Die Diskussion über die Neutralität der Schweiz hat durch die Ereignisse rund um den Ukraine-Konflikt neue Dimensionen erreicht. Nachdem Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, entschied der Bundesrat, die Schweizer Landesregierung, die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland zu übernehmen. Kritiker haben danach eine Initiative zur Wahrung der Schweizer Neutralität lanciert. Nachdem nun der Bundesrat die Initiative zur Ablehnung empfahl, wie die Medien diese Woche meldeten, kann das Parlament eine Empfehlung abgeben. Dann findet im nächsten oder übernächsten Jahr die Volksabstimmung statt. Stimmen Volk und Stände zu, erlangt der Initiativtext Gesetzeskraft – auch gegen den Willen von Bundesrat und Parlament.
Soweit die Fakten. Die Medienberichterstattung der letzten Tage ist aber geeignet, ein schiefes Bild von der Initiative zu vermitteln.
Das beginnt bei der Trägerschaft: Die Medien suggerieren, es handle sich hier um einen Vorstoß, der ausschließlich aus den Kreisen der rechtsgerichteten Schweizerischen Volkspartei (SVP) kommt, der größten Partei der Schweiz. Das stimmt aber nicht. Wohl hat der SVP-nahe Verein Pro Schweiz die Unterschriftensammlung maßgeblich geprägt, wohl steht der SVP-Doyen Christoph Blocher dem Anliegen wohlwollend gegenüber, aber das Initiativkomitee ist sehr breit aufgestellt. Ihm gehört zum Beispiel auch der Historiker und Gymnasiallehrer René Roca an, der kürzlich sogar als «Vater» der Initiative bezeichnet wurde.
Was will die Initiative? Um das zu verstehen, muss etwas ausgeholt werden. Rechtlich ruht die Schweizer Neutralität auf drei Pfeilern. Erstens auf dem Völkerrecht, wonach neutrale Staaten gehalten sind, keine Militärbündnisse einzugehen und Kriegsführende nicht einseitig militärisch zu unterstützen. Die völkerrechtlichen Regeln sind also minimal.
Zweitens ruht die Schweizer Neutralität auf Friedensverträgen. Letztmals hat der Versailler Vertrag (1919) die Neutralitätserklärung von 1815 bestätigt.
Und drittens auf Bestimmungen der Bundesverfassung. Dort ist sie nicht präzise definiert. Die Neutralitätsinitiative sieht nun genau das vor. Zwei zentrale Änderungen wären geplant:
Erstens würde die Schweiz nur noch im Fall eines direkten militärischen Angriffs auf ihr eigenes Territorium mit Militärbündnissen zusammenarbeiten dürfen. Das ist an sich eine Selbstverständlichkeit und geht aus den völkerrechtlichen Verpflichtungen hervor. Aber mit der gegenwärtigen Politik der Annäherung an die NATO wagt sich der Bundesrat immer mehr in diese Richtung vor, ohne aber das Neutralitätsrecht klar zu verletzen. Die Initiative würde ihm hier klare Schranken setzen.
Zweitens sollte sie keine Zwangsmaßnahmen und Sanktionen gegen kriegsführende Staaten mehr unterstützen – es sei denn, es handelt sich um Maßnahmen der Vereinten Nationen oder Maßnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen anderer Staaten. Das bedeutet: wenn wie im Falle Bosniens der UNO-Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen beschließt, dann könnte, ja müsste sich die Schweiz weiterhin daran beteiligen und zum Beispiel NATO-Flugzeugen Überflugrechte gewähren. Als die NATO Serbien bombardierte, hat der UNO-Sicherheitsrat die Bewilligung dafür verweigert. Die Schweiz hat deshalb damals keine Überflugrechte gewährt.
In der Presse wird dieser Punkt so dargestellt, als hätte der Bundesrat dann keinen Entscheidungsspielraum mehr. Bis zu einem gewissen Grad ist natürlich gerade das die Absicht und würde dem Bundesrat den Rücken stärken, wenn er ausländischem Druck widerstehen muss. Allerdings verschweigt die Presse, dass Maßnahmen zur Verhinderung der Umgehung von Sanktionen anderer Staaten immer noch möglich sind. Und gerade hier besteht durchaus ein gewisser Entscheidungsspielraum. Es geht hier um den sogenannten «courant normal». Wäre die Initiative schon in Kraft gewesen, dann hätte das bedeutet, dass die Swiss weiterhin nach Russland fliegen, aber die Frequenzen und die Sitzzahl nicht erhöhen darf. Das würde verhindern, dass Schweizer Luftfahrtunternehmen von den Sanktionen anderer profitieren. Ähnlich würde mit anderen Sanktionen verfahren. Unklar ist auch, ob die Initiative rückwirkenden Charakter hat, das heißt: ob bestehende Sanktionen aufgehoben werden müssen und per wann.
