Die gesellschaftspolitische Stimmung in westlichen Staaten ist getrübt. Große Teile der Bevölkerung haben das Gefühl, nicht mehr in demokratischen Verhältnissen zu leben. Freiheitsrechte werden zunehmend untergraben, autoritäre Strukturen gestärkt. Die Ideale der Aufklärung verblassen kontinuierlich, die Werte des Humanismus verlieren an Bedeutung. Viele wünschen sich deshalb eine Veränderung, einen Systemwechsel, «Damit der Mensch ein Mensch ist».
So lautet der Titel einer Anthologie, die der KulturKreis Pankow herausgebracht hat. Der Berliner Verein engagiert sich seit einigen Jahren in den Bereichen Kultur und Gesellschaft und organisiert Veranstaltungen, die den analogen Austausch ermöglichen sollen. Thematisiert werden dabei sowohl aktuelle als auch zukünftige Entwicklungen, in einem respektvollen Dialog, der auf Ergebnisoffenheit basiert.
In seiner Reihe «Denkraum» lädt der KulturKreis Pankow regelmäßig Referenten ein, die intellektuelle Impulse setzen – Publizisten, Wissenschaftler und Bürgerrechtler. Eine Auswahl dieser Beiträge wird in der vorliegenden Anthologie präsentiert. Wollte man sie thematisch auf einen Nenner bringen, wäre «kritische Diagnose des gegenwärtigen Systems» der passende Ausdruck.
Repräsentativ dafür ist eine Passage aus dem Text des Menschenrechtsaktivisten Ralph Boes: «Die Politik hat sich auf das Bedenklichste vom Volk und seinen Bedürfnissen abgenabelt. Unsere tonangebenden Politiker sind von ‹unten› her nicht mehr zu erreichen. Auch nicht mehr durch Proteste. Die wichtigsten Entscheidungen werden ihnen von ‹oben› her diktiert: vom WEF, von der WHO, von den USA, von der EU und anderen.»
Ansätze und Perspektiven für eine bessere Zukunft
Mit solchen Diagnosen gehen Ideen einher, wie das derzeitige System reformiert und verändert werden könnte, damit, wie es im Titel heißt, der Mensch ein Mensch ist. Einen besonders hoffnungsvollen Beitrag leistet Markus Stockhausen. Der international bekannte Solist spricht von überholten Denkweisen und Paradigmen, von alten Verhaltensmustern, die ausgedient haben.
Anvisiert wird ein anderes Verständnis vom Miteinander, wobei Stockhausen dabei auf Visionen bekannter Persönlichkeiten aufbaut. Als schöpferische Quelle nennt er die Spiritualität und setzt dabei auf Visualisierung. So ließe sich ein neues, anderes Bewusstsein als bisher hervorbringen, eines, das «das Wohl des Ganzen zum Ziele hat».
Die Philosophin Gwendolin Walter-Kirchhoff sieht hingegen in der Bildung die Voraussetzung für eine bessere Zukunft. Im Vordergrund steht die Erziehung zum freien und moralischen Menschen. Das Ziel bestehe darin, «die Zahl der gebildeten Menschen im Staat zu vermehren».
Gemäß Walter-Kirchhoff bedarf es dafür Vorbilder. In der Gegenwart hebt sie die skandinavischen Staaten als gutes Beispiel hervor. Geschichtlich und konzeptionell führt sie jedoch die Normative Ästhetik als Ideal an, die klassische Kunst also, «weil sie das Einzige ist, das nicht durch die Politik und die Wechselfälle der Zeit korrumpiert werden kann».
Auf der Folie von bekannten Dichtern und Denkern
Um zu zeigen, wie man «im Widerstand ein gutes Gefühl» bewahrt, macht Walter-Kirchhoff Anleihen bei Friedrich Schiller. Geistesgrößen wie diese findet man in den versammelten Beiträgen häufiger. Die Autoren breiten ihre Überlegungen auf der Folie verschiedener Dichter und Denker aus, so auch Patrick Baab. Der Politikwissenschaftler und Journalist zieht Dostojewskis Klassiker «Verbrechen und Strafe» heran, um in geistreichen Analogien Parallelen vom Protagonisten Raskolnikow zur NATO zu ziehen.
