Transition News: Sie haben die Walddorfschule in Görlitz mitaufgebaut und viele Jahre als Pädagoge gearbeitet. Vor kurzem hat das Schuljahr begonnen, und manche Eltern sind verzweifelt, dass ihr Kind keinen Platz an einer freien Schule bekommen hat. Wie kann man Kinder stärken, damit diese die Schule besser überstehen?
Thomas Brunner: Eine kleine Anekdote – der Enkel einer einfachen Frau kam geknickt von der Schule nach Hause, weil der Lehrer ihn übergriffig behandelt hatte. Da sagte seine Oma nur: Wenn der Lehrer das noch mal macht, dann sprichst du es nicht laut aus, aber du sagst innerlich ganz laut «Du Arschloch! Du Arschloch!» Der Enkel kam am nächsten Tag wieder und sagte: «Oma, das war gut. Das hat geklappt. Ich fühle mich viel besser.» Das nur zum Thema, wie man die Kinder stärken kann. Das A und O ist, dass sie nach Hause können und wissen, dass sie das Wichtigste sind und nicht die Schule.
Natürlich wäre es anzustreben, dass die Schule selbst als Vertrauensraum erlebt werden kann. Aber heute sind wir zumeist eine kasernierte Gesellschaft. Das wird man innerhalb des staatlichen Systems nicht mehr reparieren.
Entscheidend dabei ist, dass sich hier zwei Ebenen widersprechen. Einerseits das Staatliche, die gesetzliche Ebene – das Prinzip des Staates ist Gleichheit. Aber das Prinzip von Entwicklung ist Individualität. Sonst brauchen wir nicht von Entwicklung zu reden, denn, wenn das nach einem Raster gehen soll, dann bedeutet das, wir sortieren nur aus, was wir brauchen.
Historisch gesehen sind das Reste des Absolutismus. Zum anderen wurde philosophisch etwas nicht geleistet. Gerade deswegen ist die Zeit von Goethe und Schiller so bedeutend, weil sie an dieser Grundproblematik arbeiten – an der Vernunft. Das Vernunftvermögen ist der Inhalt der Aufklärung. Das Mittelalter hat den Menschen diese Vernunft nicht zugestanden. Aber danach wurde die Vernunft zum neuen Korsett. Gerade für Wilhelm von Humboldt ging es um den Übergang von der abstrakten Vernunft zu einem Denken und Fühlen, das auch den individuellen Menschen zu erfassen vermag.
Eben ist Ihr neues Buch über Wilhelm von Humboldt erschienen. Was können wir in Hinblick auf Schule beziehungsweise Bildung von ihm lernen?
Er fragt zum Beispiel: Was ist das Wesentliche bei der Sprache? Und bedeutet ein Wort im Italienischen, das ich übersetze, dasselbe wie im Deutschen? Man kann sagen: Ja, abstrakt, verstandesmäßig ist es dasselbe. Trotzdem ist es eben etwas anderes, ob ich «la Luna» oder «der Mond» sage. Und das heißt, das Individuelle in der Sprache spricht sich durch etwas aus, was ich nur von anderen erfahren kann, weil ich einen anderen Blick habe.
Humboldt sagt: Da ist das Ende des Verstandes, und wir müssen eigentlich einen höheren Sinn entwickeln, um das Individuelle zu erfassen – das, was ist.
Den höheren Sinn fürs Individuelle?
Das ist eben die Grundproblematik. Und deswegen ist beispielsweise bei Kant das Großartige, dass er zumindest warnt: Passt auf, wenn einer vorgibt, die Wahrheit zu haben. Niemand kann für den andern die Wahrheit haben.
Und genau da liegt das Problem: Wenn die Vernunft Staat wird. Das Modell des Rationalismus, im Grunde der rationale Aufklärungsstaat, später der Absolutismus, auch Friedrich der Große und so weiter entwickeln den Staat als Erzieher der Bevölkerung. Der Staat entwickelt die Grundsätze, und das war bis in Kleinigkeiten vorgegeben, bis zur Kleidung.
Was jetzt Bildung und Schule anbelangt, war das Mittelalter nicht so dogmatisch. Das Bildungswesen war frei und international. Und die Kirche war nur für die moralische Erziehung zuständig. Luther ist eigentlich derjenige, der eine Staatsschule fordert, weil er die Massenschrift, das Buch, hatte. All diese Dinge steigern sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu der Idee, der Staat könne im Grunde den Menschen erziehen.
