Avrum Burg, ehemaliger Sprecher der Knesset, hat auf seinem Substack einen eindrücklichen «jüdischen Appell an den Internationalen Gerichtshof» veröffentlicht. Burg war unter anderem auch Vorsitzender der Jewish Agency for Israel und Präsident der Zionistischen Weltorganisation. In seinem Appell ruft er die Juden dazu auf, eine gemeinsame Klage gegen den Staat Israel wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einzureichen. Burg räumt ein, dass auch die Hamas «abscheuliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit» begangen hat, aber nichts davon rechtfertige Israels Vorgehen in Gaza seitdem. Wir veröffentlichen hier die Übersetzung seines Appells in voller Länge.
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Magnified, sanctified
Be the holy name
Vilified, crucified
In the human frame
A million candles burning
For the help that never came
You want it darker
Hineni, hineni
I’m ready, my Lord
(Leonard Cohen)
Es gibt keine einheitliche Definition für alle Menschen, die sich als Juden identifizieren. Ist Judentum eine Religion? Ein Gen? Eine Kultur? Eine Nationalität? Ein Rechtsstatus? In der Verwirrung dieser sich überschneidenden und widersprüchlichen Identitäten hat das moderne Israel seine eigene beispiellose Synthese geschaffen: eine Verschmelzung von fünf Elementen, die in der jüdischen Geschichte nie vollständig miteinander verbunden waren: Religion, Land, Macht, Sprache und Souveränität. Das Ergebnis dieses israelischen Schmelztiegels ist eine kulturelle Mutation, die es wagt, sich Judentum zu nennen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der israelischen Geschichte sind drei dieser Elemente – Religion, Macht und Land – zu bösartigen Geschwülsten metastasiert. Die Macht ist zu groß geworden und wird nun im Dienste der pathologischsten Interpretationen des Judentums ausgeübt, die auf Eroberung und Herrschaft ausgerichtet sind. Die unmittelbaren Kosten dieses Krebsgeschwürs sind die Auflösung der israelischen Souveränität. Die Macht wurde gewalttätigen messianischen Milizen übergeben; ihre Bandenführer dienen nun als Minister in der Regierung. Gemeinsam haben sie, von oben und unten gleichzeitig, den israelischen Staat zerstört. Dieses Land existiert nicht mehr.
Diese destruktiven Elemente waren schon immer im jüdischen Volk präsent, aber sie wurden normalerweise eingedämmt, an den Rand gedrängt und unter Kontrolle gehalten. Heute, nach zweitausend Jahren, haben sie die Kontrolle übernommen und setzen ihre dunkelsten Impulse um. Jeder Jude muss sich nun zwei grundlegende Fragen stellen: Was ist meine jüdische Identität? Und bin ich auf ihrer Seite oder gegen sie?
Es gibt keinen Mittelweg. Es darf keinen geben.
Sich auf ihre Seite zu stellen, bedeutet, sich mit den zerstörerischen Kräften unserer Vergangenheit zu verbünden. Mit denen, die einen rücksichtslosen und wahnhaften Aufstand gegen das Römische Reich starteten und damit die Zerstörung des Zweiten Tempels und unermessliches Leid über unser Volk brachten. Sich auf ihre Seite zu stellen, bedeutet, die biblischen Gebote der Vernichtung der einheimischen Völker und den Mythos des Massenselbstmords in Masada zu befürworten. Es bedeutet, einer separatistischen, rassistischen Kultur zu folgen: einer Welt, in der Nichtjuden verachtet und Juden auserwählt und verherrlicht werden.
Es gibt dicke, ununterbrochene Linien, die sich von Bar Kochbas Hybris bis zu Ben-Gvirs Rowdytum erstrecken; von Rabbi Akivas messianischem Wahnsinn bis zu Smotrichs Grobheit und Fanatismus. Die Herren des Untergangs in der jüdischen Geschichte sind nie wirklich gestorben, und jetzt töten sie sogar.
Das Judentum hat jedoch schon immer eine andere Zivilisation in sich getragen. Eine Zivilisation, die auf Selbstreflexion, Kritik, Mitgefühl und moralischem Handeln basiert. Der Prophet Nathan stand vor König David, dem mächtigsten Herrscher Israels, und klagte ihn wegen Korruption und Blutvergießen an. Jahrhunderte später warnte der Prophet Jeremia die dekadenten Eliten Jerusalems vor der bevorstehenden Zerstörung des Ersten Tempels. Im Jahr 70 n. Chr. floh Rabbi Jochanan ben Zakkai aus der Stadt der Eiferer und Blutrünstigen und begründete das neue alternative Judentum: einen Glauben ohne Tempel, ohne Territorium, ohne Gewalt und ohne politische Souveränität.
