Die Zensur ist die jüngere
von zwei schändlichen Schwestern,
die ältere heißt Inquisition.
Johann Nepomuk Nestroy
Liebe Leserinnen und Leser
Wie praktisch: Endlich wird Ihnen nicht nur im Internet, sondern auch beim Ausleihen von Büchern mitgeteilt, ob es sich bei dem jeweiligen Werk um etwas «Bedenkliches» oder «Umstrittenes» handelt. Das wäre ja auch sonst ganz schön gefährlich, wenn man einfach so, ungefiltert und ohne «Einordnung» eine Information oder gar ein ganzes Buch präsentiert bekäme! Wo kämen wir da hin?
Norbert Häring berichtet aktuell über diese alarmierenden Auswüchse im deutschen Bibliothekswesen: «Öffentlich finanzierte Bibliothekare drängen Lesern mit einem Index der gefährlichen Bücher ihre Weltsicht auf». Man kann es sich kaum bizarrer ausmalen:
«Die deutschen Bibliothekare haben einen ‹Expert*innenzirkel›, der Bücher auflistet, die mit Warnhinweisen versehen werden sollen. Diese sollen dafür sorgen, dass Bibliotheksnutzer keinen Thesen Glauben schenken, die den für die Regierenden und den Zeitgeist akzeptablen Meinungskorridor verlassen.»
Puh, na endlich, das haben wir gebraucht! Nein, Spaß beiseite. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass mich derartige «Warnhinweise» bereits in der Grundschule, ach was, schon im Kindergarten, also von dem Moment an, wo ich lesen konnte, auf die Palme gebracht hätten. Ich war schon als Kind allergisch auf «pädagogisch wertvolle» Bücher, die irgendeine Botschaft vermitteln wollten. Kinder reagieren da häufig ohnehin sensibler als die meisten Erwachsenen, die meist schon abgestumpft sind, was das Erkennen von Propaganda angeht.
Wie eine weit entfernte Welt erscheinen mir hingegen die Zeiten, als uns im Studium bereits im ersten Semester eine der wichtigsten methodischen Grundlagen mit Texten jeglicher Art beigebracht wurde: Vor jeder Interpretation und Bewertung ist zuallererst einmal eine gründliche Auseinandersetzung mit Inhalt, Form und Kontext eines jeden Textes erforderlich. Nicht mehr und nicht weniger. Erst ganz am Ende einer gründlichen Auseinandersetzung war es erlaubt, zu interpretieren und schließlich auch einen persönlichen Kommentar und eine Wertung vorzunehmen.
Daran kann man durchaus einiges kritisieren. Zum Beispiel, dass der eigene erste Eindruck, die eigene Wertung zu wenig Raum bekam. Jedoch: Es wurde eingeübt, was mittlerweile offenbar vergessen zu gehen scheint, nämlich Texte und Sachverhalte erst einmal möglichst nüchtern und mit Distanz zu betrachten und eigenständig darüber nachzudenken.
Diese Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens und demokratischer Meinungsbildung gleichermaßen scheint mittlerweile von gestern zu sein. Heute wird dem vermeintlich unbedarften Leser noch vor jeder Auseinandersetzung vorsorglich mitgeteilt, dass die Inhalte oder der Autor eines Buches «am rechten Rand» oder «umstritten» oder sonst einfach irgendwie «pfui» sind. Also: Am besten gar nicht anschauen. Oder nur mit Maske und Impfung. Könnte nämlich ansteckend sein ...
Betreutes Lesen und die Verunmöglichung eigener, nüchterner Auseinandersetzung scheinen mittlerweile zu den Hauptaufgaben von jenen Bibliothekaren und selbsternannten Meinungswächtern zu gehören, die diese Entwicklungen unterstützen. Hinzu kommt, dass es immer weniger Verlage gibt, die wahrlich kritische Bücher überhaupt noch publizieren. Und es gibt auch immer weniger kleine und unabhängige Buchhandlungen, die Bücher abseits des Mainstreams und der Bestsellerlisten verkaufen oder gar im Schaufenster stehen haben. In diesem Bereich bin ich aktuell selbst tätig und weiß daher, mit welchen Schwierigkeiten die Branche insgesamt zu kämpfen hat.
Ich kann nur sagen: In meinen beiden aktuellen Tätigkeiten bemühe ich mich, diesen Entwicklungen standzuhalten und ohne Scheuklappen Informationen zu vermitteln und auf Bücher aufmerksam zu machen, die den Menschen an vielen anderen Orten vorenthalten oder mit Warnhinweisen versehen werden.
Explizit möchte ich darum an dieser Stelle das neuste Buch von Volker Mohr, «Die höllische Komödie», sowie den Loco Verlag empfehlen. Auf der Website des Verlags heißt es aktuell: «Volker Mohr ist 2024 für einen der renommierten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum nominiert gewesen, aber eine denunziatorische Buchhändlerin hat dazu beigetragen, dass dies vereitelt wurde.» Zu solchen Buchhändlerinnen möchte ich definitiv niemals gehören.
Herzliche Grüße
Susanne Schmieden