Goethe hat erst einmal Pflanze neben Pflanze, auch Steine und alles Mögliche aufgereiht – er baute Reihen und schaute nach Verwandtschaften. Er entwickelte aus der Vielfalt Schritt für Schritt ein, er nennt es, «Urbild», also eine Urpflanze, ein ideelles Etwas, das alle vereint, aber nicht ausgedacht ist.
Aber gesiegt hat wohl der Rationalismus ...
Das sieht man ja. Man kann sagen, so ab 1830/40, also mit Goethes Tod, geht diese Welt einer anderen Kultur wirklich radikal unter, und es zieht ein Maschinenbegriff von Gesellschaft auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Deutschland führender industrieller Wirtschaftsmotor in Europa, unter der Devise: Wir machen es jetzt praktisch.
In den Wissenschaften wurde der Mensch auf einmal nur noch technisch interpretiert. Hermann von Helmholtz, ein großer deutscher Physiker und Mediziner, beschreibt den Menschen, wie so einen Telegraphenapparat, dessen ganzer Wahrnehmungsvorgang rein kausal abläuft. Und das heißt, der Mensch hat überhaupt kein Seelisches als eigene Quelle, hat kein eigentliches Ich mehr, sondern er wird auf einen rein biologisch-chemischen Vorgang reduziert.
Darauf baut dann das ganze gesellschaftliche System auf. Und ab da beginnt der Staat, Schule sowie Universitäten richtig in Griff zu nehmen und finanziert ordentlich die naturwissenschaftlichen Felder.
Und am Ende des 19. Jahrhunderts haben wir «Made in Germany». Die besten Maschinen kommen aus Deutschland. Wir haben alles Technische enorm gefördert, doch die Geisteswissenschaften sind erledigt. Das heißt, die Frage: Wer ist der Mensch? Diese Frage gibt es nicht mehr. Der Mensch ist nur noch ein Glied in der großen Maschine, und das kippt dann in den Nationalismus. Individualität hat keine Bedeutung, sondern es gilt als und für die Einheit zu kämpfen. Die Folge waren Kriegswirtschaft und der Erste Weltkrieg.
Also das ist wirklich die tradierte ungelöste Problematik des Rationalismus: Der Verstand macht den Menschen erst mal zum Egoisten. Er interpretiert sich seine Welt. Und alles wird in die subjektive Vorstellung eingebaut. Das ist das Prinzip des Verstandes, dass er alles zur Ruhe bringt. Die Alternative wäre, sich selbst zu entwickeln.
Wird genau diese Selbstentwicklung durch das Bildungssystem gebremst, gar verhindert?
Ja, absolut. Das ist ja gerade der Zweck. Ich glaube, die Ursache ist die Bequemlichkeit. Wenn man einen gewissen Stand erreicht hat, kann man sich einrichten.
Ich habe jetzt mehr an die Kinder gedacht.
Die Kinder sind zäh, die gehen da durch. Aber das, was da stattfindet, ist nicht gesund. Die Kinderpsychiatrien sind voll. Viele verweigern die Schule. Der Psychiater Hans-Joachim Maaz machte einmal deutlich, dass diese Erfahrung im Grunde schon die Eltern gemacht haben und gerade deshalb in gewisser Weise ein Teufelskreis besteht, der die Traumata nicht auflöst, sondern tradiert. Maaz schreibt:
«Wir müssen dieses Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Individuum verstehen lernen: Durch die Erziehung wird an jedem einzelnen Menschen die Entfremdung vollzogen, also eine Charakterverformung, eine Charakterspaltung und Gefühlsblockierung erzeugt. Und derart charakterverformte Menschen können gar nicht anders, als wieder eine Gesellschaft anzustreben, in der ihre Entfremdung honoriert und geschätzt wird. So verformen die gesellschaftlichen Verhältnisse die Menschen und charakterverformte Menschen erneuern immer wieder die pathologische Fehlentwicklung einer Gesellschaft. Wer sich schließlich den Geboten einer repressiven Erziehung angepasst hat und dafür Lob und Anerkennung, später Prämien, Orden bekommt und politische und berufliche Karriere macht, wer also schließlich damit äußeren Erfolg hat und seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat, der hat auch kein Interesse mehr, dass wirklich etwas an der gesellschaftlichen Struktur verändert wird.»
Hat das System oder ist es einfach passiert?
