In der Schweiz wird auf den Straßen immer mehr gescannt – allerdings nicht mit dem Ziel, Verkehrsverstöße zu ahnden, sondern der Kriminalitätsbekämpfung wegen. Automatisierte Fahrzeugfahndung, kurz AFV, ist eine Technologie, bei der Kameras die Nummernschilder von Fahrzeugen erfassen und diese Daten in Echtzeit mit Fahndungslisten abgleichen. Seit einiger Zeit werden solche Kameras bereits in vielen Teilen der Schweiz eingesetzt. Rund 450 dieser Überwachungskameras sind landesweit in Betrieb, und jedes Fahrzeug, das vorbeifährt, wird automatisch registriert. Im Falle eines Treffers – also wenn das Kennzeichen mit einer Fahndungsliste übereinstimmt – wird ein Bild des Fahrzeugs samt Fahrer aufgenommen und an die Polizeizentrale weitergeleitet.
Doch nun hat das Bundesgericht, das oberste Gericht der Schweiz, der automatisierten Fahrzeugfahndung im Schweizer Kanton Luzern einen deutlichen Dämpfer versetzt, wie hiesige Medien meldeten. Es hob die dortige Regelung zur Speicherung und Auswertung von Fahrzeugdaten auf, die als zu weitreichend und unverhältnismäßig im Hinblick auf die Grundrechte der Bevölkerung erachtet wurde. Die Entscheidung ist ein Meilenstein in einem landesweiten Streit um die Balance zwischen Sicherheitsinteressen und dem Schutz der Privatsphäre.
Das Luzerner Polizeigesetz sah vor, dass alle erfassten Fahrzeugdaten 100 Tage lang gespeichert werden sollten – unabhängig davon, ob ein Fahrzeug verdächtig war oder nicht. Diese Daten hätten zur Verfolgung schwerer Straftaten und zur Fahndung nach vermissten Personen genutzt werden können. Das Bundesgericht hielt jedoch fest, dass die Erhebung und Speicherung dieser Daten in diesem Umfang einen unzulässigen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung darstelle.
«Die sehr weitreichende Datenerfassung, -auswertung und -aufbewahrung stellt einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff dar», so das Gericht in seiner Begründung.
Ein weiterer zentraler Punkt des Urteils war, dass die Kantone keine gesetzgeberische Kompetenz für solche Überwachungsmaßnahmen besitzen. Die Erhebung von Fahrzeugdaten zur Strafverfolgung müsse vielmehr in der eidgenössischen Strafprozessordnung geregelt werden, nicht auf kantonaler Ebene. Besonders scharf kritisierten die Richter die Idee eines polizeilichen Informationssystem-Verbundes zwischen Bund und Kantonen, der eine lückenlose Vernetzung aller erfassten Fahrzeugdaten ermöglicht hätte. Eine solche Plattform, so das Bundesgericht, wäre ein «weitgehender Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung» und verstoße gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
Das Urteil aus Lausanne hat weitreichende Folgen für die Praxis der automatisierten Fahrzeugfahndung in der Schweiz, neben dem Kanton Luzern besonders für den Kanton Bern, wo seit August dieses Jahres ein ähnliches System in Kraft ist. Auch hier sind die Daten, die durch Kameras erfasst werden, auf 60 Tage speicherbar, und es gibt eine Beschwerde gegen diese Regelung beim Bundesgericht.
Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) betont, dass der Kanton Bern die Entscheidung aus Lausanne genau prüfen werde. Er verweist jedoch auf Unterschiede zwischen den Luzerner und den Berner Regelungen: In Bern sollen Fahrzeugdaten nur dann erfasst werden, wenn ein Treffer in den Fahndungslisten vorliegt. Zudem beziehe sich das Berner Gesetz stärker auf die Prävention von Verbrechen, was nach Ansicht Müllers innerhalb der kantonalen Kompetenz liege.
Trotz dieser Unterschiede könnte das Urteil des Bundesgerichts auch in Bern und anderen Kantonen eine Signalwirkung haben. Rahel Estermann, Luzerner Kantonsrätin der Grünen und eine der Hauptkritikerinnen der automatisierten Fahrzeugfahndung, sieht in der Entscheidung des höchsten Gerichts einen klaren Aufruf zum «Marschhalt».
«Es braucht nun in allen Kantonen einen Stopp der automatisierten Fahrzeugfahndung», fordert Estermann.
Sie hatte bereits in der Vergangenheit gegen die weitreichenden Bestimmungen im Luzerner Polizeigesetz geklagt und das Gerichtsurteil als ermutigend für alle Gegner der Massenüberwachung empfunden. Im Kanton Zürich sind ebenfalls entsprechende Bestrebungen im Gange. Die Zürcher Regierung hatte kürzlich vorgeschlagen, die automatisierte Fahrzeugfahndung in das kantonale Polizeigesetz aufzunehmen. Doch auch hier gibt es Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den Datenschutzbestimmungen. Die kantonale Datenschützerin Dominika Blonski hatte bereits im Frühjahr 2024 vor den «schweren und unverhältnismäßigen Eingriffen in die Grundrechte der Bevölkerung» gewarnt, die mit der flächendeckenden Überwachung durch Kameras verbunden sein könnten. Die Regierung reagierte auf diese Kritik und kündigte an, den Entwurf des Gesetzes zu überarbeiten.
In der Zürcher Sicherheitsdirektion zeigt man sich ebenfalls zurückhaltend. Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) erklärte, dass das Urteil des Bundesgerichts aus Lausanne gründlich analysiert werde, um die Auswirkungen auf die geplanten Regelungen im Kanton Zürich zu verstehen.
«Wir nehmen die Entscheidung sehr ernst und werden sie in unsere weiteren Planungen einfließen lassen», so Fehr.
Das Urteil des Bundesgerichts stellt einen klaren Sieg für den Datenschutz und die Rechte der Bürger dar. Kantonale Regelungen wie diejenige in Luzern, die jetzt vom Bundesgericht kassiert wurde, müssen an zwei Fragen gemessen werden: Ist der Grundrechtseingriff verhältnismäßig? Und liegt die Regelung innerhalb der kantonalen Kompetenz? Je nachdem wie das Bundesgericht in Zukunft bei ähnlichen Beschwerden, zum Beispiel betreffend die Berner Regelung, entscheidet, müssen weitere solchen Vorgehensweisen gestoppt oder es muss eine eidgenössische Regelung getroffen werden.