Am 22. August konnte man in den Medien lesen: «Deutsche Wirtschaft schrumpft mehr als erwartet.» Demnach ging die deutsche Wirtschaftsleistung im 2. Quartal 2025 gegenüber dem 1. Quartal real, also inflationsbereinigt, um 0,3 Prozent zurück. Als Grund wurden fallende Investitionen, enttäuschender Konsum und Zölle genannt. In den nächsten Quartalen soll das Wachstum schwach bleiben oder gar die Schrumpfung weitergehen.
Stagnation seit sechs Jahren
Das offizielle reale, kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist heute niedriger als vor fünf Jahren. Es lag 2024 bei 62.800 US-Dollar, 2019 bei 62.900. Seit 2018 stagniert die reale Wirtschaftskraft pro Kopf in Deutschland.
Laut Statistischem Bundesamt waren die Reallöhne in Deutschland im ersten Quartal 2025 niedriger als im ersten Quartal 2019. Die arbeitenden Menschen verdienen heute nach offiziellen Angaben real, inflationsbereinigt also weniger als vor fünf Jahren.
Kurz: Seit etwa sechs bis sieben Jahren stagnieren die deutsche Wirtschaft und die Reallöhne. Und die Aussichten für die kommenden Monate sind schlecht. Was ist los mit der deutschen Wirtschaft, der deutschen Gesellschaft?
Die Schere geht auf
Das sind die offiziellen Durchschnittszahlen. Allerdings hat sich in den letzten Jahren, ja, seit Jahrzehnten, die Ungleichverteilung der Einkommen in Deutschland verstärkt. So war das Einkommen der obersten 20 Prozent der Menschen 2018 etwa 4,3-mal so hoch wie das der untersten 20 Prozent, 2022 war es 4,6-mal so hoch.
Die Zahl der in armen Haushalten lebenden Menschen betrug 2018 16,4 Prozent, 2021 waren es 17,8 Prozent. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung schreibt dazu im Dezember 2024:
«Der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist seit 2010 um mehr als drei Prozentpunkte auf 17,8 Prozent gestiegen und hat damit am aktuellen Rand einen Höchstwert erreicht. Der Anstieg vollzieht sich fast kontinuierlich über alle untersuchten Jahre hinweg. Der Anteil der Menschen in strenger Armut ist – relativ gesehen – noch stärker gestiegen als die Armutsquote (von 7,8 Prozent auf 11,3 Prozent).»
Wohnen
Außerdem leiden ärmere Haushalte stark unter steigenden Mietkosten. Überhaupt ist Wohnen heute offenbar teurer und weniger erschwinglich als vor einer Generation. Reuters spricht von der «stärksten Wohnungsmarktkrise seit einer Generation». Innerhalb der letzten 30 Jahre verdreifachte sich demnach der Anteil der Haushalte, die über 40 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben von 5 auf 14 Prozent.
Bereits im November 2022 lautete der Titel eines Berichtes im staatlichen MDR: «Eigene Immobilie für junge Menschen kaum bezahlbar: Hohe Immobilienpreise, Baukosten, steigende Bauzinsen machen gerade für junge Familien eigene vier Wände unerschwinglich. Fachleute sprechen schon von einem ‹Intergenerationenproblem›.» Was heißt Intergenerationenproblem? Dass es heute junge Familien schwerer haben also vor einer Generation, sich die eigenen vier Wände zu leisten. Nach offiziellen Angaben ist das BIP in Deutschland von 2000 bis heute real um etwa 28 Prozent gewachsen. Wo ist dieses ganz Wachstum hingegangen? Warum können sich junge Menschen trotz einer offiziellen Wohlstandmehrung um knapp ein Drittel heute schlechter eine Eigentumswohnung leisten als vor einer Generation?