Das ist die Freiheitskrise schlechthin. Und für mich heißt Freiheit zuerst einmal: Wir sind frei von Sinn. Wir sind frei von Wirklichkeit. Das ist ja das Moderne: Das moderne Subjekt tritt aus der Wirklichkeit aus. Es schafft sich zivilisatorische Systeme, Scheinwirklichkeiten. Und diese Scheinwirklichkeiten können so verführerisch sein, dass man nicht mehr merkt, dass man sich eigentlich in einer Blase befindet.
Treten wir jetzt aus der Matrix aus oder sind wir drin? Oder was ist hier los? Der Verstand schafft eben Illusionssysteme. Und das Verrückte ist, die funktionieren in einer gewissen Form, obwohl sie dem Leben widersprechen – eigentlich. Und sie werden als Innovation erlebt. Je systematischer sie ihre Konsequenz zeigen, umso unangenehmer wird es.
Wir leben heute also in einer Scheinwirklichkeit?
Ja, das ist ein komplexes Ding. Das ganze Geldsystem gehört dazu und viele andere Dinge. Das Entscheidende ist:
Wenn wir wieder in eine menschliche Kultur, in eine wirkliche Menschengesellschaft wollen, dann müssen wir von den allgemeinen Prinzipien wieder zum Besonderen kommen. Und dazu gehört das ganze Thema der freien Schulen.
Warum brauchen wir eine Loslösung der Schule also des Bildungsbereichs vom Staat hin zur Individualisierung?
Weil der Schüler entweder ein Zahnrad in der Maschine ist, also eine gewisse Form annehmen soll, damit diese Maschine funktioniert. Oder er ist eine Individualität, wo ich noch gar nicht weiß, was er werden wird. Und das ist eine ganz andere Haltung: Ob ich etwas erwarte, was da kommt, und mich auch an dem Neuen und Fremden freue und bereichert werde. Oder ob ich hier einen Gegenstand und vermeintlichen Stoff habe.
Kennen Sie eine freie Schule, die so mutig ist?
Na ja, es sind immer einzelne Lehrer. Manchmal gibt es das auch ganz woanders – es muss ja nicht in der Schule sein. Wir hatten beispielsweise einen ganz tollen Nachbarn. Das war der Herr Kocher, er war sicher über 80 und saß mit seiner Gitarre auf dem Bänkchen vor seinem Haus. Die Kinder durften einfach im Garten spielen. Er hatte seinen Riesengarten geöffnet. Er war allein, ein ehemaliger Schreiner. Er hat ein paar Akkorde gezupft und wir haben Fußball gespielt, Räuber und Gendarm und alles. Der Onki Kocher war einfach da.
Und was anderes als Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit braucht es eigentlich nicht. Dann entsteht sehr, sehr viel.
Schüler sollen überhaupt nichts sollen. Ich glaube, dass man etwas soll, was man nicht will, das ist die Hauptproblematik. Und da sind wir wieder beim Thema Staatsschulsystem. Auch das freie Schulsystem ist heute weitgehend verstaatlicht. Der Staat drückt mächtig in alle Schulen.
Aber was sind die Folgen?
Das bedeutet, hier werden in Ministerien – und weiß Gott wo – Lehrpläne entworfen. Der Stoff wird vorgeschrieben. Und dann kommt es zu dem Phänomen, dass im Grunde der Lehrer selbst Druck hat, ein Sollen zu vermitteln. Und ein guter Lehrer vermittelt das noch so einigermaßen, das heißt, der lässt noch ein bisschen Luft. Ansonsten gerät er selbst in Stress, und die Masse der Lehrer ist heute ja burnout-gefährdet.
Die Leiterin einer freien Schule hat mir erklärt: «Die Kinder müssen nachher in diese Gesellschaft, in dieses System passen.» Was sagen Sie dazu?
Das ist wiederum das Systemdenken, das Nachgefolge des Rationalismus. Dieses Denken in fertigen Systemen. Einen technischen Prozess kann man berechnen, aber keinen Lebensprozess. Beim Lebensprozess muss man im Dialog sein, das ist Beziehungsgeschehen.
Jede Pflanze, die man nur nach Katalog behandelt, wird sterben. Die Riesenfrage ist doch: Wie wird der Wille wach? Wie kann ich Bedingungen schaffen, dass der eigene Wille im guten Sinne lebendig wird?
