Diesen Artikel als Podcast hören:
Es war ein langer Weg zum Krieg auf ukrainischem Boden und er wurde schier unaufhaltsam und zielgerichtet vorbereitet. Das zeigen die Politikwissenschaftlerin Petra Erler und der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen in ihrem kürzlich veröffentlichten Buch «Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung».
Bei dem Konflikt geht es um die Weltordnung, schreiben sie, darum, wer diese beherrscht oder ob sie von verschiedenen Kräften bestimmt wird. Sie beschreiben die Wegmarken zu dem heutigen Krieg des US-geführten Westens gegen Russland auf ukrainischem Boden. Dabei wird deutlich: Der Weg dahin begann Jahrzehnte zuvor, bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und er war angesichts der Interessen der USA daran folgerichtig.
Es mag lässlich sein, dass Erler und Verheugen wie viele andere Kritiker der westlichen Politik im Ukraine-Konflikt den Gessler-Hut «völkerrechtswidriger Krieg Russlands» grüßen. Sie hätten ihn «von Anfang an ausdrücklich verurteilt», weil sie jede völkerrechtswidrige Kriegshandlung ablehnen, schreiben sie.
Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sie die Schritte Russlands einschließlich des Einmarsches am 24. Februar 2022 in die Ukraine ähnlich differenziert analysiert hätten, wie sie es mit der westlichen Politik tun. Immerhin reagieren sie nicht wie viele hierzulande moralisch und in das Loblied auf die vermeintlichen westlichen Werte einstimmend, die in der Ukraine verteidigt würden.
Sie halten es dagegen für «dringend notwendig, dass die Politik die Gefühle zurückstellt und sich nicht blinden Leidenschaften ergibt». Die beiden Autoren beklagen, dass nicht «kühl hinterfragt» wurde, «wie es so weit hatte kommen können, woran es lag, dass alles Vertrauen in Scherben lag, und was zu tun wäre, um diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden».
Russische Interessen missachtet
In ihrem Buch beschreiben sie die Ursachen für den Weg in den Krieg, die zugrundliegenden Interessen und Motive vor allem auf westlicher Seite. Und sie weisen auf den «massiven politischen Drang» hin, «Russland nunmehr zu ‹ruinieren›, so als hätte Russland ein Tabu gebrochen, das sonst niemand brach … als hätte es alle sonstigen Kriege und Völkerrechtsbrüche nach 1990 nie gegeben, als wäre erst wegen Russland alles anders geworden».
Sie stellen mit Blick auf die Vorgeschichte klar:
«In einer zentralen Frage der internationalen Beziehungen, nämlich bezüglich der Sicherheit von Staaten, wurden legitime russische Interessen missachtet, über Jahrzehnte. Die militärische und politische Expansion verlief von West nach Ost und nicht von Ost nach West.»
Letztere Aussage ist vor dem Hintergrund interessant, dass Verheugen als EU-Kommissar von 1999 bis 2004 (und Erler als seine Kabinettschefin) für die EU-Osterweiterung zuständig war. Die verteidigt er bis heute, so im April 2024 in einem Interview.
Zugleich gehört das zu den Fehlstellen seitens der Autoren, die an dem Punkt keine Verbindung zu den heutigen Ereignissen um und in der Ukraine sehen. Sie kritisieren allerdings die EU für ihren ultimativen Kurs um das Assoziierungsabkommen ab Herbst 2013, nachdem Brüssel selbst 2011 eine Unterzeichnung verweigerte.
Die Autoren belegen ihre Aussagen mit zahlreichen Quellen, vor allem solchen aus dem englischen Sprachraum, die in Deutschland nur selten zur Kenntnis genommen werden. Sie widersprechen dabei auch Darstellungen der deutschen Politik und Medien zu den Ereignissen, so zu den Maidan Ereignissen 2013/14 und deren Folgen.
Der seltsame Herr Scholz
Eines der Beispiele ist, dass die Bundesregierung gegenüber Nachfragen von Florian Warweg von den NachDenkSeiten behauptete, Bundeskanzler Olaf Scholz sei nicht in die Istanbuler Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 involviert gewesen. Umso mehr hat er sich bis kurz vorher für solche Verhandlungen engagiert. Erler und Verheugen erinnern in ihrem Buch daran, dass Berlin und Paris kurz nach dem russischen Einmarsch sich für Verhandlungen einsetzten, um ein schnelles Ende der Kämpfe zu erreichen.
