«Die aktuelle Lage in Deutschland ist schlecht. Die Energiekrise hat die Wirtschaft schwer getroffen, die Reallöhne liegen 10 Prozent unter ihrem Vorkrisentrend, und die Bevölkerung ist zu Recht verunsichert. Eine Politik, die diese Fakten verdrängt, redet an der Lebensrealität der Menschen vorbei.»
Das schreibt der Mannheimer Ökonom Tom Krebs im Schlussteil seines Buches «Fehldiagnose – Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten». Erschienen ist es im Herbst 2024 im Westend Verlag, und nach dem vorzeitigen Aus der Ampelkoalition ist es nun auch zu einer Art wirtschaftspolitischem Resümee der Ampeljahre geworden.
«Warum ist die wirtschaftliche und politische Lage so schlecht?» und «Wie konnte es dazu kommen, dass eine hoffnungsfroh gestartete Fortschrittskoalition in einem großen politischen Fiasko endete?» – das sind die Fragen, die Krebs beantworten will. Wer jetzt allerdings erwartet hat, dass das Buch zu einer krachenden Abrechnung mit Scholz, Habeck und Co wird, der hat sich getäuscht.
Denn wie der Buchtitel bereits verrät, steht weniger die Ampelregierung selbst im Fokus, sondern deren wirtschaftspolitische Berater. Krebs interessiert sich nämlich vor allem für die ökonomischen Fehldiagnosen, die zu all den politischen Fehlentscheidungen geführt haben. Er schreibt:
«Dabei konzentriere ich mich auf die vielleicht größte Hürde: die naive Marktgläubigkeit der Politik und der wirtschaftspolitischen Beratung, die bereits zu zahlreichen Fehlentscheidungen geführt hat und derzeit eine effektive Wirtschaftspolitik verhindert.»
„Krise, welche Krise?!“
Eine fundamentale Fehldiagnose der Ampeljahre ist laut Krebs, dass die Bundesregierung nicht erkannt hat, dass der Energiepreisschock 2022 eine ausgewachsene Wirtschaftskrise nach sich zog. Das Tückische seinerzeit war, dass anders als sonst in einer Krise das Bruttoinlandsprodukt (BIP) kaum gesunken ist: „Krise, welche Krise?!“ hieß es daraufhin bei der Ampel.
Maßnahmen zur Überwindung der Krise brauchte es demnach also nicht mehr. Dabei haben die verantwortlichen Politiker und ihre Berater glatt übersehen, welch verheerende Folgen der Energiepreisschock gerade für die unteren und mittleren Einkommensgruppen hatte. Allein 2022 gingen die Reallöhne durchschnittlich um vier Prozent zurück.
«Dieser Einkommensverlust markiert den größten Rückgang des Lebensstandards für Beschäftigte in der deutschen Nachkriegsgeschichte», schreibt Krebs. Als weiteres Beispiel einer eklatanten Fehldiagnose führt er eine Studie von neun Wirtschaftsprofessoren an, darunter auch prominente Namen wie Rüdiger Bachmann und Moritz Schularick, die im März 2022, also unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, ein sofortiges Gasembargo forderten.
Neun Wirtschaftsprofessoren lagen falsch
Man müsse Deutschland «von der Droge russisches Erdgas möglichst schnell befreien». Dies werde nur moderate oder «handhabbare» Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft haben, prognostizierten sie. Die Studie hatte in den Medien hohe Wellen geschlagen.
Unter anderem wurde Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) damit in der ARD-Sendung Anne Will konfrontiert. Scholz gab aber den Forderungen nicht nach, bis September 2022 hatte Deutschland noch Gas aus Russland importiert. Dazu schreibt Krebs:
«Die Analyse der Energiekrise … zeigt deutlich, dass die neun Wirtschaftsprofessoren mit ihrer Studie falsch lagen. Selbst ohne ein sofortiges Embargo führte die Energiekrise zu hohen Produktionsverlusten und den höchsten Reallohnverlusten der deutschen Nachkriegsgeschichte.»
Das Beispiel der neun Ökonomen verdeutlicht aber auch, dass Krebs´ Buch nicht nur eine wirtschaftspolitische Analyse der Ampeljahre ist, sondern zugleich auch eine Streitschrift gegen das vorherrschende marktliberale Dogma. So unterstellt er beispielsweise diesen Professoren, der Wirtschaft «auf Basis von realitätsfremden Modellen» eine Art Schocktherapie verordnen zu wollen.
Und an anderer Stelle schreibt er, dass viele Ökonomen «ihren Marktfundamentalismus mit Wissenschaft verwechseln und Modellanalysen nicht angemessen einordnen können». Auffällig ist auch, dass Krebs ständig mit dem Sprachbild «marktliberale Märchenwelt» hantiert, wie ein roter Faden zieht es sich durch das ganze Buch. Krebs selbst zählt zu den progressiven Vertretern seines Fachs, er gilt als SPD- und gewerkschaftsnah, ist Mitglied der Mindestlohn-Kommission.
