Heiner Flassbeck ist einer der profiliertesten, aber auch streitbarsten deutschen Ökonomen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Im Rampenlicht stand der heute in der Nähe von Genf lebende Wirtschaftsexperte vor allem in den Jahren 1998 und 1999. Damals war er Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und damit auch Einflüsterer und Ideenlieferant von Finanzminister Oskar Lafontaine, den das britische Boulevardblatt The Sun seinerzeit als «Europe’s most dangerous man» bezeichnete.
Weitere Stationen in Flassbecks Berufsleben waren der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wie auch die UN-Handelsorganisation UNCTAD, wo er bis zuletzt als Chefvolkswirt fungierte. Nun hat Flassbeck mit «Grundlagen einer relevanten Ökonomik» ein Buch geschrieben, das er selbst als sein Lebenswerk bezeichnet, und das man – so viel kann man jetzt schon sagen – all jenen zur Lektüre anraten kann, die sich für Ökonomie abseits des ökonomischen Mainstream interessieren.
Allein schon rein äußerlich ist das Buch ein Koloss. Erschienen ist es beim Westend-Verlag im großformatigen Hardcover in einem Umfang von 450 Seiten. Inhaltlich indes geht es um die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen 100 Jahre, die Geschichte des ökonomischen Denkens sowie um die Themengebiete Lohn und Arbeit, Geld und Kapital, internationaler Handel und Währung sowie um die Finanz- und Kapitalmärkte – kurzum um die Ökonomie als Ganzes.
Wirtschaft ist ein «komplexes, dynamisches System»
Flassbeck selbst begreift die Wirtschaft als ein «komplexes, dynamisches System», das – angetrieben von den gesamtwirtschaftlichen Investitionen – ständig in Bewegung ist. Dementsprechend ist all das, was hilft diese Dynamik zu verstehen, «relevante Ökonomik», alles andere nicht.
Das Dilemma ist in Flassbecks Augen nun, dass die Neoklassik, also die herrschende ökonomische Denkschule, komplett darin versagt, eine adäquate Theorie eben jener wirtschaftlichen Dynamik zu formulieren. Flassbeck schreibt:
«Das mag für Nicht-Ökonomen erstaunlich klingen, aber es ist tatsächlich so, dass bis heute keine Theorie des wirtschaftlichen Wachstums existiert, die mehr bietet als die Beschreibung einer Kunstwelt, die wachsen könnte, wenn die von der Theorie unterstellten Bedingungen gegeben wären.»
Überraschend ist allerdings, dass Flassbeck die Lösung dieses Problems nun nicht bei dem britischen Starökonomen John Maynard Keynes sucht, als dessen Anhänger er ja gilt, sondern bei dem österreichischen Nationalökonomen Joseph Alois Schumpeter. «Schumpeter ist wichtiger als Keynes», schreibt Flassbeck sogar.
Seine Grundgedanken hat eben jener Schumpeter bereits 1911 in dem Werk «Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung» formuliert. Im Mittelpunkt steht hier der Pionierunternehmer, der nicht optimiert, sondern etwas Neues wagt und damit das System immer weiter antreibt. Allerdings hat sich dieser Ansatz nicht wirklich durchgesetzt. «Schumpeters eigener epochaler Versuch (…) ist bis auf einige Schlagworte wie ‹Pionierunternehmer› oder ‹Schöpferische Zerstörung› vollkommen zu Unrecht weitgehend untergegangen», schreibt Flassbeck.
Neoklassische Theorie versagt
Einen Großteil seines Buchs verwendet Flassbeck nun darauf, die in seinen Augen untaugliche neoklassische Theorie, die er mal als «Kunstlehre», mal als «Pseudowissenschaft» oder auch mal als «dysfunktional» bezeichnet, zu widerlegen und durch alternative Ansätze zu ersetzen. Ein Beispiel hierfür ist die neoklassische Arbeitsmarkttheorie, die unterstellt, dass niedrige Löhne grundsätzlich gut für die Beschäftigung sind. Dem widerspricht Flassbeck vehement.
«Lohnsenkung vernichtet Arbeitsplätze!», behauptet er. Sodann fordert er, die Nominallöhne an der Produktivitätsentwicklung und der Zielinflationsrate auszurichten. Für Flassbeck ist diese sogenannte goldene Lohnregel sogar das «entscheidende Instrument der Wirtschaftspolitik, um eine nachhaltige und angemessene Entwicklung der Wirtschaft zu erreichen».