Sie verweisen dabei auf Pressemitteilungen der Bundesregierung im März 2022, denen zufolge Scholz «eine umfassende Gesprächsdiplomatie» betrieb, um eine schnelle Verhandlungslösung zu erreichen. Erler hat in ihrem Blog «Nachrichten einer Leuchtturmwärterin» einen Überblick über die Gesprächsaktivitäten gegeben.
Die beiden Autoren beschreiben ebenso den Kurswechsel der westlichen Politik hin zum Stellvertreterkrieg gegen Russland auf ukrainischem Boden, vorangetrieben von den USA. Schnell ging es nicht mehr um eine frühe diplomatische Lösung, sondern eben um das Ziel, Russland zu «ruinieren».
Statt einer schnellen Friedenslösung redeten westliche Politiker wie US-Präsident Joseph Biden ab Ende März 2022 vom «unvermeidbaren Kampf der Ukrainer», wie Erler und Verheugen feststellen. US-Kriegsminister Lloyd Austin habe am 26. April 2022 erklärt, Russland müsse militärisch so geschwächt werden, «dass es nicht die Art der Dinge tun kann, die es machte, als es die Ukraine überfiel».
Der Zweck der Nato
Beide entschieden sich bei der Frage, wann der Weg in den Krieg begann, für den Zeitpunkt, als sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 in Jalta und Potsdam die «großen Drei», Josef Stalin, Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt, trafen, um über die Zeit danach zu sprechen. Schon die Ergebnisse von Jalta hätten den Keim des Kalten Krieges in sich getragen, auch durch die Verschiebungen der Grenzen in Europa und dessen Aufteilung in Einflusssphären. Das sei einer militärischen Logik aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gefolgt:
«Die Sieger zeichneten die politischen Landkarten neu, nicht die Verlierer.»
Dass für Moskau verständlicherweise vor allem die eigenen Sicherheitsinteressen nach dem Sieg über den faschistischen Aggressor, der unendliches Leid über das Land gebracht hatte, entscheidend waren, wird nicht erwähnt. Die Autoren erinnern im Zusammenhang mit der ersten Nato-Osterweiterung 1999 und britischen Reaktionen darauf an das, was der erste Nato-Generalsekretär Lord Hastings Ismay zum Zweck des westlichen Bündnisses erklärte:
«The only purpose was to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down …» («Der einzige Zweck war, die Russen draußen zu halten, die Vereinigten Staaten drin zu halten und Deutschland klein zu halten ...»).
Das ist sogar auf der Nato-Webseite zu lesen, auch weil es angeblich nicht mehr relevant sei. Erler und Verheugen betonen, dass dieser Zweck der Nato anscheinend aus britischer Sicht auch 50 Jahre nach deren Gründung gültig war. Er scheint bis heute nie aufgegeben worden zu sein.
Dazu gehören auch die Nato-Osterweiterung und das Angebot an die Ukraine und Georgien 2008, Nato-Mitglieder zu werden. Selbst die Angebote des westlichen Bündnisses an Russland vor allem in den 1990er und frühen 2000er Jahren, zusammenzuarbeiten – bis hin zum Nato-Russland-Rat –, sind nie auf eine gleichberechtigte Partnerschaft ausgerichtet gewesen, wie die Autoren mit Quellen und Zitaten belegen.
Sie zeigen, «dass die deutsche oder westliche Politik in elementaren Sicherheitsfragen zu keinem Zeitpunkt freundlich oder gar naiv gegenüber Russland auftrat. Sie genoss ihren Sieg und erlag so einem fatalen historischen Irrtum. Sie glaubte, das Fell des Bären verteilen zu können, obwohl der noch nicht erlegt war».
Das Versagen Berlins
Beide gehen auch deutlich mit der deutschen Politik ins Gericht, die aus ihrer Sicht einen gehörigen Anteil an dem Weg in den Krieg hat, weil sie den Entspannungskurs der einstigen Ost-Politik aufgab. Berlin habe gemeinsam mit Paris die Möglichkeit gehabt, den russischen Einmarsch in die Ukraine zu verhindern, schreiben sie gegen Ende ihres faktenreichen Buches. Die Verhandlungen zwischen beiden Seiten mit internationaler Vermittlung hätten genutzt werden müssen, um die Kämpfe frühzeitig zu beenden.
