Der Ukraine-Krieg dauert schon sehr lange und nicht erst seit 2022. Der bewaffnete Konflikt begann acht Jahre zuvor im Osten des Landes, wo sich mehrere Regionen in Folge des Maidan-Putsches abspalteten. Wie die Menschen dort leben, was sie erleiden, wird im Westen nicht berichtet. Die Leitmedien geben lediglich Kiews Sicht auf die Dinge wieder.
Um sich einen authentischen Eindruck zu verschaffen, muss man vor Ort sein. Doch der Weg dorthin ist beschwerlich und mit Gefahren verbunden. Der deutsche Journalist Flo Osrainik hat es im Frühjahr 2024 trotzdem gewagt. Seine Erlebnisse schildert er in dem Reisebericht «Donbassdonner», erschienen bei Corage.Media, einem Imprint des relativ jungen Verlags Etica.Media.
Zu lesen ist das Werk jedoch nicht als ein Stück Investigativjournalismus, sondern eher als Prosa im Stile des New Journalism, einer literarischen Strömung in den 1960er- und 1970er-Jahren, die sich durch äußerste Subjektivität auszeichnete. Der Autor lässt in seiner Reportage immer wieder die eigene Sicht auf die Dinge einfließen, berichtet aus seiner Perspektive, was er sieht und erlebt, sodass die Leser an seinen Gefühlen, Gedanken und Wahrnehmungen teilhaben. Journalismus und Literatur verschwimmen, auch weil künstlerische Mittel zum Einsatz kommen.
Von München über Istanbul und Moskau nach Donezk
Wer mit dieser Erwartungshaltung Osrainiks Buch aufschlägt, wird an der Lektüre Spaß haben. Der Autor nimmt die Leser mit auf eine Reise, die in München beginnt und schließlich über Istanbul, Russland, Donezk, Switlodarsk und Mariupol führt – und wieder zurück. Was an und zwischen diesen Stationen passiert, wird bildhaft beschrieben, in einer prägnanten, bisweilen rasanten Sprache, die das Innenleben des reisenden Autors spiegelt. Bis der an seinem Zielort ankommt, vergehen ein paar Tage – Tage des Wartens, Nachdenkens und auch Feierns.
Osrainik trifft seinen Reisebegleiter Illia Ryvkin, einen befreundeten Dramaturgen und Journalisten, der eigentlich in Berlin lebt und mit dem er für die Zeitung «Demokratischer Widerstand» gearbeitet hat. Der Bekannte aus Deutschland zeigt ihm ein wenig Moskau, lädt ihn zur Theaterinszenierung seines Buchs «Russendämmerung» ein und stellt ihm interessante Menschen vor, auch Kreml-Kritiker.
Zwischendurch findet Osrainik Zeit, die Hintergründe des Ukraine-Kriegs zu erzählen – knapp und auf das Wesentliche beschränkt. Wer nur die westliche Version kennt, wird schon an diesen Stellen wichtiges Wissen für die restliche Fahrt tanken. Und die führt mit dem Zug nach Rostow und von dort mit dem Auto nach Donezk, mit Hilfe eines Kämpfers der Volksmiliz, der den etwas kryptischen Namen «Cap» trägt. Fortan ist das Trio fast ständig gemeinsam unterwegs, inmitten einer Kriegskulisse, die im Rhythmus ein- und ausgehenden Beschusses das Leben der Stadtbewohner donnernd untermalt.
Die ersten Jahre in Donezk nach 2014
Cap erweist sich während des Aufenthalts als wesentliche Informationsquelle. Er berichtet davon, dass den Familien in Donezk während der «ukrainischen Besatzung» angedroht wurde, «ihnen die Kinder wegzunehmen, wenn sie sich nicht in die Ukraine umsiedeln lassen». In Krankenhäusern seien deswegen Listen geführt worden, was viele dazu veranlasst habe, diese Einrichtungen zu meiden.