Exkurs: Zunehmende Rüstungsausgaben senken allgemeinen Wohlstande und verteuern Wohneigentum
Am Rande sei bemerkt, dass sich durch die dramatisch steigenden Rüstungsausgaben der neuen Bundesregierung unter Kanzler Merz an den Kapitalmärkten die langfristigen Zinsen für Deutschland deutlich erhöht haben, das internationale Vertrauen in die Rückzahlfähigkeit Deutschlands hat abgenommen. Durch die gestiegenen Zinsen wird es für junge Familien seit Kanzler Merz noch schwieriger, sich die eigenen vier Wände zu leisten. Im Gegenzug sorgen steigende Rüstungsausgaben, das wissen alle Volkswirte, zu einer Senkung des Wohlstandes, weil dann weniger Ressourcen für die Zivilproduktion zur Verfügung stehen. Die jüngsten Militarisierungsbeschlüsse der Regierung Merz sorgen also dafür, dass der Wohlstand in den kommenden Jahren unter Druck kommt und Wohnen insbesondere für junge Familien teurer werden wird.
Wie geht es den Menschen «ganz unten»?
Dass es den Menschen am unteren Rand in Deutschland immer schlechter geht, zeigt auch ein Blick auf den Besuch der «Tafeln». Heute nutzen die Tafeln etwa 1,5 bis 2 Millionen Menschen, 2018 waren es etwa 1,5 Millionen, 2010 etwa eine Million. Die Armut in Deutschland nimmt also ganz unübersehbar zu. Auch ein Spaziergang durch diverse deutsche Innenstädte, insbesondere durch Bahnhofsviertel, zeigt unmissverständlich, wie Elend, Not, Obdachlosigkeit, Drogenopfer, Verwahrlosung, Gleichgültigkeit und Sorge vor Kriminalität, vor allem bei Frauen, ganz offen in den Straßen zunehmen. Solche Zustände waren vor 30 Jahren undenkbar.
Zwischenergebnis
Kurz: Anders als die offiziell ausgewiesenen Zahlen zeigen, dürfte es der unteren Bevölkerungshälfte, mindestens dem untersten Viertel, heute nicht genauso «gut» gehen wie vor sieben Jahren, sondern deutlich schlechter. Vermutlich auch schlechter als vor 25 Jahren. Und die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung dürften dafür sorgen, dass es auch nicht besser wird. Im Gegenteil.
Ein längerfristiger Blick
Was passiert in unserem Land? Was sind die längerfristigen Treiber dieser Entwicklungen? Betrachtet man die ökonomische Entwicklung über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich, dass die offiziellen BIP-Zahlen sehr wenig darüber aussagen, wie es den Menschen tatsächlich materiell, ökonomisch geht. Denn vermutlich geht es den meisten Menschen in unserem Land heute real schlechter als vor 25 Jahren. Aber das wird durch die offiziellen Regierungszahlen verschleiert. Das ist für die Regierenden durchaus hilfreich, da kann man leichter regieren, dann regt sich das Wahlvolk nicht so sehr auf.
Fragwürdige BIP-Messung
Eigentlich ist so ziemlich allen Volkswirten spätestens seit der Enquete-Kommission «Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität» von 2010 bis 2013 klar, dass die derzeitige Messung des BIP ungeeignet für die Ermittlung des tatsächlichen Wohlstandes ist. Laut dem Schlussbericht kann man der BIP-Messung keine «Proxyfunktion für die Wohlstandsmessung» zusprechen. Keine Proxyfunktion [1] für die Wohlstandsmessung. Was heißt das genau? Dass die BIP-Messung nicht einmal annähernd etwas über die Entwicklung des Wohlstandes aussagt. Das ist ein ziemlich vernichtendes Urteil über einen so weit verbreiteten Indikator, das 2013 von über 30 Experten gefällt wurde. Was macht man, wenn ein Indikator nicht das misst, was er soll – Wohlstand? Man behält ihn bei. Warum eigentlich?
Wie geht es den Menschen heute real im Vergleich zum Jahr 2000?
Wie oben erwähnt, stieg offiziell die Wirtschaftskraft Deutschlands, das BIP, seit dem Jahr 2000 real um 28 Prozent. Vermutlich gab es jedoch in den letzten vielleicht 25 Jahren trotz dieses offiziell ausgewiesenen realen Wirtschaftswachstums um knapp ein Drittel für den Großteil der Menschen in Deutschland keine Erhöhung des tatsächlichen materiellen Wohlstands. Im Wesentlichen gibt es dafür drei Gründe:
1) Wir werden immer kränker. Daher müssen immer mehr Menschen in Heilberufen arbeiten, um uns schmerzfrei und arbeitsfähig zu erhalten.