Dies war das Judentum, das später das Jiddische annahm, die Sprache, die Isaac Bashevis Singer einmal als «die Sprache des Exils … eine Sprache ohne Land und ohne Grenzen, ohne Unterstützung durch eine Regierung, eine Sprache ohne Wörter für Waffen, Munition, militärische Manöver oder Kriegstaktiken» beschrieb. Er ergänzte:
«In den Ghettos lebten die Jiddischsprachigen das, was die großen Religionen nur predigten: eine tägliche Praxis des Studiums der Menschheit und der menschlichen Beziehungen. Was sie Tora, Talmud, Ethik und Mystik nannten. Das Ghetto war weit mehr als nur ein Zufluchtsort für Verfolgte, es war ein großartiges Experiment in friedlichem Zusammenleben, Selbstverwirklichung und Fürsorge für andere. Und es besteht immer noch, weigert sich aufzugeben, trotz der Grausamkeit, die es umgibt».
Diese innere Spannung in der jüdischen Seele ist noch immer lebendig. Zwischen den Kräften der Herrschaft, der Blutgier und der Unterdrückung anderer und jenem Judentum der Toleranz, Offenheit und des Dialogs.
Nun ist von allen, die sich weigern, die Diktatur der Macht und Korruption unter Caesar Netanjahu und seiner Koalition apokalyptischer Eiferer zu akzeptieren, eine große moralische Erhebung gefordert.
Jetzt ist es an der Zeit, die Stadt zu verlassen, wie es Yohanan ben Zakkai tat, und ein Judentum der Moral und Menschlichkeit wiederzubeleben. Wir haben keine Institutionen, keine umfangreichen Ressourcen. Wir sind verstreut, oft allein. Wir besitzen keine militärische oder staatliche Macht. Aber wir haben die spirituelle und ethische Stärke unserer Vergangenheit. Wir haben die jüdische Geschichte auf unserer Seite.
«Deshalb können und müssen wir das Blutvergießen beenden.»
So können wir beginnen: Wir brauchen eine Million Juden. Weniger als zehn Prozent der weltweiten jüdischen Bevölkerung, um eine gemeinsame Klage beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einzureichen. Eine kollektive Klage gegen den Staat Israel wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in unserem Namen und unter dem falschen Banner unserer jüdischen Identität begangen wurden.
«Es ist Zeit, zu sagen: Genug!»
An diesem Tag werden zwei Sonnen aufgehen. Die eine wird am jüdischen Firmament leuchten, Licht in unsere innere Dunkelheit bringen und Fanatismus durch moralische Klarheit ersetzen. Die andere wird über die Welt leuchten und verkünden, dass es unter den Juden solche gibt, die den schlimmsten Verbrechern der Nationen gleichen, und solche, die sich ohne Furcht und ohne Ansehen der Person gegen sie stellen.
«Ja, die Hamas hat abscheuliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Aber nichts davon rechtfertigt Israels Vorgehen in Gaza seitdem.»
Dies ist ein Moment der Abrechnung. Wir dürfen davor nicht davonlaufen. Deshalb ist dies mein Appell:
Wenn Sie eine Einzelperson, eine Gemeinschaft oder eine jüdische Organisation irgendwo auf der Welt sind und Sie erschüttert sind von dem, was Israel tut; wenn Sie sich den Werten des humanistischen Judentums, der grundlegenden moralischen Anständigkeit und der kollektiven Verantwortung verschrieben haben, schließen Sie sich dieser historischen Initiative an. Nicht indem Sie sich Waffen oder Machtstrukturen zuwenden, sondern dem Gewissen der Menschheit. Wenden Sie sich an Den Haag.
In unserem Appell werden wir erklären: Wir werden nicht zulassen, dass der Staat Israel, der systematisch Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ausübt, in unserem Namen spricht. Wir werden nicht zulassen, dass das Judentum als Deckmantel für Verbrechen dient. Dies ist keine Ablehnung unseres Volkes, sondern eine Verteidigung seiner Seele. Keine Zerstörung, sondern Wiederherstellung.
Wir sind Tausende, Zehntausende, Hunderttausende. Eine Million Juden, die einfach sagen: Wir sind hier, und wir sind dagegen.
Gewissenhafte Menschen, deren Seelen bewegt sind, Denker, Gelehrte, Geistliche, Künstler, Juristen, die Zeit ist jetzt gekommen. Verbinden Sie sich. Unterschreiben Sie. Organisieren Sie sich. Erheben Sie die jüdische Stimme des moralischen Widerstands. Das Licht existiert. Es braucht nur viele Kerzen.
Ich hoffe wirklich, dass aktivistische Leser diesem Aufruf folgen und ihn initiieren werden.
Sie werden den ältesten Ruf hören: «Wo bist du?». Und sie werden antworten, wie Leonard Cohen es getan hat:
«Ich bin hier, ich bin hier
Ich bin bereit, mein Herr»