55 der US-Ärzte, die an der Entscheidung beteiligt waren, welche Diagnosen und Behandlungen in das wichtigste Diagnosehandbuch der American Psychiatric Association, kurz APA, aufgenommen werden, erhielten mehr als 14 Millionen Dollar an nicht offengelegten Industriegeldern. Das enthüllt ein Spezialreport des Fachmagazins BMJ.
Diese Enthüllung ist besonders pikant, wenn man sich vergegenwärtigt, welch extrem hohen Stellenwert dieses wichtigste Psychiatriediagnosebuch, das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», das seit 2013 in der 5. Auflage vorliegt und daher «DSM-5» genannt wird, geniesst.
So listet dieses «Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen» seit nunmehr Jahrzehnten Hunderte von Gemütszuständen auf, die in der Medizin als anerkannte Geisteskrankheiten gelten. Ärzte, Psychiater oder auch Versicherungen bestimmen mithilfe des DSM, was psychisch krank und was noch «normal» ist. Es wird darum auch gerne als «Bibel» der psychiatrischen Störungen bezeichnet.
Das BMJ formuliert es so:
«Das von der APA herausgegebene DSM standardisiert Symptomkriterien und kodifiziert psychiatrische Störungen. Dieses Handbuch spielt eine zentrale Rolle bei der Zulassung neuer Psychopharmaka und der Verlängerung der Patentexklusivität, und es kann die Kostenträger und die psychiatrischen Fachkräfte beeinflussen, die sich um Kostenerstattungen durch Dritte bemühen.»
Der Einfluss der Industrie auf die Ausgestaltung dieser diagnostischen Leitlinie könne tiefgreifende Auswirkungen auf das Gesundheitswesen haben, so die Autoren des BMJ-Berichts. Immerhin spiele das Handbuch zum Beispiel eine zentrale Rolle bei der Zulassung neuer Psychopharmaka und der Verlängerung exklusiver Patente auf Medikamente.
Es sei daher «von entscheidender Bedeutung», so die Verfasser des BMJ-Reports, «dass die Autoren dieser psychiatrischen Taxonomie keine Verbindungen zur Industrie haben». Denn:
«In der Tat haben Forscher immer wieder aufgezeigt, dass Interessenkonflikte zu subtilen, aber wirkungsvollen industriefreundlichen Denkweisen und Schlussfolgerungen führen.»
Das Ganze bekommt derweil eine noch höhere Brisanz, wenn man der Kritik folgt, die der US-Journalist Robert Whitaker bereits vor zehn Jahren ganz grundsätzlich am DSM übte:
«[Auch] mit dem DSM-5 wird es keine höhere Diagnosesicherheit geben. Und jeder Leitfaden, der wie der DSM Hunderte von Krankheitsbildern enthält – so viele, dass sich praktisch jede und jeder darin wiederfinden kann –, dürfte kaum von wissenschaftlichem Nutzen sein, um mentale Störungen zu verstehen. Es ist alles zu pauschal und verschwommen.
Dass dieses Handbuch in den vergangenen 50 Jahren mit immer mehr Krankheitsdefinitionen bestückt wurde, kommt den Pharmaunternehmen und der Psychiatrie zugute. Denn je mehr Krankheitsbilder das DSM enthält, umso mehr neue Patienten gewinnen sie.»
Whitaker nennt dafür auch ein Beispiel. So habe Ende der 1980er Jahre das Krankheitsbild einer Depression unter Jugendlichen noch als sehr selten gegolten. In den frühen 1990er-Jahren hätten dann aber Pharmaunternehmen damit begonnen, nach neuen Märkten Ausschau zu halten – und plötzlich hätten US-Kinderpsychiater, von denen viele Beraterverträge mit Pharmafirmen hatten, entdeckt, dass Kinder und Jugendliche in der Tat depressiv sein können.
«Und so wurde die Depression bei Kindern zu einer ‹echten› Krankheit», so Whitaker.
Für ihren BMJ-Report hatten die Forscher unterdessen die Mitglieder des DSM-Gremiums und der DSM-Arbeitsgruppe unter die Lupe genommen, die an der Erstellung der im Jahr 2022 veröffentlichten Textrevision des DSM-5, des DSM-5-TR, beteiligt waren.
Insgesamt wurden 168 Personen identifiziert, die entweder als Mitglieder des DSM-Gremiums oder der DSM-Arbeitsgruppe tätig waren. 92 erfüllten die Einschlusskriterien, das heisst sie waren Ärzte mit Sitz in den USA und konnten daher in die offenen Zahlungen einbezogen werden. Von diesen 92 Personen erhielten 55 – also 60 Prozent – Zahlungen von der Industrie. Insgesamt erhielten diese Panelmitglieder 14,2 Millionen Dollar.
Dabei fand das BMJ auch heraus, dass die Ärzte, die das meiste Geld erhielten – oft in Form von Erstattungen für Essen, Getränke, Reisen und Beratung – diejenigen waren, die in diagnostischen Bereichen arbeiteten, «in denen medikamentöse Massnahmen oft die Standardbehandlung sind». Dazu zählten «depressive Störungen, neurokognitive Störungen und medikamentös induzierte Bewegungsstörungen».
Die Schlussfolgerung des BMJ:
«Interessenkonflikte unter den Mitgliedern des DSM-5-TR-Gremiums waren weit verbreitet. Aufgrund des enormen Einflusses von Diagnose- und Behandlungsleitlinien sollten die Standards für die Teilnahme an einem Leitlinienentwicklungsgremium hoch sein. Das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» sollte die widerlegbare Vermutung aufstellen, dass Interessenkonflikte unter den Mitgliedern des Gremiums und der Arbeitsgruppe verboten sind.
Wenn keine unabhängigen Personen mit dem erforderlichen Fachwissen zur Verfügung stehen, könnten Personen mit Verbindungen zur Industrie die Gremien beraten, sie sollten jedoch keine Entscheidungsbefugnis über Revisionen oder die Aufnahme neuer Störungen haben.»
Kommentare