Baab spricht von «Verbrechen des Westens», die vor allem der globale Süden registriert. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs zeichnet der Journalist ein trauriges Bild, in dem man die gegenwärtigen Verhältnisse als einen Zustand der Gegenaufklärung erkennt. Dabei akzentuiert er auch Aspekte, an denen deutlich wird, wie die Realität von Dostojewskis Roman abweicht.
Der Philosoph Hauke Ritz hingegen operiert in seinem Beitrag mit den Denkfiguren Walter Benjamins. Für die Missstände der Gegenwart macht er die Postmoderne verantwortlich, die «bewusste Hässlichkeit und Ekel» genauso zelebriert wie den «Abbruch aller Tradition und die Umkehrung aller herkömmlichen Wertmaßstäbe».
Ritz’ Ausführungen gehören zu den intellektuell anspruchsvollsten in der Anthologie und zeichnen sich durch begriffliche Schärfe und Esprit aus. Der Philosoph zeigt nicht nur die Parallelen zwischen NS-Zeit und Gegenwart auf, sondern stellt auch Bezüge zu Horkheimers und Adornos «Dialektik der Aufklärung» her.
Ende der alten Journalismus-Erzählung des Westens
Das Präfix «post» spielt auch eine Rolle in dem Beitrag des Medienwissenschaftlers Michael Meyen, obgleich es nicht explizit genannt wird. Der Autor spricht, wenn schon nicht von der Postmoderne, so doch vom Ende der «alten Journalismus-Erzählung des Westens». Diese basiert darauf, dass die Leitmedien angeblich die vierte Gewalt im Staate darstellen. Doch daran glauben immer weniger Bürger, ähnlich wie in den 1980er-Jahren in der DDR.
«Medien und Macht halten zusammen wie Pech und Schwefel», schreibt Meyen. «Man muss gar nicht das Ende der DDR bemühen, um zu verstehen, dass die Dinge genau umgekehrt laufen: Der Journalismus ändert sich erst, wenn die Verhältnisse kippen.» Mit der vierten Gewalt sei ein «Obererzieher» erfunden worden, von dem es sich zu lösen gilt.
Meyen ist einer von drei Autoren, die in der DDR lebten und ihre Erfahrungen für einen Vergleich mit dem gegenwärtigen System fruchtbar machen. Dazu gehört auch die Publizistin Daniela Dahn. Sie konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Pervertierung des Verständnisses von Demokratie – sowohl im Journalismus als auch auf institutioneller Ebene: «Demokratie bedeutet Machtbeschränkung», so Dahn. «Doch die Parlamente haben ihre Macht weitgehend an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben.»
Als Dritter der in der DDR Sozialisierten tritt in der Anthologie der Journalist und Transition News-Redakteur Tilo Gräser auf. In seinem Beitrag gibt er größtenteils die Aussagen des 2024 verstorbenen Theologen und Bürgerrechtlers Friedrich Schorlemmer wieder, der bei einem persönlichen Treffen über die Umbruchzeit in der DDR 1989/90 und die Folgen für das wiedervereinte Deutschland gesprochen hatte.
Ist das aktuelle System eine gute Wahl für ein faires und gerechtes menschliches Miteinander? Diese Frage werfen die versammelten Autoren auf je eigene Art und Weise auf. Dabei bleibt es nicht aus, dass manche der Aussagen konträr zueinanderstehen. Denn das Ziel besteht darin, «nicht nur eine Denkrichtung aufzuzeigen», wie der Herausgeber im Vorwort hervorhebt, «sondern ein breiteres Spektrum von Ideen zu präsentieren, um die Debatte zu vertiefen und Handlungsoptionen zu entwickeln». Das ist dem KulturKreis Pankow gut gelungen.