Und drittens nutzt die Schweiz ihre Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.
Für den Bundesrat, vertreten durch Außenminister Ignazio Cassis (FDP Tessin), stellt diese Initiative jedoch eine Gefahr für die langfristigen Interessen der Schweiz dar. In einer Pressekonferenz erklärte Cassis am Mittwoch, dass der Bundesrat dem Parlament empfohlen habe, die Initiative ohne Gegenvorschlag abzulehnen. Die Neutralität sei zwar ein zentraler Bestandteil der Schweizer Identität, aber sie müsse flexibel interpretiert werden, um den wechselnden geopolitischen Realitäten gerecht zu werden.
Cassis verwies auf den Wert der Neutralität als strategisches Instrument, das die Schweiz bislang genutzt habe, um ihre Interessen auf internationaler Ebene zu wahren. Der Bundesrat lehnt eine starre Definition ab, da diese den Handlungsspielraum der Schweiz erheblich einschränken würde. Stattdessen favorisierte er die Idee einer «kooperativen Neutralität», die in der Vergangenheit schon einmal zur Diskussion stand, aber vom Bundesrat nicht weiterverfolgt wurde. Die Schweiz solle in der Lage bleiben, auch ohne ein militärisches Bündnis in Krisenzeiten mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten, insbesondere im Hinblick auf internationale Sanktionen.
Cassis meinte, dass die Annahme der Initiative für die Schweiz schädlich wäre. Ein Verzicht auf Sanktionen könnte den internationalen Ruf des Landes beschädigen und sowohl sicherheits- als auch außenpolitische Nachteile mit sich bringen. Zudem könnte dies die wirtschaftlichen Beziehungen zu wichtigen Partnern belasten, was die Schweiz isolieren und den Handlungsspielraum auf der internationalen Bühne erheblich einschränken würde.
Man kann aber auch gegenteilig argumentieren: dass nämlich die Initiative der Schweiz den Handlungsspielraum zurückgibt, den sie durch die starke Anlehnung an die NATO verloren hat. Die Schweiz könnte auf die Durchsetzung des Völkerrechts pochen, aber auch autonom Maßnahmen ergreifen. Ausgeschlossen ist nur, dass sich die Schweiz an Zwangsmaßnahmen anderer beteiligt, die nicht durch die UNO bewilligt sind.
Wichtig ist: es gibt nicht nur das Neutralitätsrecht, das die Schweiz bisher eingehalten hat, sondern auch die Neutralitätspolitik, die darin besteht, glaubwürdig zu machen, dass ein neutrales Land tatsächlich neutral ist. Wer den dritten Punkt ernst nimmt, dass nämlich die Schweiz als Vermittlerin zur Verfügung steht, muss einen gewissen Verzicht auf staatliche Parteinahme in Kauf nehmen. Das bedeutet aber keine «Gesinnungsneutralität». Im Gegenteil: Gerade der Verzicht auf allzu direkte staatliche Parteinahme kann die öffentliche Debatte und den Widerstreit der Meinungen beleben.
Ein historisches Beispiel kann zeigen, dass eine allzu explizite Parteinahme einem neutralen Land zwar kurzfristig Vorteile, langfristig aber Probleme bereiten kann. Auch wenn historische Beispiele nie 1:1 auf die Gegenwart übertragen werden können, ist es interessant. Der damalige Außenminister, Bundesrat Giuseppe Motta, nota bene ebenfalls ein Tessiner, führte nach dem Ersten Weltkrieg die Schweiz in den Völkerbund. Sie musste bei militärischen Sanktionen nicht mitmachen, bei wirtschaftlichen aber schon. Die Schweiz genoss in diesen Jahren denn auch außenpolitisches Wohlwollen.
Motta weigerte sich aber, diplomatische Beziehungen zur seit 1917 bolschewistischen Sowjetunion aufzunehmen. Auch sein Nachfolger, der Waadtländer FDP-Vertreter Marcel Pilet-Golaz hielt nach dem Tode Mottas 1940 zuerst an dieser Linie fest. Als es sich dann abzeichnete, dass die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zu den Siegermächten gehören würde, gelang es nur unter großen Schwierigkeiten, korrekte Beziehungen zur Sowjetunion aufzubauen. Das gelang erst nach dem Rücktritt von Pilet-Golaz (1944) seinem Nachfolger Max Petitpierre (FDP Neuenburg).
Dieser Artikel ist Teil einer losen Serie von Beiträgen zur Schweizer Neutralität. Der letzte Artikel ist hier zu finden (weitere Links im Beitrag).
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