2) Es gibt immer mehr unproduktive Arbeit wie Bürokratie, Sicherheit, Überwachung, Werbung, geplanter Verschleiß usw. Je mehr wir Kraft und Zeit für nicht wertschaffende Tätigkeiten verwenden, desto ärmer werden wir.
3) Wegen der seit etwa 40 Jahren steigenden Ungleichverteilung in Deutschland kommt bei der unteren Hälfte der Bevölkerung vom Wirtschaftswachstum schon lange kaum mehr etwas an.
Ich möchte hier aus Platzgründen nur auf Punkt 2) (unproduktive Arbeit) eingehen. Das hängt stark mit Moral- und Ethikstandards zusammen.
Unproduktive Arbeit, Moral und Ethik
Wenn die Moral- und Ethikstandards in einem Land sinken, hat das gravierende schädliche ökonomische Auswirkungen. Schlüsselfaktoren für Produzieren sind Vertrauen und Verlässlichkeit. Unsere Wirtschaft ist in höchstem Maße arbeitsteilig organisiert. Die Produktionsketten sind oft sehr lang und erstrecken sich über viele Länder und Kontinente. Wenn ein Glied in der Produktionskette bricht, funktioniert die ganze Lieferkette nicht mehr, darunter die Lockdowns und die Sanktionen im Zuge des Ukraine-Krieges, die unseren Mittelstand stark geschwächt haben. Auch die Turbulenzen nach den jüngsten Zoll-Maßnahmen der USA haben dies aufgezeigt.
Meiner Einschätzung nach nehmen Vertrauen und Verlässlichkeit seit Jahrzehnten ab. Im Gegenzug steigen Kriminalität, Wirtschaftsdelikte, Unehrlichkeit und Übervorteilung im Wirtschaftsleben deutlich und werden absolut und prozentual vermutlich weiter ansteigen [2] [3].
Wie wirkt sich das konkret auf unser Leben aus? Ein Beispiel: Wenn wegen sinkender Moralstandards die Kriminalität zunimmt, brauchen wir immer mehr Polizisten, Security- und Wachpersonal, mehr Menschen, die Überwachungskameras oder andere Sicherheitsgegenstände wie Schlösser, Riegel, Sicherheitssoftware, Waffen, Schutz- und Abwehrgeräte oder Verteidigungsgegenstände herstellen, mehr Anwälte, Richter und Gefängnisse. Eine Zunahme der Leistungen dieser Menschen steigert zwar das BIP, nicht jedoch den realen Wohlstand. Im Gegenteil. Bei zunehmender Kriminalität und Überwachung fühlen sich die Menschen weniger wohl als zuvor, als es keine oder nur selten Verbrechen gab und das BIP niedriger war.
Laut Statista nimmt in Deutschland die Sorge vor Kriminalität in den letzten Jahren stark zu. 2022 gaben 28 Prozent aller Befragten an, dass sie Kriminalität zu den wichtigsten Problemen Deutschlands zählen, 2024 waren es 38 Prozent. Bei den Befragten ohne Migrationshintergrund stieg der Anteil gar von 29 auf 41 Prozent. Das zeigt, dass gerade sogenannte «Bio-Deutsche» immer größere Angst vor Kriminalität bekommen.
Ein Blick auf die Umsatzentwicklung der Security-Branche bestätigt das. Im Zuge der «Willkommenskultur» von Kanzlerin Merkel, also in den Jahren 2014 bis 2016, erhöhten sich die Umsätze der Wach- und Sicherheitsdienste dramatisch. Bei dem oben erwähnten Spaziergang durch verschiedene deutsche Innenstädte, besonders häufig in den Bahnhofsgegenden, zeigt sich auf offener Straße ein Bild von Verwahrlosung, Armut und Bedrohung, insbesondere für Frauen, wie es vor 30 Jahren noch undenkbar war. Da helfen auch die vielen, vielen neu eingestellten Security-Leute wenig.