Disneyland und Deindustrialisierung
Für jeden wirtschaftspolitisch Interessierten äußerst lesenswert ist – egal welcher politischen Ausrichtung oder Denkschule er auch angehören mag – Kapitel 6 «Das Dogma vom effizienten Markt: Wird Deutschland zum Disneyland für ausländische Touristen?». Krebs analysiert darin den aktuellen Zustand der deutschen Wirtschaft und kommt dabei zu dem alarmierenden Befund, dass zwei Jahre nach Corona- und Energiekrise immer noch keine wirtschaftliche Erholung in Sicht ist. Er schreibt:
«Die anhaltende Produktionsschwäche der Industrie ist bedenklich, aber noch besorgniserregender sind die ausbleibenden Investitionen im industriellen Sektor. Die steigenden Energiekosten in Kombination mit einer verfehlten Industriepolitik haben dazu geführt, dass die notwendigen Investitionen in die industrielle Zukunft Deutschlands schwach bleiben. Doch genau dies zehrt an dem künftigen Kapitalstock und es kommt zur Deindustrialisierung.»
Für das Scheitern der Ampelregierung ist sicher ein ganzes Ursachenbündel verantwortlich, hervorzuheben sind aber vor allem all die internen Querelen wie auch die programmatischen Widersprüche, die letztlich zu einer «Politik des Zögerns und Zauderns» geführt haben. «Statt eines Investitionsboosters für die Wirtschaft gab es viele Streitereien innerhalb der Ampelregierung, die ein entschiedenes Handeln unmöglich machten», schreibt Krebs.
Tatsächlich erfolgte unter Kanzler Scholz weder eine öffentliche Investitionsoffensive noch eine effektive Strompreisbremse, keine eine signifikante Anhebung des Mindestlohns und kein Durchbruch bei der Kindergrundsicherung, dem zentralen sozialpolitischen Projekt der Ampelregierung. Zusätzlicher Gegenwind kam dann noch von der Europäischen Zentralbank, die mit ihrer restriktiven Geldpolitik «eher geschadet» als unterstützt habe, wie Krebs konstatiert.
Die FDP ist schuld
Innerhalb der Ampel schiebt Krebs vor allem der FDP mit Parteichef und Finanzminister Christian Lindner die Schuld für das Scheitern in die Schuhe, etwa beim Mindestlohn, bei der Kindergrundsicherung, aber auch bei der Finanzpolitik, die bewusst restriktiv ausgefallen sei, insbesondere nachdem das Bundesverfassungsgericht im November 2023 den Bundeshaushalt 2021 für nichtig erklärt hatte. Krebs schreibt:
«Der Hang der wirtschaftsliberalen FDP, eine Politik basierend auf der Fantasiewelt der Ökonomen zu betreiben, erklärt auch ihre Regierungsunfähigkeit. Sobald die Liberalen Verantwortung in einer Regierung übernehmen, werden sie von der Realität eingeholt.»
Mit SPD und Grünen indes geht er vergleichsweise milde um. Nur an einer Stelle lässt er – und das auch nur verklausuliert - durchblicken, dass er Robert Habeck (Grüne) für fachlich nur wenig kompetent hält:
«Eine Leitungsebene, die ihre Arbeitsebene fachlich nicht im Griff hat (Bundeswirtschaftsministerium), wird sehr schnell von den EU-Regeln ausgebremst und in Deutschland keine effektive Finanz- oder Wirtschaftspolitik betreiben können.»
Politik der kleinen Schritte und des kleinsten gemeinsamen Nenners
Alles in allem zieht der Mannheimer Ökonom folgendes Fazit der Ampeljahre:
«Die Ampelregierung hat es mit einer Politik der kleinen Schritte und des kleinsten gemeinsamen Nenners versucht. Diese Strategie hat vor der Doppelkrise zwischen 2010 und 2019 gut funktioniert, aber diese Zeiten sind vorbei.»
Und weiter schreibt er:
«Deutschland braucht eine neue Politik, die auf einem ökonomischen Realismus basiert und zwei Prinzipen in den Mittelpunkt rückt: ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit. Die ökonomische Vernunft erfordert einen Investitionsbooster für den Mittelstand, eine Strompreisbremse für alle sowie eine massive Steigerung der öffentlichen Investitionen in Infrastruktur und Bildung (Green New Deal). … Die soziale Gerechtigkeit erfordert faire Löhne und daher eine deutliche Ausweitung der Tarifbindung sowie einen Mindestlohn von 15 Euro (Fair New Deal).»
Doch trotz all der Ursachenforschung, all der Zustandsbeschreibungen und all der Lösungsvorschläge – eine Frage, wenn nicht sogar die entscheidende Frage, kann auch Krebs mit seinem Buch nicht beantworten, nämlich die, wo künftig die preisgünstige und sichere Energie für den Industriestandort Deutschland herkommen soll. Krebs´ Vorschlag von einer «Strompreisbremse für alle» kann jedenfalls noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Buchtipp:
Tom Krebs: «Fehldiagnose – Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten»
Westend Verlag 2024. 240 Seiten; ISBN 9783864894305; 25 Euro
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