Es gibt eine schöne Stelle wiederum bei Humboldt. Er ist in Rom und sucht für seine Kinder einen Privatlehrer. Er schreibt: Ich suche einen Lehrer. Er sollte Freude daran haben, anzuspielen, welche Neigungen die Kinder haben.
Heute haben wir Alexander und Wilhelm von Humboldt in Gips vor der Uni in Berlin stehen und sagen, beide waren große Gelehrte. Während der eine mit zwölf drin saß, Bücher gelesen, studiert hat, ist der andere auf Bäume geklettert und hat am Fluss Frösche gesammelt. Die beiden Brüder hatten schon keine einheitliche Erziehung. Und beide wären nicht das geworden, wenn sie ihre Neigungen nicht hätten leben können.
Es gibt nicht die einheitliche Erziehung, sondern wir müssen das heute tatsächlich beweglicher anlegen.
Das sind so Dinge, die über Jahre bei mir entstanden sind, als ich gemerkt habe, ich will den Kindern nichts beibringen, sie sollen selbst wach werden und Interesse bekommen, etwas zu bearbeiten.
Dieses Verständnis haben Sie sich selbst erarbeitet. Das ist jetzt nichts, was der Ausbildung zum Waldorfpädagogen immanent wäre?
In der Waldorfpädagogik gibt es die Anschauung, dass der Mensch eben nicht fertig auf die Welt fällt, sondern das ist ein Verinnerlichungsprozess. Also ein ganz kleines Kind ist mit seinem Bewusstsein noch viel weiter im Raum, als wir es ahnen. Es ist ganz dabei. Deswegen lebt es alles mit und alles wirkt erziehend. Was gedacht wird, wie es gedacht wird, ob gelogen wird, das kriegt das Kind mit.
Rudolf Steiner sagt, diese unbewusst bewussten Wahrnehmungen wirken geradezu organbildend. Aus diesem Mitleben baut der Mensch seine Basis auf. Und damit veranlage ich ja ungeheure Dinge für später. Wenn da schon eine große Verunsicherung in der Anlage entsteht, wird es später schwierig, eine innere Ruhe zu entwickeln.
Und was ich bei Pestalozzi so schön finde: Wohlwollen. Also das Kind in Wohlwollen empfangen, Weltvertrauen vermittelnd. Das heißt, das Kind soll vor allem Erwachsene oder Menschen um sich erleben, die in sinnvollen Tätigkeiten sind.
Wohlwollen, Weltvertrauen, und das dritte ist die Wahrheitsliebe. Das bedeutet nicht auswendig lernen, sondern Wahrheitsliebe ist die künstlerische Verantwortung für das, was ich tue. Und das kann im Grunde erst das Ich als Instanz Schritt für Schritt wecken. Man muss schon von einer Beziehung sprechen und von einem Prozess natürlich. Es gibt ja auch das andere Extrem, wo es heißt, man soll die Kinder einfach nur lassen. Das glaube ich, verkennt den Prozess.
Oder kommt es darauf an, wo man die Kinder lässt? Also wenn man Kinder in einer tollen Werkstatt, bei Künstlern lässt ...
Es gibt doch den schrecklichen Versuch: Ein Kaiser hat Kinder separiert und nur alle leiblichen Bedürfnisse gestillt. Alle Kinder sind gestorben. Das heißt, dass die Ansprechbarkeit, also irgendwo im Dialog zu sein, ein Lebensbedürfnis, ein Seelenbedürfnis ist und zum Menschen gehört.
Der Mensch braucht Gesellschaft und Gemeinschaft. Wenn man den Begriff so verwendet, dass man sagt, darin müsste man die Kinder einfach nur lassen – dann ja. Der Dichter Novalis sagte es einmal sehr schön:
«Pädagogik. Erziehung von Kindern, wie Bildung eines Lehrlings – nicht durch direkte Erziehung – sondern durch allmähliches Teilnehmenlassen an Beschäftigungen et cetera der Erwachsenen.»
Das finde ich von der Grundhaltung sehr schön. Dieses Schulmodell ist auch sehr spannend und hat jetzt sogar eine Renaissance in Südamerika, ich glaube, in Nicaragua, erhalten. Das sind musikzentrierte Schulen – das ist ursprünglich ein Modell von Goethe. In dessen Roman «Wilhelm Meisters Wanderjahre» marschiert Wilhelm Meister mit seinem Sohn durch die Welt, und sie besuchen die «pädagogische Provinz». Im Zentrum der pädagogischen Provinz steht die Musik, von der alles gelehrt werden kann: Man kann Sprachen lernen und aus der Ordnung der Musik die Mathematik.