Abgesehen von den gesellschaftlichen und seelischen Verheerungen, die solche beunruhigenden Entwicklungen mit sich bringen, erschwert das alle Arten von vernünftigem Wirtschaften. Je mehr sich also unsere Gesellschaft in eine solche Richtung entwickelt, desto stärker wird der Wohlstand und vor allem das Wohlbefinden zurückgehen. Das führt auch dazu, dass immer mehr Menschen aus Deutschland auswandern.
Was tut die Politik?
Die Politik sieht dem Geschehen seit Jahrzehnten zu, ohne etwas Nennenswertes dagegen zu unternehmen.
Zu glauben, dass man sinkende, im menschlichen Inneren liegende Ethikstandards durch äußere strenge Gesetze, Spielregeln und deren Durchsetzung mittels Druck von außen kompensieren kann, ist ein großer Irrtum [4]. Gerade die Durchsetzung von Regeln durch äußeren Druck, mit Drohung von Strafen usw., führt zu steigendem Kontroll-, Überwachungs- und Bürokratieaufwand, der keinen Wohlstand schafft, sondern nur immer mehr Ressourcen unproduktiv aufsaugt. Wenn wir so weitermachen, dürfte der von Oswald Spengler Anfang des 20. Jahrhunderts prophezeite Untergang des Abendlandes eintreten [5]. Wir befinden uns meiner Einschätzung nach seit Jahrzehnten in voller Wucht in dem von Spengler geschilderten Prozess.
Was könnte man tun?
Außer vielen, vielen konkreten politischen und sozialen Maßnahmen, die man sofort ergreifen könnte, möchte ich hier insbesondere auf folgende Hintergrundmaßnahmen hinweisen:
Das Allerwichtigste wäre langfristig meiner Einschätzung nach eine Reform unseres Bildungssystems, ein freies Geistesleben, insbesondere die Einführung eines freiheitlichen, toleranten und pluralen Hochschulsystems, beispielsweise durch Bildungsgutscheine. Das Gleiche gilt für unser Schulsystem. Auch dort müssten Bildungsgutscheine eingeführt werden oder eine 100-Prozent-Finanzierung aller freien Schulträger. Wir bräuchten ganz dringend freie, Non-Profit-Schulen und Hochschulen auf dem Boden des Grundgesetzes. Wissenschafts- und Kultusministerien können wir abschaffen. Schulen und Hochschulen sollen sich so frei wie möglich selbst verwalten. Ohne Einfluss des Staates, ohne Einfluss von Konzernen und Milliardären. Auf dem Boden des Grundgesetzes.
Auch aus unseren Medien, Zeitungen, Zeitschriften usw. muss aller Einfluss von Millionären oder Milliardären sowie des Staates verschwinden [6].
Wie wir heute denken, so sieht morgen die Welt aus. Nur durch eine grundlegende Reform unseres Bildungssystems und unserer Medienlandschaft können wir langfristig unsere Gesellschaft in eine menschlichere, vernünftige Bahn bringen. Wir brauchen ein freies Geistesleben.
Referenzen:
[1] Eine Proxyfunktion wird verwendet, wenn eine bestimmte ökonomische Größe (z. B. Nutzen, Produktivität, Wohlstand) nicht direkt messbar oder schwer zu beobachten ist. Stattdessen nimmt man eine gut messbare Variable, die eng mit dieser Größe zusammenhängt, als „Proxy“ (Ersatz).
[2] Kreiß, Christian und Siebenbrock, Heinz. Blenden, Wuchern, Lamentieren – Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt, Europaverlag, München und Berlin, 2019
[3] Kreiß, Christian. Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft, tredition Hamburg, 2019 (das Buch kann hier kostenlos komplett als pdf heruntergeladen werden)
[4] Kreiß, Christian und Siebenbrock, Heinz, Blenden, Wuchern, Lamentieren – Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt, Europaverlag, München und Berlin 2019
[5] Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, dtv, München 1986. Ersterscheinung 1918
[6] Kreiß, Christian. Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft, tredition Hamburg, 2019 (das Buch kann hier kostenlos komplett als pdf heruntergeladen werden)
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Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962, Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Seit 2002 Professor für BWL mit Schwerpunkt Investition, Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von acht Büchern: Das Ende des Wirtschaftswachstums – Die ökonomischen und sozialen Folgen mangelnder Ethik und Moral (2023); Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Homepage: www.menschengerechtewirtschaft.de.