Selten war es einfacher, einen Krieg kommen zu sehen. Und selten ist es einfacher, die internationale Reaktion vorherzusehen.
Während des Ersten Weltkriegs verübte die Türkei an der armenischen Bevölkerung, die auf dem Gebiet des damaligen ottomanischen Reiches lebte, einen Genozid, der Millionen von Opfern forderte. Ignoriert von den gleichgültigen Grossmächten sollte er der Vergessenheit anheimfallen. Dann kam Franz Werfel.
In seinem voluminösen Jahrhundertroman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» setzte der Österreicher dem verzweifelten Kampf der im Ersten Weltkrieg auf verlorenem Posten stehenden Armenier ein Denkmal und bereitete ein faszinierendes Panorama der ostchristlichen Kultur vor dem Leser aus, das in Westeuropa auch in recht gebildeten Kreisen weitgehend ignoriert wurde und wird. Die Dankbarkeit der Armenier, dass Werfel ihnen seine gewaltige Stimme lieh und den Opfern des ruchlosen Völkermordes Unsterblichkeit verlieh, ist bis heute grenzenlos. In vielen armenischen Orten heisst der zentrale Platz «Franz-Werfel-Platz».
Auch heute befinden sich Armenier wieder auf verlorenem Posten und kämpfen einen verzweifelten Kampf um die Reste der Region Bergkarabach, die nach dem Krieg von 2020 übriggeblieben sind. Nachdem Aserbaidschan durch die Blockade der einzigen Zugangsstrasse von armenischem Gebiet, dem Latschin-Korridor, seit dem Jahreswechsel versucht hat, die Region auszuhungern und die dortigen Bewohner zur Aufgabe zu zwingen, werden seit anfangs der Woche armenische Stellungen durch die aserische Armee beschossen. Eine leichte Entspannung ergab sich bei der Versorgungslage der Enklave, indem ein Versorgungskonvoi des Roten Kreuzes durchgelassen wurde. Die aserische Seite begründet den Militäreinsatz mit angeblichen Verstössen Armeniens gegen den geltenden Waffenstillstand von 2020. Die armenische Seite weist diese Vorwürfe zurück.
Wir haben die Entstehung dieses erneuten Konfliktes hier ausführlich nachgezeichnet. Wichtig ist, dass die Leitmedien auch jetzt die Einschätzung wiederholen, dass Bergkarabach zwar von Armeniern bewohnt wird, aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört (siehe hier und hier). Durch ständige Wiederholung wird diese Geschichtsklitterung aber nicht wahr – wir haben hier gezeigt, dass das Recht klar ist und auf armenischer Seite liegt. Dadurch versuchen die Grossmächte lediglich ihr Abseitsstehen und ihre Gleichgültigkeit zu legitimieren. Nur Frankreich ist vorsichtig auf armenischer Seite, da sich dort eine bedeutende armenische Gemeinde befindet.
Etwas deutlicher schlägt sich die Schweiz auf die Seite Armeniens. Der Ständerat hat Anfang des Jahres den Bundesrat dazu aufgefordert, im UNO-Sicherheitsrat zu intervenieren, dem die Schweiz als nichtständiges Mitglied angehört.
Das durch Öleinnahmen wohlhabende aber diktatorisch regierte Aserbaidschan wird von seinem Brudervolk, der Türkei unterstützt und aufgerüstet. Russische Friedenstruppen sollten hingegen gemäss der Friedensvereinbarung von 2020 die Armenier in Bergkarabach schützen. Da die russische Armee in der Ukraine beschäftigt ist, lässt sie die Aseris aber weitgehend gewähren.
Nicht dass es keine Friedensverhandlungen gegeben hätte. Internationale Vermittlungen sollten bis Ende des Jahres zu einem Friedensabkommen führen. Aserbaidschan fordert dabei praktisch die Assimilation der Armenier in Bergkarabach in den aserbaidschanischen Staat. Armenien fordert im Tausch gegen die Anerkennung der völkerrechtlichen Zugehörigkeit der Enklave zu Aserbaidschan zumindest Rechte und Sicherheiten für die Menschen dort.
Aserbaidschan kann praktisch fordern, was es will, weil europäische Medien und Politiker sich neutral verhalten. Das Völkerrecht wird in Bezug auf den Ukrainekrieg ständig bemüht, um Recht und Unrecht zu benennen. Im Kaukasus soll das aber unausgesprochen nicht gelten. Hier lässt man den Aggressor gewähren, weil man die Zusammenarbeit mit ihm ausbauen will, denn er liefert Öl und Gas. Diese doch sehr selektive Anwendung von internationalen Grundsätzen mutet wie Heuchelei an.
Sollten die Angriffe andauern, droht eine massive Flüchtlingswelle wie im Jahr 2020 oder die komplette Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach. Eine Variante ist aber auch ein Guerillakrieg der Armenier gegen aserische Stellungen. Es ist zudem denkbar, dass selbst ein kompletter Sieg der Aseris in Bergkarabach dieses Land ermuntert, eine Landverbindung zur aserischen Enklave Nachitschewan zu erobern und so Armenien von Iran abzuschneiden.
Armenien unterhält seit Jahrhunderten gute Beziehungen zum Iran und es gibt auch eine bedeutende armenische Minderheit in diesem Land. Ein solches Szenario hat Iran deshalb – weitgehend unbeachtet – diese Woche als das Überschreiten einer roten Linie bezeichnet. Sollte Aserbaidschan übermütig werden und diese Strategie aktiv verfolgen, dann könnte sich der Konflikt ausweiten.
Setzt Baku sich auch hier durch, dann würde der Landweg nach China durch die moslemische Türkei und seine turksprachigen Brudervölker beherrscht. Dass Europa hier tatenlos zusieht, mutet extrem kurzsichtig an.
Nachtrag von 13:30 Uhr:
Kurz nach Veröffentlichung dieses Beitrags meldeten die Medien, dass eine Feuerpause vereinbart wurde. Gemäss der Welt geschah dies offenbar unter russischer Vermittlung.