hat Bundespräsident Alexander van der Bellen wohl nur noch erneute Nationalratswahlen als Option. In den Umfragen kratzt die FPÖ mittlerweile an der 40 Prozentgrenze, während sie im Herbst bei knapp 29 Prozent lag.