«Das hätte den Lehren aus der deutschen Geschichte entsprochen, unserem europäischen Integrationsmodell und auch unseren Zukunftsinteressen.»
Zugleich verweisen sie auf die US-Interessen, eine wirkliche kontinentale Zusammenarbeit in Europa, einschließlich Russlands, zu verhindern. Es sei bekannt gewesen, «wie die USA ticken», und dennoch habe sich die EU «widerstandslos» deren Interessen untergeordnet, kritisieren sie.
In der Folge laufe sie Gefahr, in den Abwärtsstrudel der USA mit hingezogen zu werden: «Denn die USA sind keine Demokratie im westeuropäischen Verständnis», stellen Erler und Verheugen fest und verweisen auf Aussagen des Sozialwissenschaftlers Peter Turchin. Der meint, dass die USA eine «Plutokratie» sind, in der die Reichen herrschen und ihre Interessen durchsetzen.
«Wenn man den USA dennoch folgt, … verwundet man sich selbst und wird zur tragischen Figur», warnen die Autoren. Aus ihrer Sicht sollte Deutschland seine Macht in der EU nutzen, um Frieden zu erreichen und zu sichern.
Sie kritisieren die «abhängige und kurzsichtige Außenpolitik» in Berlin, die es in diesem Ausmaß zuvor nie gegeben habe. Sie attestieren den heute Regierenden aus SPD, Grünen und FDP «Realitätsverlust und Mangel an politischer Weitsicht». Und: Der deutschen Politik sei der Sinn für Realitäten im Umgang mit Russland abhandengekommen.
Forderung nach Friedenspolitik
Dazu zählt für die Autoren auch die wiederholte Behauptung, eine militärische Niederlage der Ukraine berge die Gefahr in sich, dass Russland die Nato angreife und sich darauf vorbereite. Dagegen sehe die westliche Führungsmacht USA den Stellvertreterkrieg gegen Russland nur als «Vorspiel» und China als den eigentlichen Hauptgegner:
«Immer geht es aus Sicht der USA um ihre globale Dominanz. Dem wird alles untergeordnet: das Schicksal Deutschlands und Europas, einschließlich der Ukraine, einschließlich Russland.»
Die beiden politikerfahrenen Autoren warnen angesichts dessen vor einem direkten Krieg des Westens gegen Russland im Fall einer ukrainischen Niederlage und befürchten, dass darauf alles hinauslaufe. Dagegen fordern sie von der deutschen Politik, dass sie in der EU und international alles tut, «um den aktuellen Krieg in der Ukraine umgehend zu beenden und sich dann um Versöhnung in Europa zu bemühen. Damit Verständigung entsteht und Frieden».
Deutschlands Geschichte lehre, dass «Gegnerschaft oder gar Feindschaft mit irgendeinem Land der Welt» nichts bringe. Stattdessen solle «ein ganz praktisches und stetes Bemühen um Frieden das deutsche Markenzeichen in der Welt» sein. Das stehe im Grundgesetz, in dem nichts von einer Vasallenrolle Deutschlands festgeschrieben sei, auch nicht, dass Russland der «ewige Feind» sei.
Erler und Verheugen haben ein wichtiges Buch für alle vorgelegt, die wissen und verstehen wollen, wie es zu dem Krieg auf ukrainischem Boden kam. Es gibt einige Ansichten der Autoren, über die zu diskutieren wäre, aber auch das ist gut. Und vor allem ist es erfreulich, dass sie sich nicht einreihen in die Flut an Publikationen zum Thema, die dieses einseitig aus einer proukrainischen und antirussischen Perspektive betrachten.
Zugleich ist es zum Glück nicht das einzige Buch, das die Ereignisse und die Rolle der westlichen Politik kritisch beleuchtet und analysiert. Seine Analyse aufgrund der politischen Erfahrungen der beiden Autoren und der von ihnen verwendeten zahlreichen Quellen, die im deutschen Mainstream übersehen werden, machen es wichtig für die Debatte und die Suche nach dem Weg aus diesem Krieg.
korrigiert (bezüglich des Zitates des ersten Nato-Generalsekretärs Lord Ismay): 16.9.2024
Buchtipp:
Günter Verheugen/Petra Erler: «Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung»
Heyne Verlag 2024. 336 Seiten; ISBN 978-3-453-21883-3; 24 Euro
Kommentare