Und in Nicaragua hat das tatsächlich jemand gemacht. Der hat ganz arm begonnen, einfach in einem Dorf, hat sich primär aus Europa klassische Instrumente schenken lassen und hat in einer Region mit vielen Analphabeten nicht schreiben gelehrt, sondern Musik. Mit der Liebe zur Musik wurde dann aber die Bildungslust überhaupt geweckt.
Aber in der Schule, die ich meine, da gibt es nicht mehr diese Art von Inszenierung, die heute üblich ist, sondern ich möchte wirklich Bereiche schaffen, in deren Zentren professionell gearbeitet wird.
Die Schule, die Sie meinen, ist also keine Inszenierung, sondern?
Da wird nicht immer ein Fachgebiet präsentiert, sondern die Schüler erleben es. Da hinten wird musiziert und ein Umraum entsteht, wo sie auch musizieren dürfen. Hier drüben ist ein Labor und da kann man hin. Da gibt es Räume, in denen können auch Kinder arbeiten. Also das heißt, dass es im schulischen Feld professionelle Bereiche gibt, die zugleich echte Lebenswelten sind und nicht für Schüler gemachte. Das ist zum Beispiel ein Labor, wo Erwachsene wirklich arbeiten.
Von Lehrerinnen und Lehrern kommt dann bestimmt der Einwand, dass das doch keine Pädagogen sind.
Macht doch nichts, die können ja dazwischen sein. Wobei ich glaube, viele echte Handwerker sind viel bessere Pädagogen als die sogenannten Pädagogen.
Andererseits denke ich, dass es natürlich Zeiten der Hülle braucht und die Kleinen müssen auch Orte wiederfinden und nicht nur neu entdecken. Also ab der achten Klasse, wo man so ein bisschen schon unter Menschen will und auch mal los von der Mama, ist es an der Zeit, dass man auch was kennenlernt von der Welt.
Kinder wollen auch zuhören. Leo Tolstoi war Gutsherr und hat auf seinem Hof für die einfache Bevölkerung eine Schule begonnen. Und er hat da einfach erfundene Geschichten erzählt. Kinder haben geheult, wenn sie zu spät kamen. Er hatte kein Disziplinproblem. Erzählen heißt ja, es darf auch mal eine Welt aufgehen. Und die Frage ist, was machen wir damit? Was machen wir mit dem Erlebnis, dass uns jemand was erzählt hat?
Dabei haben wir das Wesentliche versäumt. Denn das Wesentliche ist das Erlebnis und nicht das Wissen. Also das heißt, dass ich viele Sachen noch nicht verstehe. Aber wie er erzählt hat, das zählt, das ist das Bildende, das innerlich Belebende. Ich brauche nicht von außen eine Form, in die das rein muss.
Aber erzählen Sie doch mal von Ihrer idealen Schule. Wie sieht die aus?
Da haben wir jetzt schon einige Sachen: Erzählen, Musik, weniger Inszenierung, weniger Aufbewahrungsanstalt. Diese Trennung von Kinder und Arbeitswelt ist auch ein Teil der Industrialisierung: Damit die Arbeit reibungsloser, schneller passieren kann, müssen die Kinder raus.
Also an der idealen Schule gibt es ein Theater, ein Ensemble, das auch dort probt und dann am Abend Vorstellungen hat. Im Theater gibt es natürlich auch ein Orchester. Und es könnte zum Beispiel eine Tischlerei geben. Das muss ja auch nicht ausgedacht sein, sondern es geht primär darum, dass Menschen Fähigkeiten haben. In einem Dorf ist es möglicherweise eine Töpferei, woanders gibt es einen anderen Schwerpunkt.
Entscheidend ist, dass wir die Arbeitswelten partiell wieder öffnen. Und somit auch die Arbeitswelten entschleunigen, damit sie wieder zugänglich und dadurch menschlicher werden.
Also eine Entschleunigung und Öffnung der Arbeitswelt, damit hier nicht der getunte Apparat nur im Gange ist, sondern dass die Sache mit dem Leben atmet. Ich denke, das ist das Wesentliche. Wenn wir diese Spaltung zwischen Planen und Machen überwinden, dann würde sich alles gegenseitig korrigieren.
Welchen Effekt hätte das auf die Kinder?
