Diesen Artikel als Podcast hören:
Grundrechtseinschränkungen, Unterdrückung der Opposition, Berufsverbote: In der Corona-Krise wandelte sich das Gesicht des Rechtsstaats. Die ausgerufene «Neue Normalität» war so ungeheuerlich, dass nicht wenige vom «Faschismus» sprachen. Maßnahmen-Befürworter, Leitmedien und führende Politiker hingegen sahen in der Verwendung dieses Begriffs eine maßlose Übertreibung, ja eine Verharmlosung des historischen Faschismus.
Die Autorin und studierte Juristin Lisa Marie Binder hält in ihrem neuen Buch argumentativ dagegen. «Der Super-Faschismus» heißt es und legt überzeugend dar, inwiefern der Begriff vor dem Hintergrund der Ereignisse während der Corona-Jahre durchaus seine Berechtigung hat.
Binder fängt sachte an, rekapituliert die wichtigsten Stationen jener Zeit, erinnert an Isolationsmaßnahmen, Betretungs- und Kontaktverbote. Sie ruft ins Gedächtnis, dass die sogenannte Ministerpräsidentenkonferenz unter der damaligen Kanzlerin Angela Merkel kein «grundgesetzlich bestimmtes Verfassungsorgan» war; sie erläutert, inwiefern die traditionelle Rechtshierarchie zerrüttet wurde; verweist auf den Digital Services Act, mit dem neuerdings unliebsame Meinungen unter dem Denkmantel der Desinformationsbekämpfung unterdrückt werden.
Sachliche und objektive Darstellungsweise
Bei der Lektüre dieser Anfangskapitel kommen unschöne Bilder und Gefühle hoch. Die Zeit der Bevormundung und Ausgrenzung ist noch nicht so lange her, um solche Passagen völlig leidenschaftslos zu rezipieren. Die Autorin will jedoch keine Wunden aufreißen. Sie suhlt sich nicht in larmoyanten Anschuldigungen und schlägt auch keinen polemischen Ton an. Ihre Darstellungen bleiben stets sachlich, obwohl hier und da durchschimmert, wie sehr sie selber unter der «Neuen Normalität» litt.
Ihre Kraft liegt in der objektiven Auseinandersetzung, in der messerscharfen Analyse der gesellschaftspolitischen Vorgänge, in denen Binder totalitäre Tendenzen erkennt. Dabei betont sie, dass es sich lediglich um «Tendenzen» handelt, nicht um einen umfassend totalitären Zustand.
Diese subtile Art der Differenzierung zieht sich durch die gesamte Lektüre und findet auch dort statt, wo die Autorin sich mit einem anderen «umstrittenen» Begriff auseinandersetzt: Diktatur. Auch davon war während der Corona-Krise oft die Rede. Die Maßnahmenkritiker hielten sie für gegeben, die Maßnahmenbefürworter nicht. Die einen glaubten, mittlerweile in einer Diktatur zu leben, die anderen weiterhin in einer Demokratie.
Demokratische Strukturen in Gefahr
Binder erinnert jedoch daran, dass beide Staatsformen durchaus «ineinander verwoben existieren» können. Sie verkennt aber auch nicht, dass demokratische Momente in der Zeit der «Neuen Normalität» lediglich in Restbeständen vorhanden waren. Allein die «gewaltvoll unterdrückte außerparlamentarische Oppositionsarbeit war ein geeigneter Anzeiger dafür, dass demokratische Strukturen in Gefahr waren», schreibt sie.
Was überwog, waren autoritäre, totalitäre und diktatorische Merkmale: Die «Diskriminierung derjenigen Menschen, die sich dem Credo des Gesundheitsschutzes entgegenstellten, durfte beinahe uneingeschränkt erfolgen – dabei spielte die Verkehrung der Tatsachen, wie die Ignoranz gegenüber rechtswirksamen Dokumenten eine zentrale Rolle».
Eine genauso präzise Begriffsarbeit leistet Binder bei der Untersuchung des Phänomens «Faschismus», wobei sie unter anderem die Duden-Definition heranzieht, um sie auf ihre Aussagekraft hin zu prüfen. Als Folie verwendet sie den historischen Faschismus italienischer Provenienz, der einerseits als Bewegung, andererseits als Ideologie aufgefasst wird. Beide Merkmale findet Binder auch in der «Neuen Normalität». Und es ist ein intellektueller Genuss, sie bei ihren Gedankengängen zu begleiten.
«Neue Normalität» – Bewegung und Ideologie
Unterfüttert werden die Thesen mit griffigen Beispielen. Für eine Bewegung sprechen allein Rituale wie die Begrüßung mit Ellbogen, wie Binder scharfsinnig herausarbeitet:
«Die Motive und Handlungen wurden erlebt, als gehörten sie zum eigenen Ich. Die darauf gründende scheinbare Freiwilligkeit gelang durch die vollständig introjizierte Übernahme der staatlichen Ziele und scheinbaren Motive.»
Die «Neue Normalität» lasse sich aber auch als Ideologie verstehen, wie die Autorin anmerkt. Sie belegt es damit, dass die Bürger einerseits mit einer «weltfremden Theorie im Sinne der Duden-Definition» für Faschismus konfrontiert wurden und andererseits mit einer «politischen Theorie, in der Ideen der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen».
In diesem Abgleich mit dem «Ur-Faschismus» stellt Binder fest, dass sich manche Merkmale in der «Neuen Normalität» finden lassen, andere aber nicht. Diese war zwar antidemokratisch, aber nicht «nationalistisch», «rechtsradikal» und auch nicht «nach dem Führerprinzip organisiert», wie es in der Faschismus-Definitiion des Duden heißt.
Neudefinition des Faschismus-Begriffs
Binder warnt daher davor, Faschismus mit seiner historischen Gestalt und den ihm oftmals zugeschriebenen Merkmalen zu verwechseln. Die Essenz des Super-Faschismus, schreibt sie, erschöpfe sich nicht in der Suspendierung aller bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte, sowie der Sprengung der wichtigsten ethischen Übereinkünfte:
«Dieser Superfaschismus nimmt den Menschen in seinem Menschsein ins Visier.»
Deswegen spricht sich Binder in ihrem Buch für eine Neudefinition des Faschismus-Begriffs aus. Diese müsse sich mit «der Pervertierung gewachsener und verbriefter ethischer Standards und der abgenötigten Aneignung des Einzelnen auseinandersetzen», aber auch «mit dem Angriff auf den Kern des Menschseins und der Entzweiung des Menschen von der eigenen Seele, die zunächst die Entzweiung von seinem Nächsten ermöglicht und schließlich die totale Vereinzelung».
Indem Binder eigene Definitionsvorschläge unterbreitet, verfolgt sie einen Ansatz, der bislang vernachlässigt wurde. Das macht ihr Buch so originell. Es ist geistreich, in seinem Aufbau systematisch und enthält Sätze, die zum Kern durchdringen und pointiert das aussprechen, was viele Menschen während der Corona-Zeit wahrnahmen – Sätze wie diesen:
«Wer vom Geist des Faschismus ermächtigt ist, schaut nicht ‹weg›, er dient dem faschistischen System bis zur Selbstaufgabe.»
Kommentare