Wissenschaftler überlegten sich zum Thema Ukraine-Krieg «zweimal, was man öffentlich sagte und publizierte». Das sieht die Historikerin Sandra Kostner als eine Folge der Kampagne gegen die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot.
«Der grosse Freiraum, den man als Wissenschaftler eigentlich haben sollte, wurde auf diese Weise in einer Art Selbstzensur beschnitten. Viele hatten Angst, dass sie in Situationen kommen könnten, die potentiell karrieregefährdend wären und die einen Reputationsverlust bedeuten könnten. Denn wer wollte sich schon als Putin-Propagandist durch die Republik treiben lassen?»
Kostner beschreibt die Folgen des politischen Drucks auf die Wissenschaft in einem kürzlich veröffentlichen Interview mit dem Magazin Cicero. Politik bediene sich gern der «richtigen» Wissenschaft, um ihre Entscheidungen zu begründen.
Dr. Sandra Kostner am 6. Juni in Berlin bei der Vorstellung des von ihr mitherausgegebenen Sammelbandes «Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht». (Foto: Tilo Gräser)
Eigentlich müsste Wissenschaft frei von einem politischen «Korsett» sein, so die Historikerin. «In den Wissenschaften ist man zumindest von der Theorie her frei zu denken und zu forschen, was man für richtig und wichtig hält.»
Doch wie schon bei der Corona-Krise zeige sich auch beim Krieg in der Ukraine, «dass das Korsett der Politik auch stark auf die Wissenschaft abfärbt». Das habe Folgen, denn die Wissenschaftler seien von öffentlichen Forschungsgeldern abhängig.
Wer den offiziellen Narrativen widerspricht, wird medial vorverurteilt und ausgegrenzt. Das ist eine der Folgen, die Kostner beschreibt. Hinzu komme die Angst vor dem Verlust der Reputation und der Möglichkeit zu publizieren.
Analysen, die das Handeln der eigenen Seite kritisch bewerten, würden politisch und medial als Illoyalität gedeutet.
«Es entsteht ein Bekenntnisdruck, der über Politik und Medien transportiert wird und sich auch auf Wissenschaftler auswirkt. Wenn die eigene Seite als die gute dargestellt wird, die von Werten geleitet agiert und Freiheit und Demokratie verteidigt, während auf der anderen Seite das abgrundtief Böse steht, ist es schwer für Wissenschaftler, sich dieser Art von moralischer Nötigung zu entziehen.»
Laut Kostner wird es damit immer schwerer, eine Situation nach den nüchternen Fakten zu bewerten und danach zu fragen, was genau passiert ist. Das gilt ihr zufolge auch für die Frage nach der Entwicklung eines Konfliktes bis hin zum Krieg. «Wer dies tut, kommt schnell in den Verdacht, dass er der anderen Seite zuarbeite.»
Zu den Ursachen gehört für die Historikerin auch die neoliberale Hochschulreform. Diese sei zu Lasten der Wissenschaftsfreiheit gegangen. Wissenschaftler seien immer mehr von sogenannten «Drittmitteln» abhängig geworden.
Die Medizin sei somit in den Einfluss der Pharmaindustrie geraten und die Politikwissenschaften wie auch die Friedensforschung immer abhängiger von öffentlichen Geldern. Das beeinflusse die Forschungsergebnisse.
Wissenschaft tendiere laut Kostner nicht zu Abweichung von den politischen Vorgaben. Dafür sorge auch der Wunsch, in den für die jeweilige Fachdisziplin wichtigen Journalen publizieren zu können. Das macht es aus ihrer Sicht «extrem schwierig», in moralisch aufgeladenen Situationen faktenbasiert zu argumentieren.
Mit Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine stellt die Historikerin fest, dass Krieg immer das Versagen der Diplomatie voraussetze. Die westliche Seite habe dem Kreml schon vor dem 24. Februar 2022 zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse an den russischen Sicherheitsinteressen habe.
Spätestens mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine haben die westlichen «Kreml-Astrologen» wieder Hochkonjunktur. Sie deuten die Interessen und das Vorgehen Russlands – und liegen meistens falsch. Kostner dazu:
«Kein deutscher Wissenschaftler weiss genau, was im Kreml vor sich geht. Das kann niemand wissen, weshalb man nicht den Eindruck erwecken sollte, dass man es dennoch tut. Etwas mehr Bescheidenheit stünde manchem allzu sehr zu Kurzschlüssen Neigendem gut zu Gesicht.»
Die Historikerin hat gemeinsam mit dem Migrationsforscher Stefan Luft den Sammelband «Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht» herausgegeben. Das Buch soll ein Angebot zum Diskurs, zur Vielfalt und Perspektivenerweiterung sein, erklärte sie dazu.
Kommentare