Die sogenannten unerziehbaren wilden Kinder. Ich glaube, da liegt meistens das Problem vor, dass sie im Grunde zu isoliert die Welt erleben und sich dadurch gar nicht entwickeln können.
Was heißt unerziehbar?
Ich meine nur die vermeintlich Unerziehbaren. Sie sind natürlich auch lustlos. Depression kommt mit der Isolation. Je mehr lebensvolle Räume wir eröffnen, desto eher wird jeder seine Möglichkeiten besser entwickeln können.
Unsere Gesellschaft ist im Grunde schizophren. Wir haben zum einen diese enorme Forcierung von Tempo und Fortschritt und auf der anderen Seite diese Überpathologisierung. Also kurz gesagt: Die Schizophrenie besteht in einer Wirtschaft, in der Eigennutz, Täuschung und alle möglichen Techniken gelehrt werden – also eigentlich Unmenschlichkeit. Und auf der anderen Seite haben wir einen Sozialstaat, der vorgibt, nur das Beste zu wollen und für alles zu sorgen.
Das Neueste ist, dass die Kinder im Kindergarten jetzt Sprachtests machen, damit sie speziell gefördert werden können. Das ist doch schizophren – wir sind ja trotzdem eine Gesellschaft. Wir predigen, jeder ist seines Glückes Schmied, und du darfst auch täuschen, den anderen übers Ohr hauen, dann bist du ein guter Unternehmer – das ist nichts anderes als Gewinnmaximierung – das ist das höchste Gebot und nicht der gesellschaftliche Bedarf. Das ist schizophren. Dieses Modell wird und kann nicht in die Zukunft führen.
Staatlicherseits wird vermeintlich so viel für das Soziale getan. Doch Freiheiten werden nur negativ aufgefasst. Wir haben keinen positiven Freiheitsbegriff. Also positiv, hieß es:
Selbstverständlich dürfen Eltern und Menschen Lernbereiche frei gestalten, und die Wirtschaft denkt nicht nur an Profit, sondern auch daran, wie sie die Gesellschaft in ihrer Entwicklung unterstützen kann, zum Beispiel indem freie Schulen, freie Theater und so weiter finanziert und in anderer Art unterstützt werden.
Können freie Schulen dazu beitragen, dass Menschen erkennen, wer oder was für ihre Angst verantwortlich ist?
Ich denke nur so letztendlich: Wir müssen irgendwo Besinnungsräume schaffen – kulturelle Besinnungsräume. Und das sind ja Räume, die wir uns gegenseitig geben. Das ist ein Raum, wo ich mal keinen Befehl empfangen habe und nicht unter Druck stehe, etwas ausführen zu müssen. Sondern, wo ich wieder zu mir kommen kann, weil mir der andere seine Aufmerksamkeit gibt, weil ich ein Ohr finde. Und das ist was anderes als Schule, wie sie heute gedacht ist. Schule ist eigentlich etwas, wo mehr oder weniger indoktriniert werden soll.
Jeder echte Kulturraum ist ein Besinnungsraum. Da finde ich zum Beispiel die englischen Museen von der Qualität besser als die Deutschen. Ich habe bei deutschen Museen immer den Eindruck, man geht in den heiligen Tempel, man muss durch Schranken und strenge Wärter und neben jedem Bild steht jemand und passt auf. In England sind das Orte der Begegnung. Und interessanterweise sind das zumeist Bürgerstiftungen, keine Staatsmuseen. Da sehen wir wieder dieses Grundproblem. Die deutsche Art von Kultur ist weniger Besinnung, da die Obrigkeit immer so stark ist.
Wie kann die zukunftsfähige Schule aussehen?
Organigramm zur Sozialstruktur der Freien Waldorfschule Görlitz; Entwurf von Thomas Brunner
Das Ganze bildet sich also, weil wir Menschen einen Entwicklungsraum geben wollen, der liegt im Zentrum. Die Auftraggeber sind meistens die Eltern. Und im innersten Kreis befinden sich die pädagogischen Mitarbeiter, autorisiert durch die Eltern – die Eltern haben das Erziehungsrecht und deswegen haben die natürlich mitzusprechen. Aber dieses Kollegium braucht trotzdem Autonomie darin, wie der Unterricht gestaltet wird. Es kann nicht sein, dass die Eltern sagen, was die machen sollen, sonst haben wir wieder eine Staatsschule. Manchmal wechselt es – es gibt auch Eltern, die Pädagogen werden. Aber das ist erst mal die Grundstruktur.
