Die Welt ist in den letzten Jahren ordentlich ins Wanken geraten. Gerade die westlichen Staaten haben in dieser Zeit das Vertrauen verloren, nicht zuletzt deswegen, weil sie ihr liberales Versprechen gebrochen haben. Demokratische Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit erweisen sich mehr und mehr als Worthülsen.
Sie sind entkernt wie der sogenannte Westen, der seine Strahlkraft genauso schnell verliert wie die USA ihre globale Vorherrschaft. Von diesem Niedergang spricht der Philosoph Hauke Ritz in seinem neuen Buch.
Erschienen ist es in der ungefähr gleichen Zeit wie Ulrike Guérots «ZeitenWenden», wo die Politikwissenschaftlerin ebenfalls den geistigen, politischen und gesellschaftlichen Zerfall sogenannter liberaler Demokratien thematisiert. Beide haben bereits vor knapp zwei Jahren gemeinsam das Buch «Endspiel Europa» geschrieben und schon darin den Appell gesendet, dass sich der Kontinent neu erfinden müsse.
Daran halten sie auch in ihren aktuellen Werken fest. Während Guérot aber den Blick mehr auf die Gegenwart richtet, nimmt Ritz eher eine geschichtliche Perspektive ein. Das liegt in seinem Arbeitsschwerpunkt begründet. Dieser liegt neben der Geopolitik auf der Ideengeschichte, wie Ritz vor allem im letzten Drittel seines Werks unter Beweis stellt.
Bis dahin ist es mehr oder weniger wie ein klassisches Geschichtsbuch geschrieben. Geschildert werden die entscheidenden Ereignisse und Stationen, anhand derer der Autor den «Niedergang» nachzeichnet. Allerdings ergänzt er diese Ausführungen um eigene Analysen. Das liest sich schon deshalb wunderbar, weil so manch ein origineller Gedankengang dabei ist, der inspiriert und dazu anregt, die Zusammenhänge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Nicht enden wollender Bürgerkrieg
Zu den Stationen gehören beispielsweise der Erste und der Zweite Weltkrieg, die Aufhebung der Goldbindung oder der Fall der Berliner Mauer. Ritz spricht von einem «nicht enden wollenden Bürgerkrieg», der 1914 begann und Europa mit jedem Abschnitt schwächt. Die einstige Einheit des Kontinents wurde durch eine neue ersetzt, durch die «Einheit des Westens», deren Zentrum jedoch nicht mehr in Europa liegt, sondern in Nordamerika.
Darin macht Ritz den Keim für den titelgebenden Niedergang aus, genauer: in dem Streben der USA nach einer «unipolaren Weltordnung». Dementsprechend viel Raum nimmt sich Ritz für die Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg. Der Philosoph sieht in der «Frontstellung gegenüber Russland» das Fundament des heutigen Westens, der sich global isoliert und das Gegenteil erreicht hat:
«Die Beziehungen zu Russland haben bereits ihren Endpunkt erreicht und sind in den offenen Krieg übergegangen. Die Beziehungen zu China und Iran sind äußerst angespannt und befinden sich kurz vor diesem Punkt. Das Verhältnis zur arabischen Welt, Lateinamerika und Afrika ist von zunehmender Distanz, Entfremdung und wechselseitigem Desinteresse geprägt.»
Vergebene Friedenschancen
Es entsteht eine neue multipolare Weltordnung, in der dem Westen keine Bedeutung zukommt. Das liegt auch an den vergebenen Friedenschancen. Diese habe der Westen vor allem 1989 gehabt, wie Ritz hervorhebt und ausführt, inwiefern der Westen unter Führung der USA im Gefühl der Selbstüberschätzung die falschen Entscheidungen traf.
Herausgearbeitet wird das unter anderem am Beispiel der Machtpolitik in der islamischen Welt oder anhand der Art und Weise der Propaganda. Zu den spannendsten Passagen gehört die, wo es darum geht, wie die CIA im Kampf gegen den Kommunismus die Kulturlandschaft beeinflusste und unter anderem Intellektuelle instrumentalisierte, ohne dass diese es wussten.
Nicht weniger interessant liest sich der Abschnitt, in dem der Autor veranschaulicht, welche Bedeutung die Russische Revolution von 1917 hatte. Sie bewirkte, so Ritz, «dass militärische Mittel zur Durchsetzung imperialer Macht (…) die Ausnahme blieben». Heute sei es gängige Praxis, eine politische Agenda durch eine Vielzahl an scheinbar unabhängig voneinander agierenden Institutionen zu anonymisieren.
Nietzsche und der Kalte Krieg
Nach knapp 170 Seiten zeigt Ritz schließlich, zu welchen Gedankengängen er als Philosoph fähig ist, indem er unter anderem das Werk Nietzsches in den Kontext des Kalten Krieges stellt. Wie an dieser drängt sich bisweilen auch an anderen Stellen zunächst der Eindruck auf, dass der Autor thematisch abschweift. Doch das täuscht. Ritz findet immer wieder zurück und demonstriert mit abschließenden Sentenzen, inwiefern der Exkurs für das Verständnis des jeweiligen Zusammenhangs von Bedeutung ist. So auch im Fall Nietzsches:
«So sahen sich die USA vor die Notwendigkeit gestellt, die linke Hegemonie in den Geisteswissenschaften zu brechen und das Erbe Hegels und Marx’ durch andere geistige Traditionen zu ersetzen. Bald wurde deutlich, dass sich hierfür Nietzsches Philosophie anbot. Denn Nietzsches Denken war geeignet, die bisherige Geistesgeschichte als fehlerhaft und negativ einzustufen. Zugleich bot sie die Möglichkeit, eine Umwertung der bestehenden Werte zu fordern und dabei auch noch revolutionär zu wirken, was wiederum erlaubte, die politische Linke anzusprechen.»
Anders ausgedrückt, wurde es dank Nietzsches Philosophie möglich, im Namen der Linken alle bisherigen linken Begriffe und Denkvorstellung zu verwirren.
Derartige Analysen münden irgendwann in konkrete Ideen, wie sich Europa neu erfinden könnte. Arbeitet Ritz am Anfang seines Buches heraus, dass der Westen das «Ergebnis von taktischen Machtkonstellationen und Kriegsausgängen» ist, plädiert er am Ende für eine Loslösung von den USA. Es gehe darum, in Anlehnung an die Verhältnisse vor dem Ersten Weltkrieg die «eigene Einheit in einem Gleichgewichtszustand der Mächte» erneut zu realisieren, um im Kleinen das zu verkörpern, was die multipolare Welt im Großen bedeutet.
Dieser Lösungsansatz erscheint nur auf den ersten Blick konventionell, erweist sich aber in seiner konservativen Rückbesinnung auf das Machtverhältnis im Europa des späten 19. Jahrhunderts als durchaus ungewöhnlich. Solche Gedankengänge machen die Lektüre so spannend. Ein kluges, ein lesenswertes Buch.