Solche Informationen bettet Osrainik in den Gesamtkontext ein und verweist darauf, wie schwierig die Jahre vor dem offiziellen Kriegsbeginn für die Bevölkerung in den abtrünnigen Regionen waren. Mindestens 14.000 Menschen seien in dieser Zeit getötet worden: «Im Westen hat das aber keinen mehr interessiert. Die Marionetten des Westens waren da schon installiert. Das Ziel erreicht. Die Maidan-Medienshow vorbei. Erst mit dem Einmarsch der russischen Armee acht Jahre später hat sich der Westen wieder für den Krieg interessiert. Und es von nun an so dargestellt, als hätte alles erst damit begonnen.»
Im Laufe des mehrtägigen Aufenthalts besucht Osrainik Schulen, Gedenkstätten und eine «Schreckenskammer des Krieges». Er spricht mit Veteranen, mit mehreren Soldaten und sogar mit einem ukrainischen Deserteur. Letzterer gibt einen Einblick in das Leben seiner Landsleute unter dem «neuen Putsch-Regime».
Als die Zustände sich zunehmend verschlechterten, habe er angefangen zu recherchieren: «Über das, was dort passiert ist. Über die Scharfschützen und Hintergründe. Je mehr ich über die Ereignisse herausgefunden habe, umso skeptischer wurde ich», sagt der Deserteur, dessen Worte Osrainik wie viele Gespräche in Dialogform wiedergibt.
Kurze Exkurse
Die Aussagen des Deserteurs gehören zu den interessantesten des gesamten Buches, auch weil sie Aspekte berühren, die in der üblichen Berichterstattung unerwähnt bleiben, aber für das Leben auf dem Schlachtfeld wesentlich sind – so wie der Konsum von Drogen.
Zwischen solche Passagen streut Osrainik immer wieder Zusatzinformationen ein, die über den Ort des Geschehens hinausreichen, etwa über die Reise seines Journalistenkollegen Patrik Baab, der für sein Buch «Auf beiden Seiten der Front» ebenfalls Donezk besuchte. Auch solche Exkurse machen den Reisebericht zu einer kurzweiligen Lektüre und erweitern den Wissenshorizont.
Dabei lernt man zum Beispiel die Carboneria kennen, den bedeutendsten Geheimbund der italienischen Staaten des 19. Jahrhunderts. «Mit der Losung ‚Es ist gerecht, Italiens Könige zu töten‘ setzen sich die Carbonari, auf Deutsch Köhler, rigoros für eine Einigung Italiens und damit für politische Freiheit ein», schreibt Osrainik, der an dieser Stelle einer Assoziation folgt, wenn er die Flagge der Volksrepublik Donezk sieht: Eine Trikolore, die derjenigen Russlands ähnelt, mit dem Unterschied, dass einer der Streifen schwarz ist statt weiß – «und damit trägt sie dieselben Farben wie die Flagge der Carboneria».
Können solche Beschreibungen nicht mehr von der Geschichte überholt werden, fallen andere ihr zum Opfer. Das gilt zum Beispiel für die Schilderung der Gegebenheiten in Wuhledar, einem Ort im Südwesten von Donezk. Während Osrainiks Aufenthalt beherrschte ihn noch die ukrainische Armee, wie der Autor schreibt: Die Ukrainer haben das, was von der Kleinstadt übrig sei, zu einer Festung mit unterirdischen Tunneln ausgebaut. Mittlerweile hat sich die Situation geändert. Wuhledar befindet sich nicht mehr unter der Kontrolle der ukrainischen, sondern der russischen Armee.
Mit dem schnellen Wechsel der Verhältnisse kann manchmal auch ein rasender Reporter nicht Schritt halten. Nichtsdestotrotz ist Osrainik ein beachtliches Werk gelungen, in dem die Leser durch die Brille des Autors auf die Geschehnisse in «Donbass» blicken können. Es ist eine interessante Momentaufnahme, die den Erfahrungshorizont erweitert und neugierig macht.