Und dann gibt es noch eine vertikale Struktur: oben die wirtschaftliche und unten die ideelle Verwaltung – für mich ist das die Willensebene der Schule. Hier geht es um die ideelle Ausrichtung. Deswegen habe ich hier den Schulrat reingesetzt. Bestehend aus Elternrat (ER) und der Schulführungskonferenz (SFK) – das sind wiederum nur die Pädagogen. Der Schulrat wäre idealerweise ein Organ, das wirklich ein Vertrauensmilieu herstellt. Eltern und Pädagogen sagen gemeinsam, was dieser Schule fehlt, was man stärken will und so weiter.
Und die eigentlich pädagogische Ebene ist die Mitte, bestehend aus Elternabend (EA), pädagogischer Konferenz (PK) und Klassenkonferenz – das heißt die Kollegen, die eine Klasse betreuen, konferieren über die Klasse.
Dann gibt es die Mitgliederversammlung und die wählt einen Vorstand. Der Vorstand hat einen Geschäftsführer (GF) und ein Büro, also Unterstützung von Mitarbeitern. Das ist nicht die Leitung der Schule. Üblicherweise ist der Direktor oben, leitet und sagt, was zu tun ist. Und noch drüber ist das Ministerium. Aber nein: Die Leitung dieser Schule ist tatsächlich die Schulführungskonferenz. Also ein rein inneres Organ, wo wir nur pädagogische Fragestellungen haben.
Und der Trägerkreis der Schule, das sind die Eltern oder die Erziehungsberechtigten. Und wir stehen natürlich alle in der sonstigen Welt. Da kann ja auch viel einfließen, also alles was eigentlich der soziale Umraum ist, Eltern anderer Schulen, Handwerksbetriebe und so weiter.
Mein Anliegen beim Aufbau der Freien Waldorfschule Görlitz war von Anfang an, die Schule nicht pyramidal aufzustellen. Denn dann wäre oben der Staat und unten wäre die breite Masse der Eltern. Das Zentrum sind wirklich die Kinder und für die versuchen wir, die besten Bedingungen zu schaffen, indem das Kollegium geschlossen zusammenarbeitet.
Der Einzelne ist hier nicht beim Vorstand angestellt, dann wäre dieser die Zentrale, sondern, alle sind als Team beauftragt. Und wenn ein Konflikt auftritt – nehmen wir mal an, einer hat einen Schüler am Ohr gezogen. Der Vorstand hat eine Rückmeldung von Eltern bekommen. Dann sagt der Vorstand: Leute, so geht das nicht, bearbeitet das Problem, sonst müssen wir hier rechtliche Schritte haben. Dann geht das in die Schulführungskonferenz. Das heißt, die Kollegen besprechen, was da los war. Und die Kollegen entscheiden, ob sie den Übeltäter entlasten, auf eine Fortbildung schicken, ob der eine Entschuldigung schreibt oder wie auch immer. Aber das machen die selbst, nach dem Prinzip des selbstverwalteten Kollegiums.
Die Aufnahme von Kollegen passiert eben nicht durch den Vorstand, sondern ebenfalls durch das Kollegium. Und die Schulführungskonferenz wird dann also aus rein pädagogischen oder menschlichen Gesichtspunkten den Vorstand beauftragen, einen angemessenen Vertrag auszuarbeiten. Sollte ein wirkliches Rechtsvergehen vorliegen, ist das Problem selbstverständlich ein Fall für ein ordentliches Gericht.
Häufig bekommt die Geschäftsführung zu große Dominanz, weil sie die Staatsgelder verwaltet. Das Ideal wäre, mit vielen Ebenen in Beziehung zu treten, damit wir diesen Zentralaspekt schwächen. Je mehr wir mit mittelständischen Unternehmen wirklich produktive Kontakte haben und die auch mal was sponsern, umso freier sind wir.
Und diese Freiheit wird immer wichtiger: Denn diesmal geht es um die große Agenda. Die ganzen mit der Corona-Krise zu Tage getretenen «Welterneuerungspläne» sind ja nichts anderes als Kopfgeburten einer feudalistisch-anachronistischen Clique, die im Rationalismus des 18. Jahrhunderts hängen geblieben ist. All diese ausgedachten Pläne für die Masse widersprechen der Menschenwürde, denn der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er die Antriebe seines Handelns aus Liebe gewinnt.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
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