Die goldene Lohnregel dient nämlich den Tarifparteien nicht nur als Richtschnur für die Lohnverhandlungen, sondern wirkt sich auch direkt und unmittelbar auf die Geldpolitik aus. Es lässt sich nämlich, wie Flassbeck weiter ausführt, zeigen, dass «in allen modernen Volkswirtschaften in den letzten sechzig bis siebzig Jahren die Inflationsrate eindeutig und stabil von dem Lohnstückkostenwachstum erklärt wird, also der Marge, um die der Zuwachs der gesamten Lohnkosten den der Arbeitsproduktivität übersteigt».
Die Konsequenzen, die sich aus diesem Satz ergeben, sind fundamental. Denn wenn es stimmt, dass die Inflationsrate vor allem über die Löhne bestimmt wird, dann ist «nicht die Geldpolitik, sondern die Lohnpolitik das entscheidende Instrument, um Preisstabilität zu gewährleisten».
Das Zusammenspiel von Geld- und Lohnpolitik
Das optimale Zusammenspiel zwischen Geld- und Lohnpolitik fasst Flassbeck nun wie folgt zusammen:
«Ist gewährleistet, dass die Löhne im Durchschnitt so steigen wie die durchschnittliche Produktivität zuzüglich dem politisch gesetzten Inflationsziel, ist nicht nur Preisstabilität gesichert, sondern auch eine angemessene und positive Entwicklung der Binnennachfrage. Zusätzliche positive Impulse für die Investitionstätigkeit schafft in einem solchen Umfeld eine Geldpolitik, die einen Zins setzt, der deutlich unterhalb des Produktivitätszuwachses liegt.»
Nach dieser Lesart ist die Notenbank nun nicht mehr in erster Linie dafür zuständig, die Inflation im Zaum zu halten, sondern dafür, die Investitionstätigkeit zu fördern und zu stabilisieren. Flassbeck stellt mit solchen Ansichten aber nicht nur das monetaristische Dogma, wonach die Geldmengenentwicklung für die Inflation verantwortlich ist, auf den Kopf.
Vielmehr erweist er sich auch noch als ein glühender Verfechter des herrschenden Papiergeldsystems. So schreibt er:
«Wer bereit ist, die Voraussetzungen für ein stabiles Geldsystem zu schaffen, kann dies mit Papiergeld wesentlich besser bewerkstelligen als mit dem emotional stark vorbelasteten Gold.»
Und weiter erklärt er:
«Nein, man braucht kein Gold, um ein vernünftiges Geld- und Währungssystem aufzubauen. Die Mythen um das glänzende Metall sind leicht zu entzaubern.»
Kontroverse und überraschende Thesen
Darüber hinaus wartet Flassbeck noch mit einer Reihe weiterer kontroverser wie auch überraschender Thesen auf. So etwa ist Klimaschutz für ihn nur über Strukturpolitik zu erreichen, nicht aber durch Nullwachstum. «Klimapolitik ist Strukturpolitik», schreibt er.
Außerdem ist die Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo, die in der Mainstream-Ökonomie die theoretische Basis für Freihandel bildet, für Flassbeck nichts Anderes als ein «wissenschaftliches Feigenblatt für Wirtschaftskolonialismus». Und auch die wahren Ursachen für die Große Depression Anfang der 1930er Jahre hält Flassbeck bis heute für unverstanden – und dies obwohl über deren Ursachen inzwischen «Bibliotheken gefüllt worden sind».
Wenig überraschend ist indes, was Flassbeck über die Entwicklung der deutschen Wirtschaft seit Ausbruch der Coronakrise Anfang 2020 schreibt. So habe sich Deutschland seither als vollkommen unfähig erwiesen, der eigenen Wirtschaft die Impulse zu vermitteln, die notwendig wären, wieder auf einen angemessenen Wachstumspfad zu kommen. «Der inzwischen aufgelaufene Rückstand gegenüber den USA, aber auch dem Rest Europas ist enorm», meint Flassbeck.
Buchtipp:
Heiner Flassbeck: «Grundlagen einer relevanten Ökonomik»
Westend Verlag 2024. 464 Seiten; ISBN 9783864894145; 68 Euro